Und eine Chance. Denn Handke wollte seine Besessenheit teilen und mitteilen und übersetzte gleich drei Bücher von Emmanuel Bove ins Deutsche. Inzwischen liegt auch bei uns eine schöne Anzahl seiner Bücher vor, verstreut zwar auf ein halbes Dutzend Verlage, aber immerhin. Ein Geheimtip ist der jung gestorbene Franzose längst nicht mehr, für einen harten Kern von "Boviens" gar ein Kultautor. Und natürlich hat die Literaturwissenschaft diesen unverhofft aufgetauchten Rohdiamanten zwischen ihre Schleifsteine gepresst, allerhand Doktorarbeiten produziert und dabei auch die Rezeptionsgeschichte nicht vergessen. Übersehen worden sei Bove, so der Tenor der Forschung, weil er sich in kein ideologisches Lager eingliedern ließ, weil er in einer politisierten Zeit zuwenig politisch, weil er zu eigenbrötlerisch und vielleicht auch zu deprimierend gewesen sei. Unterdessen warten immer neue Schätze aus dem Nachlass darauf, gehoben und übertragen zu werden. Eines seiner bedeutendsten Werke, der Roman "La Coalition" von 1927, eben derjenige, für den er den Prix Figuière erhalten hatte, ist jetzt unter dem Titel "Die Verbündeten" auf deutsch erschienen. Im Text heisst es:
"Als Madame Louise Aftalion in Begleitung ihres Sohnes Nicolas in Paris ankam, ließ sie sich unverzüglich zu ihrer Schwester Thérèse fahren, die sie seit mehr als fünfzehn Jahren aus den Augen verloren hatte."
So, als wär's ein Stück von Balzac, beginnt der Roman und schlägt schon im nächsten Satz das Thema an, das ihn auf jeder Seite beherrschen wird: das Geld.
"Gemeinsam mit ihrem Mann bewohnte die Schwester in unmittelbarer Nähe der Ecole militaire eine Sechszimmerwohnung in der fünften Etage eines alten Mietshauses, das der Eigentümer, sobald Wohnungen frei wurden, aus Freude am Renovieren ebenso wie aus Gewinnsucht mit modernem Komfort ausstatten ließ, um auf diese Weise die Mieten verdoppeln zu können."
Die Mieter, Madame Aftalions Verwandte, sind nicht weniger gewinnsüchtig als ihr Hauswirt. Jedenfalls wollen sie von dem, was sie haben, nichts abgeben, auch nicht innerhalb der Familie. Louise Aftalion hatte gerade ihren Mann, einen Glücksritter ohne Glück, verloren und vor, bei Schwester und Schwager eine Weile unterzukommen. Auch hoffte sie auf eine Anschubhilfe für ihren Sohn, etwa die Vermittlung einer Stelle. Aber daraus wird nichts; die geizigen Verwandten dulden ihre Gäste eine zeitlang auf kalte, unhöfliche Weise und ekeln sie dann regelrecht aus ihrer Wohnung heraus. Was nun? Das einzige Kapital, über das Mutter und Sohn verfügen, sind 20.000 Francs. Aber um Kapital im kapitalistischen Sinne handelt es sich gerade nicht, also um Geld, das arbeiten soll, das man investiert, um es zu vermehren. Für Madame Aftalion und ihren Sohn ist Geld nur da, um ausgegeben zu werden. Was sie auch tun - weshalb sie bald nicht mehr viel davon hat. Allerdings beeinflusst das ihr Verhältnis zum Geld in keiner Weise:
"Obschon von den aus Nizza mitgebrachten zwanzigtausend Francs nicht mehr viel übrig war, schafften sie es nicht, sich einzuschränken. Sie mochten noch so sehr schwören, daß sie am nächsten Tag keinen Centime mehr sinnlos ausgeben würden - es übermannte sie immer wieder. Wenigstens kam es vor, daß sie einen ganzen Tag lang keine Zeitung kauften, keinen Wein tranken, kein Café betraten und keinen Bus nahmen. Am Abend rechneten sie dann aus, was sie auf diese Weise gespart hatten. Doch als hätte dieses Zügelung ihre Wünsche verzehnfacht, gingen sie schon am nächsten Tag, gepackt von einer Lust, das Geld aus dem Fenster zu werden, zum Mittagessen in ein vornehmes Restaurant, später dann in ein Variété oder ein Kino an den Boulevards. Nach der Vorstellung, wenn sie sich nach mehreren sorglosen Stunden wieder auf der Straße wiederfanden, erschien ihnen ihr Elend so groß, daß sie sich nicht trauten, in ihre triste Wohnung in der Rue Eugène-Manuel zurückzukehren, und sich mit dem tröstenden Satz: 'Das wird unsere Lage auch nicht verschlimmern' an einen Tisch des von ihnen geschätzten Café de la Paix setzten, wonach sie dann ein lautes und fröhliches Restaurant aufsuchten, um dort zu Abend zu essen. Den weiteren Abend verbrachten sie in irgendeinem Theater, bis sie um Mitternacht schließlich erschöpft, müde und von sich selbst angewidert zu Hause ankamen. Da beschlossen sie allen Ernstes, ihr Leben zu ändern. Wie um sich zu strafen, rührten sie am Morgen nicht die Butter an, die sich, vor Fliegen geschützt, im Schrank befand. Doch Madame Aftalion wurde bald wieder schwach. Dem Bedürfnis, Waren zu kaufen, war sie wehrlos ausgeliefert, es packte sie von neuem. Wenn sie ausging, blieb sie vor allen Geschäften stehen, trat ein, um sich nach den Preisen zu erkundigen, nahm ein Taxi, um wenige hundert Meter zu fahren. Sie war dann eine andere Frau. Sie vergaß ihre Lage, dachte an nichts mehr. Um das Kaufvergnügen zu verlängern, verweilte sie, bevor sie ihre Wahl traf, bei irgendeinem billigen Firlefanz. Nichts war ihr angenehmer, als von Verkäuferinnen umringt zu sein. Gleich einem Spieler hatte sie sich in diesen Augenblicken nicht mehr unter Kontrolle."
Emmanuel Bove liefert hier, in den späten Zwanziger Jahren, eine Analyse des pathologischen Konsumzwangs, einer massenhaft verbreiteten Zivilisationskrankheiten unserer Tage. Er beschreibt präzis und ohne jegliche Beschönigung den Suchtcharakter des Geldausgebens - genauso wie die berauschende, ja persönlichkeitsverändernde Macht, die darin liegt: Sie war dann eine andere Frau.
Aber nicht nur weil sie es ausgibt, kann Madame Aftalion nicht mit Geld umgehen. Sie hat gar nicht begriffen, wie Geld funktioniert. Für sie ist es ein Fetisch, ein Zaubermittel, das sie vor dem Kontakt mit der erbärmlichen Realität schützt. Dass man Geld auch verdienen kann, ist ihr eine völlig fremde Vorstellung. Die einzige Erwerbsquelle, die sie kennt, die zu praktizieren sie willens und imstande ist, sind Bittgänge zu reichen Verwandten oder Freunden. Nicolas, ihrem Sohn, geht es da keinen Deut besser. Einmal, ein einziges Mal, arbeitet er in einer Fabrik im Vorort Billancourt, gibt aber schon nach zwei Wochen wieder auf. Vordergründig, weil er dieser Arbeit körperlich nicht gewachsen ist; aber um eine andere bemüht er sich auch nicht. Lieber pumpt er entfernte Verwandte, Hotelbesitzer und Kneipenbekanntschaften an. Zwar hasst er diese Bittgänge und empfindet das Demütigende und Peinliche des Vorgangs anfangs sehr intensiv, ist es doch unweigerlich mit dem Versprechen verbunden, die geliehene Summe bald wieder zurückzuzahlen, ein Versprechen, das er, wie er genau weiß, nicht wird halten können. Aber mit der Zeit und wachsender Geldnot gewöhnt er sich an das Betteln wie an das Lügen: --"Jegliche Würde war von ihm abgefallen. Er hatte bloß noch ein Ziel: immer mehr Geld zu verlangen, alles zu bekommen, was der Alte bei sich hatte."
Wie für seine Mutter ist für Nicolas Geld etwas, was man hat, um es auszugeben. Er stellt das genaue Gegenstück zur (nicht nur) schwäbischen Schaffermentalität vor, für die im Gelderwerb schon so viel Befriedigung liegt, dass für die Verwendung des Erworbenen keine Lustreserven mehr übrig sind. Nicolas dagegen lebt nach der Devise des Komponisten Richard Wagner: "Die Welt ist mir schuldig, was ich brauche."
Und was er braucht, steht in keinem Verhältnis zu seinen Möglichkeiten. Im Gegenteil: Je ferner er dem Wohlstand ist, desto glänzender phantasiert er sich in eine Luxusexistenz hinein:
"So spazierte er vor sich in und stellte sich dabei die schönsten Situationen und glücklichsten Augenblicke vor, sah sich sorgsam eingekleidet, in großen Hotels lebend, frei flanierend und in der ganzen Welt umherreisend. Die Annehmlichkeiten des Reichtums zogen an seinen Augen vorbei: Auto, Wohnung, Möbel, Domestiken. All das erschien ihm und seiner Mutter so simpel, daß beide oft sagten: 'Es gibt Leute, die können mit ihrem Geld nichts anfangen. Sollen sie es doch uns geben! Wir werden es rasch und sinnvoll ausgeben.' Oder auch: 'Wir sind dazu gemacht, reich zu sein!' Nicolas hatte ein unstillbares Bedürfnis nach Gütern. Reich zu werden war sein einziges Ziel. Es verfolgte ihn mit solcher Beständigkeit, daß er oft schon annahm, es bereits erreicht zu haben, und stundenlang in der Vorstellung lebte, ein Milliardär zu sein."
Stattdessen nähert sich sein Zustand immer mehr der Verwahrlosung, wird er dem Clochard, den er eines Tages auf einer Parkbank beobachtet, immer ähnlicher.- Emmanuel Bove liefert in diesem Roman eine großartige Innenansicht der zentralen Obsession der modernen Gesellschaft, in der die Ständegrenzen durchlässig geworden sind, die dem einzelnen zwar die Chance zum sozialen Aufstieg gibt, ihn aber auch ins Bodenlose abstürzen lassen kann. Honoré de Balzac ist der unübertroffene Chronist dieses sozialen Wandels gewesen und des Bereicherungsfurors, der zumal in die jungen Leute jener Zeit gefahren ist. Mit seinen Aufsteigern und Emporkömmlingen, mit seinen Rastignacs und Rubemprés zeigt er, wie man's macht, entwirft atemraubende finanzielle Luftschlösser, rechnet aber auch jedes Geschäft auf Heller und Pfennig, auf Franc und Centime vor. Emmanuel Bove nennt nur vage Summen, und der wirtschaftliche Abstieg seiner Helden hat nichts Aufregendes, er ist bloß voraussehbar und niederschmetternd. Jeder erfolgreiche Schnorrerei verzögert den endgültigen Niedergang nur. In Nicolas ist nicht ein Fünkchen mehr von jener Lebensenergie, die Balzacs Helden bis zum Bersten erfüllte und auch ihrem Fall, wenn sie denn fielen, Größe und Stil gaben.
Emmanuel Bove wäre aber nicht der bedeutende Autor, der er ist, wenn er nur das Scheitern von zwei weltfremden, verwöhnten und antriebslosen Gestalten vorführte, vulgärmarxistisch gesprochen: zweier Vertreter einer überflüssig und lebensunfähig gewordenen Klasse, zweier Besitzloser, die sich wie Besitzer gebärden. Dann bliebe er auf dem Bewusstseinsstand seiner Figuren stehen, die ja allen Ernstes davon überzeugt sind, wenn sie nur Geld hätten, wäre alles anders.
Nun präsentiert uns Bove aber schon auf den ersten Seiten dieses Romans eine Figur, die Geld hat, und zwar im Übermaß. Es handelt sich um den alten Perrier, den Vater von Madame Aftalion und Nicolas' Großvater. Er leitet eine Gummiartikelfabrik und macht glänzende Geschäfte mit drehbaren Absätzen. Aber der kommerzielle Erfolg hat seine Lebensfreude nicht in gleichem Maß steigen lassen, ganz im Gegenteil:
"Ständig fürchtete er, der Verkauf dieser Absätze könnte ins Stocken geraten, und der Gedanke, sein Besitz, die Aussteuer seiner Töchter, das Glück der Seinen hingen von einem Modegeschmack ab, machte ihn krank. Dauernd glaubte er bei seiner Kundschaft Zeichen abflauenden Interesses auszumachen."
Abends schließt er sich in sein Büro ein und versucht, sich in Motivlage seiner Kunden hineinzuversetzen.Warum kaufen sie seine Absätze? zermartert er sich den Kopf. Wie lange werden sie sie tragen? Wann wird die Mode wechseln? Aus dem Zweifel am geschäftlichen Erfolg - der übrigens unvermindert anhält - wird die Überzeugung vom notwendigen Scheitern. Und dieser Gegensatz von Sein und Meinen führt zu noch größerer Verwirrung. Perrier fühlt sich als Lügner und Betrüger, der seine Familie in den Abgrund zieht.
"Es wurde ihm unerträglich, wie die Seinen ihr Glück zur Schau stellten. Ständig hatte er das Gefühl, sie zu täuschen, sie an der Nase herumzuführen und ihnen in nächster Zukunft ein Unglück zu bescheren. Wegen der daraus entstehenden Gewissensbisse konnte er ihren Anblick bald nicht mehr aushalten. Wenn er nach Hause kam, durfte kein Hausangestellter ihm über den Weg laufen. Denn erblickte er einen von ihnen, stellte er sich auch schon vor, der Tag sei nahe, an dem er dessen Gehalt nicht mehr bezahlen könne."
Als einer seiner Vorarbeiter ihm eines Tages vorschlägt, eine Werk-Hilfskasse einzurichten, gibt er erst einmal eine ausweichende Antwort:
"Aber der Vorschlag verfolgte ihn eine Woche lang. 'Ein paar Jahre lang Beiträge, ein paar Jahre . . . Na klar . . . die wollen mich auf den Arm nehmen. Jeder weiß, daß ich Bankrott machen werde.' So litt er also, denn er hatte das Gefühl, seine Arbeiter zu betrügen, ihnen die Wahrheit zu verbergen und sie in Hoffnung zu wiegen. Hatte er das Recht, ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich organisierten, ihr Leben verbesserten, wohingegen er, ihr Chef, doch haargenau wußte, daß alles zusammenbrechen würde? Nie verließ ihn die Furcht, seine Arbeiter enttäuschen zu müssen und von seinen Freunden verleugnet zu werden, die ihm nicht verzeihen würden, daß er sie an der Nase herumgeführt hatte. Deswegen ging er auch allen Bekanntschaften aus dem Weg. Warum sollte er zu ihnen Beziehungen unterhalten, wo er sie doch eines Tages verlieren würde und ihrer nicht würdig war?"
Perrier, der Kapitalist, ist unglücklich, nicht obwohl, sondern weil er kein Geld hat. Er ist die perfekte Kehrseite von Nicolas, seinem Enkel, dem Habenichts, der unglücklich ist, weil er keins hat. Bove unterstreicht diese Entsprechung noch dadurch, dass er sie beide durch Selbstmord enden lässt: der Großvater stürzt sich aus dem Fenster, der Enkel geht in die Seine.
Was aber bedeutet die Medaille selbst, zu der diese Gestalten die beiden Kehrseiten bilden? Es ist das wahnhafte Potential, das im Geld selbst steckt und diejenigen, die es berühren, ansteckt, so dass sie verückt werden vor Verlangen, es zu bekommen - oder vor Angst, es zu verlieren. Die Figur des Großvaters, die so schnell aus dem Buch verschwunden ist, dass der eilige Leser ihn zu vergessen droht - aber eilige Leser sind Emmanuel Bove nicht zu wünschen -, diese Figur ist von parabolischer Kraft. Sie erinnert an eine berühmte Erzählung von Franz Kafka: "Der Bau". Darin baut sich ein nicht näher bezeichnetes Tier eine Höhle, die es vor seinen Feinden schützen soll, genauer: ein ungeheuer verzweigtes Höhlensystem mit Sperren und Fallen, Irr- und Verwirrgängen. Jeder Angreifer, da ist es sich sicher, muss an dieser perfekten Schutzvorrichtung scheitern. Allerdings hat der Bau eine Schwachstelle: den Eingang. Und weil das Tier den Gedanken nicht erträgt, in seinem unbezwingbaren Schutzraum zu sitzen, während sich ein Feind am Eingang zu schaffen macht, verlässt er die Höhle und beobachtet den Eingang von außen - so natürlich allen Angriffen schutzlos ausgesetzt. Die gleiche Logik, die aus dem Verlangen nach absolutem Schutz, nach perfekter Überwachung, ihr Gegenteil, nämlich die freiwillige Exponierung aus sich heraustreibt, diese Logik führt beim alten Perrier zur Überzeugung, mitten im Boom stehe der Bankrott vor der Tür. Wenn Nicolas also denkt
"Nur Geld kann mich retten. Wenn ich reich wäre, wäre ich ein anderer Mensch",
dann hat Emmanuel Bove ihn schon viele Seiten vorher dementiert. er Autor kennt übrigens das Elendstableau, das er hier entwirft, aus eigener eidvoller Anschauung. In den frühen Zwanziger Jahren, als er sich in Paris durch journalistische und literarische Produktion nur mühsam üer Wasser halten konnte, wurde er von seiner Mutter, Witwe eines gescheiterten Glücksritters wie im Roman, und seinem jüngeren Bruder ständig um Geld angegangen und mit Vorwürfen überhäuft, wenn seine Quelle einmal nicht kräftig genug sprudelte. Das ungleiche Paar hing Emmanuel, der selbst mit aller Kraft dem Elend zu entkommen suchte, wie ein Mühlstein am Hals und mißbrauchte ihn zugleich als Sündenbock für die eigene Unfähigkeit. Die bei ihm entstandenen Schuldgefühle versuchte er mit diesem Roman zu verarbeiten.
"Die Verbündeten" ist aber natürlich mehr als autobiographische Therapie, mehr auch als einer der Elendsromane, wie sie der Moloch Paris so zahlreich hervorgebracht hat, mehr auch als eine brillante literarische Analyse der wahnhaften Strukturen der Geldwirtschaft. Es ist darüber hinaus das gnadenlose Porträt einer Gesellschaft, in dem alle menschlichen Verhältnisse durch Geld bestimmt - und damit zerstört werden. Nicolas und seine Mutter reden nahezu ausschließlich darüber, wen man noch anpumpen könnte, und werden nächsten Bittgang angehen soll. Außerhalb des Hotelzimmers gibt es für die "Verbündeten" nur noch Gläubiger, reale oder potenzielle. Hinter jedem harmlosen Gespräch am Tresen erhebt sich, überlebensgroß, die Frage "Kann ich ihn um Geld angehen?" und erdrückt jeden anderen Gedanken. Alle Gespräche bei Emmanuel Bove spielen sich vor einer solchen Hinterbühne ab - oder sie sind entleerte, ganz sinnlose Kommunikation, nicht mehr wert als das Schweigen selbst:
"Léon Seelig war ein Mann von fünfzig Jahren. Er mißtraute jeder kleinsten Regung. Wenn einer ihn ansprach, hatte er vor allem die Absicht, ihn übers Ohr zu hauen. Oft ging ihm der Gedanke durch den Kopf: 'Selbst wenn ich ihm Geld vespreche, wird er das Doppelte verlangen. Und selbst wenn ich ihm das Doppelte gebe, wird er versuchen, mir das Doppelte vom Doppelten abzuknöpfen.' Wenn es darum ging, hinter jeder Handlung ein egoistisches Motiv ausfindig zu machen, war niemand geschickter als er. Ein Vater erzählte ihm, er würde sein Kind abgöttisch lieben, und er lachte nur hämisch: 'Denkst wohl schon an deine alten Tage, was?'"
Von diesem Geist des Misstrauens zernagt, besessen von der Furcht, übervorteilt zu werden, und deshalb bestimmt von dem Ziel, lieber den anderen zu schädigen, war auch schon die Anfangsszene des Buches, die frostige Aufnahme der Aftalions bei ihren Verwandten. Jeglicher Austausch bei Emmanuel Bove ist von diesem Mechanismus bestimmt. Louise Aftalion und ihr Sohn Nicolas allerdings haben sich nichts zu geben, nichts zu nehmen. Sie haben nichts voneinander zu befürchten und nichts zu hoffen. Also haben sie einander auch nichts zu sagen. Die Gespräche der " Verbündeten" - welch bittere Ironie diesem Titel anhaftet, dürfte inzwischen deutlich geworden sein - bewegen sich im Kreise, sie bestehen im sinnlosen Repetieren von Vorwürfen, Selbsttäuschungen und Beschwichtigungsformeln.
"Das nächste Mal gehst du dir was leihen. Dann wirst du sehen, wie das ist.' - ' Warum ich und nicht du?' - 'Ich sage dir, du wirst sehen, wie das ist.' - 'Aber ich weiß, wie das ist. Ich muß es nicht erst sehen.' - 'Du hast es vergessen. Das wird dein Gedächtnis auffrischen."
Oder an einer anderen, beliebig herausgegriffenen Stelle: Ich tue alles, was ich kann, und du wartest nur ab. Dabei bist du doch an allem schuld.' - 'Ich bin an gar nichts schuld.' 'Wenn ich dir wage, daß du an allem schuld bist.' - 'Und ich sage dir, ich bin an gar nichts schuld.
'Willst du mich provozieren? Ich mache es wie du. Ich rühre keinen Finger mehr. Dann werden wir sehen, was dabei herauskommt." --Ähneln diese Dialoge noch den Nein-doch-nein-doch Streitereien kleiner Kinder, so magern sie zum Ende des Buches hin noch einmal ab:
"Was hast du, Nicolas?' - 'Nichts.' - 'Leg dich wieder hin. Es ist noch zu früh zum Aufstehen.' - 'Ich bin nicht mehr müde.' - 'Hast du geschlafen? ' - 'Ich bin doch gerade erst nach Hause gekommen.' - ' Hast du etwas gefunden? ' - 'Nichts.'"
Und so könnte es ewig weitergehen. Während rund um Mutter und Sohn die steife Brise profitabler Geschäfte weht, dümpelt ihr Lebensschiff in einer Flaute, leckgeschlagen und manövrierunfähig, und dreht sich sinnlos im Kreise. Diese Situation prägt auch die Struktur des handlungsarmen Romans: Abwechselnd verlassen die Verbündeten die immer schäbigeren Hotelzimmer, kehren wieder zurück, tauschen Nichtigkeiten aus, legen sich schlafen mit dem ewiggleichen Spruch: "Morgen treiben wir Geld auf".
Aber morgen wird sein, wie heute und gestern gewesen sind, und wenn Nicolas nicht in die Seine gegangen wäre, er bettelte noch heute. - In einem anderen Roman mit dem Titel "Der Mann, der wusste", den Bove 1942 in seinem Versteck geschrieben hat und der jetzt gleichfalls erstmals auf Deutsch erschienen ist, hat der Autor die Konstellation noch einmal radikalisiert. Wieder steht im Mittelpunkt ein aufeinander angewiesenes, sich stützendes und verletzendes, sich liebendes und hassendes Paar. Fast ganz verschwunden sind Nebenfiguren, überhaupt die Außenwelt, und jegliche Motivierung. Geblieben ist die Struktur: eine Wohnung, die man verlässt und in die man wieder zurückkehrt, der andere, ohne den und mit dem man nicht leben kann, Gespräche, in denen sich nichts mehr ausdrückt, außer der Tatsache, dass man miteinander spricht. Diese Gespräche sehen den Dialogen in den Stücken Samuel Becketts bisweilen zum Verwechseln ähnlich. Und damit ist nach Kafka der Name eines weiteren Säulenheiligen der Literatur des 20. Jahrhunderts gefallen. Kafka und Beckett: diese Namen sind keine Missgriffe. Denn wenn man bei einem imaginären Gipfeltreffen die die Großen der literarischen Moderne versammeln würde: Emmanuel Bove, auch wenn vor gar nicht langer Zeit niemand überhaupt seinen Namen kannte, Emmanuel Bove gehörte unbedingt dazu.