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"Die Verdammten" beim Theaterfestival in Avignon
Politdrama auf Shakespeare-Niveau

Mit der Aufführung des Politdramas "Die Verdammten", angelehnt an den Visconti-Film von 1969, hat das 70. Theaterfestival in Avignon begonnen. In der Regie des Belgiers Ivo van Hove erreichte die Inszenierung dabei Shakespeare-Niveau. Das lag auch nicht zuletzt an den Schauspielern der Comédie Française.

Von Eberhard Spreng | 07.07.2016
    Der Papstpalast in Avignon.
    Der Papstpalast in Avignon ist Kulisse für "Die Verdammten" nach Luchino Visconti. (Deutschlandradio / Eberhard Spreng)
    Am linken Rand der großen Papstpalastbühne sind in einer Reihe lauter Schminktische aufgebaut, am rechten Rand stehen auf einem schwarzen Podest sechs Särge. Zwischen beide Polen spielt sich das Leben ab, ein prekäres, vorläufigen, von Intrigen, Leidenschaften und den erstarkenden Nazis bedrohtes Leben. Der Erste, der rechts in einen Sarg gelegt wird, ist Joachim von Essenbeck, der Patriarch einer Industriellenfamilie, mit der in Luchino Viscontis Film von 1969 ziemlich unverhohlen die Krupps gemeint waren. Aber kaum hat man den von Didier Sandre verkörperten, frisch ermordeten Industriekapitän in den Sarg gelegt und den Deckel geschlossen, flammt ein schwarz-weißes Videobild auf der zentralen Leinwand auf, das den Kopf des Leichnams zeigt, wie er, für die Nachwelt unhörbar, schreit, stöhnt, um Luft ringt - ein Todeskampf post mortem der sehr beeindruckenden Art. Fünf Mal wird Ivo van Hoves Regie in diesem großen Bild zeigen, dass die Toten nicht tot sind, und dass das Neue die Gespenster der Vergangenheit nicht los werden wird. Der SS-Offizier Aschenbach will dieses Neue in der Industriellenfamilie durchsetzten und deren Konzern in eine Rüstungsschmiede umformen. Er geht, verkörpert durch einen aalglatten Éric Génovèse mit psychologisch subtilen Einflüsterungen ans Werk.
    "Vous devez comprendre qu’aujourd’hui, en Allemagne, tout peut arriver. Même l’improbable. Ce sont les paroles du Führer, mon cher Friedrich. Je vous conseille de les apprendre par cœur."
    Was im Salon der von Essenbecks geschieht, verdoppelt sich im Videobild auf der Leinwand. In dieser Adaption eines Filmdrehbuches kann der Zuschauer also, wie dies im Theater mittlerweile fast schon ästhetische Konvention geworden ist, zwischen der digitalen Nahaufnahme und dem körperhaften Bühnenganzen hin und her springen. Sehr ausgefeilt sind hier die von zwei Kameraleuten eingefangenen und einige voraufgezeichnete Bilder. Die martialische Ermordung von SA-Leuten durch die Schergen der SS geschieht hier in der Aufsicht auf nackte Männerkörper; die Bühne wird zum Blutbad, die Opfer aber sind dem Blick leicht entrückt. Aber Viscontis merkwürdige Mischung von homosexueller Orgie und wütender Mordlust imitieren van Hoves letztlich kühle, choreografierte Theaterbilder nicht. Der belgische Regisseur konzentriert sich ganz auf die Entwicklung seiner zentralen Figuren. Es gelingt ihm tatsächlich besser als dem filmischen Vorbild, vor allem Martin von Essenbecks perverse Karriere zu deuten, in der der pädophile Familienneurotiker zum stahlharten Werkzeug der NS-Strategen wird.
    "C’est vous que je hait, jamais vous sauriez imaginer toute la haine que je vous veux, je suis décider de vous détruire."
    Christophe Montenez tritt hier an, um in eine Rolle zu schlüpfen, mit der einst Helmut Berger seine internationale Karriere begann. Er demütigt die übermächtige Mutter, stürzt den Usurpator Friedrich, der den alten Patriarchen ermordete, dann aber der Nazi-Lenkung entglitt. Jetzt hat die Inszenierung vollends Shakespeare-Niveau erreicht, ist bei Macbeth und auch Richard dem Dritten und Ivo van Hove beweist erneut, dass er außer in moderner Literatur auch in diesem Filmdrehbuch die Kraftlinien freilegen kann, durch die individuelle Leidenschaften zu Vektoren für politische Umbrüche werden. Was all das mit dem Rechtsruck in Europa und seinen neuen Nationalismen heute zu tun haben könnte, das allerdings beantwortet die Aufführung nicht.
    Der belgische Regisseur Ivo van Hove be der Pressekonferenz in Avignon.
    Der belgische Regisseur Ivo van Hove. (Deutschlandradio / Eberhard Spreng)
    In den Schauspielern der Comédie Française hat Ivo von Hove ein Ensemble, das bis in die Nebenrollen hinein hohe Spielqualitäten beweist. Die Truppe war fast ein viertel Jahrhundert nicht mehr in Avignon, weil ihre Ästhetik nicht in den Avantgarde-Gestus des Festivals passte. Dass mit ihr nun ein großer Auftakt möglich wird, hängt mit gegenseitiger Annäherung zusammen. Éric Ruf, der neue Leiter der Comédie Française, fördert Rendezvous mit Regiehandschriften und Arbeitsweisen, die das ehrwürdige Nationaltheater bislang nicht kannte und Olivier Pys Festivaldirektion fördert etwas konventionellere Formen der Schauspielkunst. Diese Fusion hat sich gelohnt, das Publikum feierte seine Nationalschauspieler mit großem Applaus.