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Die vergessene Armee

Auf Sardinien ist man kürzlich auf kostbare archäologische Funde gestoßen. Allerdings entdeckte man sie nicht unter der Erde sondern in einem Museumskeller, wo sie bereits seit Jahrzehnten lagerten. Unglaublich, wenn man bedenkt, wie groß manche dieser Skulpturen sind, die der sardischen Urbevölkerung der Nuragen zugerechnet werden.

Von Thomas Migge |
    Der Soldat ist rund zwei Meter groß. Er hat kreisrunde starre Augen, eine markante Nase und tief in den Stein geschlagene Augenhöhlen. Das Gesicht, vor allem die oberen Partien, erinnert an die gigantischen rätselhaften Kopfstatuen auf den Osterinseln. Den Kopf des Kriegers zieren lange und zu Zöpfen geflochtene Haare, die ihm bis auf den Brustkorb reichen. In seiner linken Hand hält er einen Bogen. Die rechte ist wie zum Gruß erhoben. Sein Oberkörper und die Schienbeine sind durch Metall andeutende Schutzschilde verdeckt. Auf seinem Kopf trägt er einen Helm mit zwei Hörnern. Der Helm erinnert an die Kopfbedeckungen von Wikingerkriegern. Aber der Soldat stammt aus Sardinien, wo Wikinger nie gelebt haben. Wahrscheinlich wurde der behörnte Soldat im neunten oder zehnten Jahrhundert vor Christus geschaffen, vermutet Antonietta Boninu, Archäologin im sardischen Sassari:

    " Während der Dauer seiner Existenz auf Sardinien scheint das rätselhafte Volk, dessen Skulpturen wir jetzt endlich restaurieren, eine Art Heer gehabt zu haben. Dass sie auch Krieger waren, wussten wir, wie sie aussahen aber nicht. Ob diese Skulpturen auch eine religiöse Bedeutung hatten, können wir noch nicht sagen."

    Antonietta Boninu arbeitet an einem faszinierenden Restaurierungsprojekt. Sie beschäftigt sich mit der Zusammensetzung der zum Teil riesigen Reste von rund 30 Kriegerfiguren, die zwischen einem und zweieinhalb Meter hoch und aus Stein sind. Skulpturen, auf die man 1970 durch Zufall im sardischen Gebiet der Monti Prama im Westen der Insel stieß. Bei ihrer Feldarbeit entdeckten Bauern im Erdreich eine Hand, die einen Gegenstand hielt. Sie setzten sich gleich mit der Altertümerbehörde in Sassari in Verbindung. Aus unbegreiflichen Gründen wurde mit den Grabungen erst vier Jahre später begonnen - zur gleichen Zeit übrigens, als in China die Tonsoldaten des Xian-Heeres ausgegraben wurden. Antonietta Boninu:

    " Man begriff gleich, dass es sich um die Reste einer Zivilisation handelt, die bedeutend gewesen sein muss, denn wenn sie so große Skulpturen schuf, muss sie hoch entwickelt gewesen sein. Bis 1979 wurden die Skulpturen ausgegraben und es war gleich klar, dass man dort einen epochalen archäologischen Schatz entdeckt hatte. Warum das erst heute bekannt wird, kann ich nicht nachvollziehen."

    Bis heute existieren zu den Funden aus dem neunten und zehnten Jahrhundert vor Christus nur einige wenige Seiten wissenschaftlicher Literatur. Sicher muss das auch damit erklärt werden, dass die Kunstwerke jenes Volkes, das auf ganz Sardinien in jener Zeit tausende von steinernen Rundbauten errichtete, die so genannten "nuraghe", deren Bedeutung noch ungeklärt ist, direkt nach ihrer Entdeckung im Keller verschwanden. In den Kellergewölben des archäologischen Museums von Sassari. Dort wurden sie dann vergessen. Seit 2005 versuchen Archäologen Finanzmittel zu erhalten, um den Schatz erneut zu heben, vor allem aber um ihn zu restaurieren und auszustellen. Einen Schatz, meint der Archäologe und Experte der sardischen Frühgeschichte Vincenzo Santoni, von unermesslichem Wert:

    " Um die Bedeutung dieser Skulpturen zu begreifen, muss man einen Schritt zurück in die Vergangenheit tun: die so genannte Nuraghenkultur, über die wir nur wenig wissen, weil sie keine schriftlichen Zeugnisse hinterließ, bestand wahrscheinlich aus einem Seefahrervolk, das in Ortschaften aus Rundbauten, den Nuraghen, lebte. Dass sie relativ hoch entwickelt waren, beweisen ihre wirtschaftlichen Beziehungen zu den Griechen, Etruskern und Phöniziern. Warum dieses Volk untergegangen ist, können wir nicht nachvollziehen."

    Wahrscheinlich wurde die Nuraghenkultur von den Etruskern oder den Phöniziern erobert. Wann, ist unklar. Klar ist hingegen, dass verschiedene der großen Soldatenskulpturen, in viele Stücke zerbrochen, in einer antiken Müllkippe zusammen mit den Resten phönizischer Vasen, gefunden wurden - kilometerweit von jenem Ort entfernt, an dem die Bauern die erste Skulptur im Erdreich entdeckt hatten.

    Schon in den späten siebziger Jahren bezeichnete Giovanni Lilliu, einer der angesehensten Kenner der Nuraghenkultur, das Wiederauffinden der Skulpturen als einen der wichtigsten archäologischen Funde Italiens im 20. Jahrhundert. Verwunderlich ist deshalb, dass die Altertümerverwaltung in Sassari die ausgegrabenen Bildwerke verpacken und in den Keller stellen ließ, ohne sie zuvor wissenschaftlich analysiert zu haben. Man habe damals für weitere Forschungen kein Geld gehabt, heißt es heute. Jetzt werden die Kriegerskulpturen endlich restauriert und sollen bald schon im archäologischen Museum von Sassari ausgestellt werden.