"Die Kugeln sind hier eingedrungen. Mein Sohn wurde am Kopf getroffen. Das ganze Kirchengrundstück war von schwer bewaffneten Paramilitärs umzingelt und die Studenten hatten nur Steine."
Susana weist auf die kastaniengroßen Einschusslöcher in den Wänden der Kirche. Sie kann nur mit Mühe ihre Tränen zurückhalten. Ihr Sohn Gerald, gerade mal 20 Jahre alt, hat den Schuss nicht überlebt.
Etwa 150 Studenten hatten sich vor rund einem Jahr in die Kirche geflüchtet, Schutz vor den regierungsnahen Paramilitärs gesucht. Die Parroquia Divina Misericordia – die Pfarrei der Göttlichen Barmherzigkeit - befindet sich unweit der UNAN, der Universität von Managua, die die Studenten aus Protest besetzt hatten. Dreizehn Stunden standen sie unter Beschuss, erinnert sich der der 21-jährige Jura-Student Kevin Solís. Drohnen kreisten über ihren Köpfen.
"Wir wollten, dass das Töten aufhört."
"Ortega wollte uns zum Schweigen bringen, weil wir Freiheit für unser Land gefordert haben, wir wollten, dass das Töten aufhört, die Repression. Wir hatten alle Angst, Todesangst, Angst davor Kommilitonen zu verlieren. Wir hatten keine Waffen, wir hatten nur selbstgebaute Knallkörper und unser Herz. Wir wollten einfach nur lebend da rauskommen. "
Pater Raúl Zamora hat sie mit einem Transporter der Kirche aus der Uni rausgeholt, einen nach dem anderen. Immer wieder ist er zwischen der Kirche und der Uni hin und hergefahren. niemanden wollte er zurückgelassen. Aber er musste zusehen, wie der 20-jährige Gerald Vásquez, Susanas Sohn, in seinem Haus auf dem Gelände der Kirche verblutet ist:
"Er lag im Sterben, seine Augen haben mich völlig erschrocken angeschaut. Man sah seine Angst. Diesen Blick kann ich nicht mehr vergessen. Ich konnte nicht mehr Atmen, mir hat es die Kehle zugeschnürt. Das war ein wirklich schwerer Moment. Einen jungen Menschen so sterben zu sehen, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte."
40 Jahre nach der Revolution scheint sich die Geschichte zu wiederholen
In dieser Nacht Mitte Juli letzten Jahres kam auch noch ein weiterer Student ums Leben, rund zehn wurden verletzt.
40 Jahre nach dem Sieg der Sandinistischen Front der Nationalen Befreiung FSLN über den damaligen Diktator Anastasio Somoza scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Unter dem seit 2007 amtierenden Daniel Ortega und seinen Gefolgen, habe sich das Land erneut in eine grausame Diktatur verwandelt, meint der Pater:
"Sie verkörpern nun das, was sie selbst so sehr gehasst haben. Es gibt keine Freiräume mehr in Nicaragua. Es ist sehr traurig, die Leute müssen sich verstecken, die Menschen können sich nicht frei äußern."
Viele von denen, die gegen Ortega demonstrieren, sind Söhne und Töchter von Sandinisten. Es sind die Kinder von Revolutionären, die in den 70er Jahren für die Freiheit Nicaraguas gekämpft hatten.
Die Hoffnungen von damals haben sich für die preisgekrönte nicaraguanische Schriftstellerin und ehemalige Revolutionärin Gioconda Belli nicht erfüllt:
"Der Sandinismus von 1979 war sehr idealistisch, wir glaubten an eine bessere Welt, soziale Gerechtigkeit, eine "neue Gesellschaft. Wir wollten nichts nach sowjetischem oder kubanischem Vorbild aufbauen, sondern etwas Eigenes für Nicaragua schaffen."
Ortega: vom Revolutionsführer zum Diktator
Seit 12 Jahren regiert Ortega erneut das Land. Für seine dritte Amtszeit setzte er sich über die Verfassung hinweg. Er habe sich von einem Revolutionsführer zu einem Despoten entwickelt, sagt Gioconda Belli. Es sei ein schleichender Prozess gewesen, Bürger- und Menschenrechte seien immer mehr eingeschränkt worden. Zusammen mit seiner Frau Rosario Murillo, die er zur Vizepräsidentin gemacht hat, kontrolliere Ortega das Land, und auch seine Kinder hätten wichtige Positionen in der Wirtschaft und in den Medien. Eine Familiendiktatur.
"Man fühlt sich wieder in die Zeit der Diktatur von Somoza zurückversetzt. Seit einem Jahr – seit April 2018 als die Proteste im Land begannen – erleben wir hier eine schwierige Zeit mit vielen Toten, als hätten wir Krieg. Auch mit der Wirtschaft geht es bergab. Wir sind sehr besorgt. Es scheint so als wären wir in einer Krise, die nicht enden will."
Im April letzten Jahres war es in Nicaragua zu massiven Protesten gekommen. Auslöser war die Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge und eine Rentenreform. Proteste, die von Ortega brutal niedergeschlagen wurden. 325 Tote, mehr als 2000 Verletzte hat es laut Interamerikanischer Menschenrechtskommission gegeben. Rund 70.000 Menschen sind ins Exil geflüchtete, viele davon nach Costa Rica. Es gibt keine Pressefreiheit mehr, über Monate wurden Zeitungen nicht mit Papier beliefert, damit sie nicht gedruckt werden können. Demonstrationen sind auch jetzt noch verboten.
Santos will von all dem nichts hören. Der 56-Jährige sitzt vor seinem kleinen Haus mit Wellblechdach, zwei Blöcke von der Uni entfernt. Er verkauft geschnittene Mangos und Getränke, die er in einem Bottich mit Wasser kühlt, davon können seine Frau und er gerade so überleben, wie er sagt. Zum Schutz vor der Sonne trägt er eine tarnfarbene Mütze, FSLN steht vorne in schwarzen und roten Buchstaben draufgeschrieben – Frente Sandinista de Liberación Nacional.
"Ich unterstütze Ortega, weil er einfach eine gute Regierung stellt. Aber es gibt Extremisten in unserer Gesellschaft, die ihn nicht regieren lassen wollen. Vieles was die Regierung erreicht hat, haben sie zerstört. Aber viele Menschen haben von der Regierung profitiert. Ich habe auch ein kleines Grundstück bekommen."
Ortega machte den Armen Geschenke, vor allem mit Geld aus Venezuela. Geld, das wie seine Kritiker sagen, auch in Ortegas eigene Taschen floss. Doch mit der Krise in Venezuela, ist diese Geldquelle versiegt.
Santos hofft, dass die Gewalt und das Chaos bald ein Ende haben. Doch der Dialog zwischen Opposition und Regierung wurde immer wieder ausgesetzt. In den letzten Monaten hat Ortega laut der Opposition mehr als 100 politische Gefangene aus der Haft entlassen, rund 80 sind noch im Gefängnis. Viele stehen allerdings noch unter Hausarrest, haben nach wie vor Angst verfolgt zu werden. Die Regierungsgegner fordern Neuwahlen und Ortegas Rücktritt. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup im Mai dieses Jahres würden 62 Prozent der Nicaraguaner vorgezogene Wahlen befürworten. 77 Prozent sind der Meinung, dass das Land in eine Falsche Richtung steuert.
In der Kirche Divina Misericordia in Managua findet an diesem Tag ein Trauergottesdienst für die Studenten statt, die die Schüsse der Paramilitärs vor einem Jahr in der Kirche nicht überlebt haben: Gerald José Vásquez und Franzisco Flores. Das Grundstück ist umzingelt von schwer bewaffneten Polizisten. An der Hauptstraße stehen die Pickups der Sicherheitskräfte Spalier. Vor der Kirche haben sich Studenten und Angehörige versammelt. Einige haben sich mit Tüchern vermummt.
Sie skandieren: Gerald ist nicht einfach gestorben, die Regierung hat ihn umgebracht. Es waren Studenten, keine Verbrecher.
Die Stimmung ist aufgeheizt. Plötzlich knallt es zwei Mal ohrenbetäubend. Doch es stellt sich heraus, dass es lediglich Böller sind, die auch bei Prozessionen verwendet werden.
Auch der Jura-Student Kevin ist zum Gedenkgottesdienst seiner Kommilitonen gekommen. Mehr als ein halbes Jahr saß er als politischer Gefangener in Haft.
Die politische Krise spaltet auch Familien
Mein Leben ist ein Chaos. Meine Familie hat sich wegen meiner politischen Haltung von mir distanziert. Sie sind Sandinisten. Als ich aus dem Gefängnis angerufen habe, haben sie nicht geantwortet. Aber ich habe eine größere Familie gewonnen, Menschen, die das gleiche erreichen wollen wie ich, eine Familie, die mich unterstützt.
Die politische Krise hat viele Familien gespalten. Kevin will weiter protestieren, auch wenn Demonstrationen auf der Straße verboten sind:
"Ich habe keine Angst. Ich habe schon einmal fast mein Leben verloren, sie haben uns ohne Grund verhaftet, geschlagen, gefoltert und ich weiß nicht, ob sie mir wieder etwas antun werden. Heute zeigen wir wieder Gesicht. Da draußen warten die Leute von Ortega nur darauf, dass wir rauskommen, das Kirchengelände verlassen. Ich werde weiter protestieren bis ich keine Luft mehr bekomme, solange Gott will, dass ich lebe. Bis wir siegen und der Diktator endlich geht."