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Die Verheißung der Fremde

Dem Autor gelingt es, zwei Erzählstränge schwungvoll miteinander zu verflechten: Anfang des 19. Jahrhunderts scheitert eine Gruppe Luxemburger beim Versuch, aus ihren ärmlichen Verhältnissen auszubrechen und nach Brasilien auszuwandern - in eine vermeintlich glücklichere Zukunft. Kurz vor der Wende zum 21. Jahrhundert kommt Tiha aus Montenegro mit anderen Flüchtlingen ins Großherzogtum Luxemburg.

Von Sabine Peters | 07.11.2010
    Die Ortsbezeichnungen auf den Atlanten dieser Erde lesen sich oft wie Ausrufungszeichen oder Fragezeichen. Sie erzählen Geschichte, manchmal auch Fantasien. New Hannover liegt nicht in Niedersachsen, sondern in Südafrika. New Amsterdam befindet sich im südamerikanischen Guayana. Und Neu-Irland ist ein Teil des Staatengebildes von Papua-Neuguinea. Aber wo, bitte, soll ein Ort mit dem großartig klingenden Namen "Neu-Brasilien" liegen? Eine Landkarte vermerkt ihn ausgerechnet im kleinen Großherzogtum Luxemburg. Neu-Brasilien liegt also gewissermaßen einen Katzensprung von uns entfernt.

    Guy Helminger, der 1963 in Esch-sur-Alzette in Luxemburg geboren wurde und seit 1985 in Köln lebt, erzählt in seinem spannenden neuen Roman von einem zeitlosen und universalen Phänomen, von Flüchtlingen, die auf eine glückliche Zukunft in der Fremde hoffen. Wie hieß es im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten: Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal.

    Der Roman "Neubrasilien" spielt auf zwei Ebenen, in den Jahren 1828 - 1831, und in der Zeit zwischen 1999 und 2003.

    Anfang des 19. Jahrhunderts: Eine Gruppe von Landbewohnern im heutigen Luxemburg macht sich auf die Reise in die neue Welt, ins gelobte Land Brasilien. Denn Luxemburg wird von wechselnden ausländischen Machthabern beherrscht, und die Bevölkerung ächzt unter immer neuen Steuern, unter Armut und Perspektivlosigkeit. Brasilien dagegen ist ein fruchtbares Land, in dem Fremde willkommen sind und Diamanten am Wegrand liegen - so heißt es jedenfalls. Die Bauerntochter Josette und ihre Angehörigen aus dem Dorf Wahl zählen zu den vielen Familien, die ihren Hof verkaufen und den Weg zum nächsten Fluss, zur Mosel antreten. Per Schiff geht es weiter nach Koblenz, dann den Rhein entlang. Wieder folgen beschwerliche Fußmärsche - die Leute wollen sich in Bremen nach Übersee einschiffen. Schon auf der Mosel singen Josette, ihr Verehrer Nicolas Pallen und viele andere das Auswandererlied - nur der Großvater von Nicolas fürchtet, Brasilien nicht zu erreichen. Er träumt von einem "Land der schwarzen Berge", von dem er einmal gelesen hat. Die meisten Mitreisenden sind Analphabeten, so ungebildet und abergläubisch wie die Mehrzahl ihrer Zeitgenossen - nur eben nicht ganz so schicksalsergeben. Als fahrendes Volk sind sie den Sesshaften verdächtig.

    "In den Dörfern, die die Auswanderer passierten, stellten sich die Bewohner demonstrativ neben ihre Wäsche oder Kühe. Sie trauten diesen Leuten nicht, die alle paar Monate zu Hunderten vorbeizogen und von denen einige aussahen, als würden sie bereits an ihren Schuhsohlen kauen, um zu überleben. Wer wusste schon, was sie ausgefressen hatten. Milch konnten sie haben, auch Brot oder eine Schale Sauerkraut, für einen ordentlichen Preis, versteht sich. Aber nicht jeder wollte mit diesen Auswanderern Geschäfte machen. Zu oft hatten die Kühe in Krämpfen gelegen, kurz nachdem eine solche Menschenschlange vorbeigekrochen war. Josette merkte nicht mehr, dass sie ging. Eine Kraft ließ sie vorwärts eilen, ohne dass sie sich anstrengen musste. Vieles von dem, was Nicolas ihr erzählte, verstand sie nur halb. Seine Sätze führten Namen und Ausdrücke mit sich, die niemand in Wahl je benutzt hatte, jeder einzelne öffnete eine Weite, als schaue sie bereits über die Ebenen Brasiliens. Dachte sie an ihr Dorf zurück, tauchten nur noch die Dinge auf, die sie sich zuletzt eingeprägt hatte. Ansonsten schien ihr Gedächtnis sich langsam zu leeren, sich frei zu machen für die Zukunft, für jene Bilder, die sie erst sehen würde, morgen oder in einigen Jahren. Das Vergessen war eine Sense, und was gekappt aufs Feld fiel, wurde im gleichen Augenblick von unsichtbarer Hand aufgelesen und verschwand. Nur manchmal hörte sie ihren Großvater sagen: Aber vergiss mir den Kirchturm nicht."

    Die Aussiedler erfahren in Bremen, dass man in Brasilien keine Fremden mehr aufnehmen will. So bleibt ihnen, den Staatenlosen, nur die Rückkehr nach Luxemburg. In der Nähe ihres früheren Dorfes gründen sie eine erbärmliche Siedlung, die von den Nachbardörfern gerade eben geduldet wird. In diesem Landflecken, den die Leute aus den umliegenden Orten gehässig "Neu-Brasilien" nennen, herrscht das nackte Elend. Obwohl doch eigentlich mehr oder weniger wieder zu Hause, sind die enttäuschten Aussiedler schließlich "in der Fremde" gelandet.

    170 Jahre später, kurz vor der Wende zum 21. Jahrhundert. Tiha, ein Mädchen aus den "schwarzen Bergen", aus dem Montenegro, erreicht mit anderen Flüchtlingen das Großherzogtum Luxemburg. Ihr Vater Aleksandar floh vor dem Krieg in Jugoslawien, er wollte nicht zwangsrekrutiert werden. Jetzt wartet die Familie in einem Asylantenheim auf ihre Anerkennung, oder eben auf die Abschiebung. Das Verfahren zieht sich infolge der politischen Großwetterlage hin; Tiha geht zur Schule. Ihre Klassenkameradin Charlotte möchte sie kennenlernen, aber das erste Gespräch gestaltet sich nicht ganz einfach: Gegenseitiges Unverständnis und Diplomatie vermischen sich aufs Schönste.

    "Charlotte war neugierig auf Tiha, sie durfte nur nicht mit der Tür ins Haus fallen, sonst würde die sich ausgequetscht fühlen. Nach einer Weile fragte sie auf Luxemburgisch: "Gefällt dir Esch?" "Es hat viele Schilder", antwortete Tiha. "Viele Schilder?", erwiderte Charlotte. Tiha nickte, zeigte auf die dreieckige Verkehrsinsel hinter sich, auf der mehrere Hinweisschilder standen, eins für Radfahrer, zwei mit den Namen der Straßen, ein Baustellenschild mit Warnleuchte und noch einige mehr. 'Ist mir bislang nicht aufgefallen', sagte Charlotte. 'Ich habe noch nie eine Stadt gesehen, in der es so viele Schilder gibt', bekräftigte Tiha. 'Hast du schon viele Städte gesehen?', fragte Charlotte. Tiha schüttelte den Kopf. Charlotte wartete einen Moment, dann fragte sie: 'Habt ihr bei euch in Jugoslawien nichts zu essen?' Tiha lachte. 'Natürlich haben wir zu essen.' 'Was macht denn dein Vater?' 'Nichts.' 'Wie, nichts?' fragte Charlotte. 'Er geht spazieren', erwiderte Tiha. Entweder die will es nicht sagen oder die sind reich, dachte Charlotte, ärgerte sich."

    Trockene und dann wieder witzsprühende Dialoge, ob es nun um die Schicksale der Montenegriner "jetzt" oder um die der Luxemburger "einst" geht. Das Erzählen der historischen Begebenheiten birgt allerdings Risiken: Denn nur zu oft dient eine vergangene Epoche den Autoren als bloße farbenfrohe Kulisse für Figuren, deren Mentalität doch ganz der Wesensart heutiger Zeitgenossen angepasst wird. Armut und Not von einst wirken pittoresk; der Leser soll sich in wohligem Schauder dahintreiben lassen.

    Bei der Lektüre von Guy Helminger funktioniert das schon deshalb nicht, weil die Erzählstränge Vergangenheit - Gegenwart miteinander verflochten sind. Wo immer man den jeweiligen Gestalten verführerisch nah kommt, wird durch einen Zeitsprung Distanz hergestellt. Überhaupt versteht es Helminger, die Pole "Nähe" und "Distanz" in einer produktiven Spannung zu halten: Aus dem sicheren zeitlichen Abstand haben wir ja beispielsweise die Vorstellung, dass es "früher", wann immer man das ansetzen will, doch vergleichsweise gemächlich zugegangen sei; generationenlang habe sich nichts getan.

    Das mag "objektiv" zutreffen. Aber Helminger verlässt in einigen Szenen aus dem 19. Jahrhundert die distanzierte Position und malt sich die subjektive Befindlichkeit seiner Reisenden aus. Die fühlen sich manchmal von den aktuellen Entwicklungen bedroht. So hat es sich herumgesprochen, dass es erste Dampfschiffe gebe. Der Beruf des Treidlers könnte aussterben - soll man das wünschen? Denn sie selbst erleben ja, wie Schiffe die Mosel entlanggezogen, "getreidelt" werden, und dass Menschen damit, wie schlecht auch immer, ihren Lebensunterhalt verdienen. Ein Optimist in der Gruppe weist auf den neuen Beruf des "Ziegelbäckers" hin - Strohdächer werden allmählich von Ziegeldächern ersetzt. Es geht hier auch nicht nur um materielle Neuerungen; ein Alter fragt sich, wie die Gesellschaft ohne die "festlichen" öffentlichen Hinrichtungen zurechtkommen will, sie dienten in seinen Augen der allgemeinen Moral. Bevor der Leser sich jedoch in eine solche detailgesättigte und historisch fundierte Gesprächsszene zurücksinken lassen kann, macht Helminger einen Schnitt, und es geht mit den gegenwärtigen Schicksalen weiter.

    In Zeiten der Globalisierung ist "Flucht und Migration" ein häufig behandeltes Thema. So hat der italienische Journalist Fabrizio Gatti in seiner Reportage "Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa" Eindrücke von einer der berüchtigtsten Transitrouten von Afrika nach Europa geschildert. Und in Sherko Fatahs großem literarischen Roman mit dem Titel "Onkelchen" geht es um einen traumatisierten Iraker, der als Illegaler in Deutschland lebt.

    Man könnte vermuten, dass Guy Helminger nun ebenfalls tief in die oft grausamen Lebenserfahrungen heutiger Flüchtlinge eintaucht - aber eben das unterbleibt. Der aktuelle Strang seines Romans beginnt mit einer Demonstration von engagierten Luxemburgern gegen ein Abschiebungsverfahren, und parallel dazu erreicht ein Bus mit weiteren Flüchtlingen den Ort - eine Gruppe aus dem Montenegro, unter ihnen das Mädchen Tiha, ist am Ziel ihrer Reise. Was dann folgt, wirkt beinahe märchenhaft, wenig realtitätsnah: Tiha findet Anschluss an die Mitschülerin Charlotte, und die Familien schließen Freundschaft. Charlottes Eltern, eine toughe Gewerkschaftlerin und ein aufgeschlossener Künstler, sind beide nicht gerade durchschnittliche Zeitgenossen.

    Weiter: Ein Flüchtling wie Aleksandar wird sein geringes Taschengeld kaum für einen Kneipenbesuch ausgeben, bei dem er dann, sprachmächtig, wie er ist, gleich ins Gespräch mit dem ortsansässigen Künstler kommt. Seis drum. Helminger geht es offensichtlich nicht um eine verallgemeinerbare soziologische Analyse "der" Situation von Flüchtlingen in Luxemburg. Er skizziert, wie eine gelungene Integration in privatem Rahmen aussehen könnte. Der Roman endet zwar mit einem Scheitern, mit der Abschiebung der Montenegriner.

    Aber trotz dieses Scheiterns stellt sich die Frage nach dem Geschichtsbild des Romans. Die Luxemburger früher, deren Leben permanent bedroht war, und dagegen die Montenegriner von heute, denen das vorgekochte Essen im Asylantenheim nicht schmeckt und für die der einheimische Kochkäse zu den übelsten Erfahrungen gehört - dieser Vergleich kann Klischees von "Wohlstandsflüchtlingen" bedienen und im übrigen auf einen reichlich naiven Geschichtsoptimismus hindeuten. Danach ginge es mit der Menschheit kontinuierlich durch Nacht zum Licht. Helminger weiß, dass ein solches "per aspera ad astra" nicht verallgemeinerbar ist. Der Hintergrund seines Romans ist weniger politisch, als philosophisch und psychologisch motiviert. Wie viel "Fremde" trägt man immer mit sich selbst herum, und was bedeutet ein "Zuhause"? Und: Was macht ein gutes Leben aus?

    Guy Helminger verzichtet dankenswerterweise auf große Theorien. Er erzählt souverän, ökonomisch ausgewogen, und eigentlich müsste man sagen, in diesem Roman werden die Geschehnisse weniger mitgeteilt als vielmehr inszeniert - und zwar genießerisch. Man hat bei der Lektüre oft den Eindruck, bei einem springlebendigen Karneval dabei zu sein. Als das großherzogliche Fürstenpaar die Stadt Esch besucht, nehmen Einheimische und Migranten als Zuschauer an dem Spektakel teil. Tiha ist mit Charlottes Hilfe längst heimisch geworden. Sie kann Piercings beurteilen - nicht jeder Bauchnabel eignet sich dafür - und ist wie ihre Freundin bekennender Fan der Schockrock-Band Marilyn Manson, deren grausam-theateralische Liedzeilen durch den Text spuken:

    " 'Jetzt kommts', schrie Charlotte, nickte Tiha zu. Beide trugen Kopfhörer. In ihren tragbaren Geräten lief die gleiche CD, die sie versucht hatten, simultan zu starten. Eine ältere Dame fragte: 'Was hört ihr denn?' Die beiden antworteten nicht, weil Marilyn Manson gerade Gott befragte, ob er von seinem Baum steigen könne. König in der schwarzen Limousine, sang er. Die Köpfe von Tiha und Charlotte hoben und senkten sich im dunklen Takt der Stimme. Es war abgedreht, vor sich einige Männer in fröhlichen Uniformen Trompete, Saxophon, Klarinette spielen zu sehen, aber in den Ohren dieses kratzige Organ und düstere Gitarrenklänge zu haben. Fast wie ein Video. Neben Tiha rief ein Mann: 'Es lebe der Großherzog!' Auf der Alzettstraße zeigte eine Gruppe portugiesische Volkstänze. Wenn wir sowieso zurückmüssen, dachte Aleksandar, dann besser so schnell wie möglich. Der Großherzog freute sich, strahlte übers ganze Gesicht. Sein Volk war guter Dinge. Marilyn Manson rief: Ich bin nicht der Sklave eines Gottes, der nicht existiert. Jovan sagte, 'wenn es ums Nationale geht, ticken die hier auch nicht anders als bei uns.' Alexsandar sagte: 'Hast du dir überlegt, was du machst, wenn du wieder in Berane sitzt?'"

    Die Regenschirme auf der anderen Straßenseite schwammen wellenartig die Hausfassaden entlang. Jovan nieste, blickte am Großherzog vorbei, hielt nach dem Waffelstand Ausschau, sah ihn aber nicht. 'Die Zeile find ich am besten', schrie Charlotte. Die Großherzogin umarmte ein kleines Kind. Die Musikkapelle spielte ein Volkslied. Marilyn Manson sang dazu: Wenn du stirbst und niemand schaut zu, dann sinken deine Einschaltquoten. Der Nieselregen blieb. So standen sie herum. 'Was passiert jetzt noch?', fragte Aleksandar. 'Meine Zehen sind erfroren.' Jovan hob die Schultern, ließ sie sacken, bevor er erwiderte: 'Warst du deinem Herrscher je so nahe?' 'Nee', antwortete Alexsandar, 'und ich habe es bislang nicht vermisst.' Jemand rief: 'Oh, Portugal.' Alexsandar tippte seiner Tochter auf die Schulter. 'Was ist?' Tiha zog die Kopfhörer einen Zentimeter von den Ohren weg. Jovan hörte es scheppern. Wenn Gott lebte, würde er dich sowieso hassen. 'Gute CD, oder?' fragte Aleksandar. Charlotte ließ ihr schwarz umrandetes Auge teleskopartig zwischen ihrer Freundin und dem Vater hin und her reisen. 'Klar', sagte Tiha.

    Die Gleichzeitigkeiten und Widersprüche, die hier mithilfe einer rasanten Schnitttechnik zur Sprache kommen, geben dem Roman seinen Schwung, seine Lebendigkeit. Helminger stellt seine Charaktere vor allem über ihr Verhalten und ihre Sprache dar; dabei entstehen Porträts, Schnapschüsse, deren Aussagekraft unmittelbar einleuchtet. Denn der Autor zeichnet die einzelnen Figuren selbst auch nicht als einheitliche, in sich stimmige Persönlichkeiten - hier hat jeder seine skurile Facette, seinen Eigensinn, jeder wird hier zur Überraschung.

    Und schließlich findet sich noch eine kunstvolle kompositorische Volte, die mehr angedeutet als ausgeführt wird, ein Blick in die vollendete Vergangenheit, ins Futur zwei: Die glücklosen Auswanderer von Anfang des 19. Jahrhunderts werden von Luxemburg aus noch einmal losgezogen sein, um ein "neues Neu-Brasilien" zu gründen - und zwar in Montenegro. Denn "Brasilien ist jeden Tag woanders", heißt es zuletzt.

    Ein harmonisches Buch? Ja - im guten Sinn. Denn es muss nicht immer und ausschließlich das zornige Erzählen von Flüchtlingsschicksalen sein, das Empathie weckt. "Neu-Brasilien", das ist ein ausgewogener und dabei klangvoller, vielstimmiger Roman.

    Guy Helminger: Neubrasilien. Roman. Eichborn-Verlag, 288 Seiten, 19, 95 Euro.