"Wir sehen ja Stammheim jetzt von der sogenannten Hofseite. Also hinter der Mauer laufen ja alle Gefangenen."
Im vergangenen Jahr lief Joachim G. jeden Tag einmal im Hof auf und ab. Über ein halbes Jahr später kommt der athletisch wirkende Mann mit den weißen Haaren noch einmal an die Mauer, diesmal auf der Seite der Freiheit. Von August bis Oktober 2009, drei lange Monate, saß er unschuldig in Untersuchungshaft im Bau I. Einst war Bau I besser bekannt als Hochsicherheitstrakt; das Gefängnis wurde für RAF Häftlinge gebaut:
"Dieses Haus ist schon so gestaltet, dass der Blick nach außen, von den Zellen nach außen, eingeschränkt ist."
Joachim G steht vor der über fünf Meter hohen Mauer und schaut nachdenklich nach oben, zu den vergitterten Fenstern. Was im August vergangenen Jahres passierte, hat ihn aus der Bahn geworfen: An einem Sommermorgen stehen zwei Beamte in Zivil in seiner Boutique in einem Vorort von Stuttgart. Sie nehmen den 58-Jährigen fest. Er habe ein Mädchen, das er nur flüchtig kennt, in seinem Laden vergewaltigt. So steht es im Haftbefehl. Joachim G. wird dem Haftrichter vorgeführt und gleich darauf in Handschellen in das Gefängnis nach Stuttgart – Stammheim gebracht.
"Sie geben ihre Privatbekleidung ab und ziehen einen Overall an. Wenn sie den Overall haben, dann bekommen sie irgendwann einmal eine Jeans, die eine Jeans sein soll, es wird geflickt ohne Ende."
Er darf wählen: Raucher oder Nichtraucherzelle. Herr G ist Nichtraucher und kommt in eine Vierbettzelle.
"Ich für mich habe sofort einen Fensterplatz gesucht, um immer einen Kontakt nach außen zu haben, Richtung Frischluft zu haben."
Die Wände sind mit Fäkalien beschmiert. In der Zelle stinkt es:
"Braune Kacheln, quer gesetzt, vom Boden bis an die Decke hoch. Es ist alles versifft, Toilettenanlagen sind grundsätzlich verschmutzt, nicht so wie man es von manchen Raststätten kennt, die sind noch sauber. Es ist verwahrlost, es ist eine Mülldeponie."
Er strukturiert seinen Tag: Aufstehen, Hofgang, lesen, schreiben, schlafen:
"Ich habe mir ein Ritual zurechtgelegt, nachdem habe ich den Tag gelebt."
"Ich habe den Spruch noch in den Ohren von dem Richter, die Haft ist ja dazu da, dass man den Menschen die Gelegenheit gibt über ihre Tat nachzudenken. Also für die war es klar: Ich war es."
Doch Joachim G. war es nicht. Draußen ermittelt die Polizei, fragt Nachbarn und Bekannte des Mannes. Am vermeintlichen Tatort, der Boutique von Joachim G., wird nun genauer nachgeschaut. Die Angaben des anklagenden Mädchens erweisen sich als haltlos. Kein Detail – von dem Kind im Zusammenhang mit der vermeintlichen Tat beschrieben – findet sich in der Boutique. Herr G. in seiner Zelle erfährt von alledem nichts:
Eine Psychologin erstellt ein Gutachten über das mittlerweile zehnjährige Mädchen, das den Geschäftsmann hinter Gittern gebracht hatte. Joachim G. kämpft indes im früheren Stammheimer Hochsicherheitstrakt gegen das Gefühl der Resignation:
"Sie werden hier drin geknickt. Dieser Bau ist für Terroristen gebaut, aber nicht für den normalen Straffälligen. Der normale Täter hat hier drin nichts zu suchen."
Joachim G. steht vor dem neugebauten Eingangsportal des Stammheimer Gefängnisses. Dort ist er im Oktober vergangenen Jahres an einem Abend herausgekommen. Von einem Tag auf den anderen entlassen. Mittlerweile stand fest: Das Mädchen hatte die Vergewaltigung frei erfunden. Beflügelt wurde ihre Fantasie wohl durch sogenannte Fernseh- Gerichtsshows. In der Urteilsbegründung wird die psychologische Gutachterin zitiert:
Das Mädchen sei zwar deutlich behindert, verfüge aber über eine dem Grad ihrer geistigen Behinderung nicht entsprechende gute Sprachfähigkeit.
Und weiter heißt es:
Geistig behinderte Personen fühlten sich oft sozial ausgeschlossen, kapselten sich ab und flüchteten, um Entlastung zu finden, in eine Scheinwelt.
Im März dieses Jahres findet die Verhandlung statt. Joachim G wird vom Landgericht Stuttgart freigesprochen. Die Staatsanwältin entschuldigt sich bei ihm. Auch das Mädchen hat einen Entschuldigungsbrief geschrieben. Joachim G. ist nun Opfer statt Täter. Doch das interessiert nicht mehr. 25 Euro bekommt Joachim G für jeden Tag im Gefängnis, abzüglich Verpflegungskosten. Sein Laden war während seiner Haftzeit geschlossen, der eine oder andere Kunde hat mitbekommen, wo er war. Das kostet den Geschäftsmann seine Existenz:
"Meine ganzen Umsatzausfälle, alle Wiederbeschaffungskosten, der schlechte Ruf, den können sie ja gar nicht herstellen. Da brauchen sie ja Werbematerial, das geht ja in die Zigtausende, das wird ihnen nicht bezahlt."
Joachim G. lacht oft und doch ist zu spüren, dass er manchmal am liebsten weinen möchte. Doch der Geschäftsmann schildert seine Erlebnisse konzentriert und sachlich, bis zum Schluss. Er bleibt stehen, schaut zu Bau I und erzählt dann, wie er noch im Gefängnis sitzend nach einem Psychologen verlangte:
"Was ist an mir, dass man mir solch eine Straftat anhängen möchte? Mit dieser Frage habe ich den Psychologen konfrontiert."
Der Psychologe hat keine Antwort darauf und Joachim G. weiß, dass es darauf keine Antwort geben wird. Selbstzweifel beherrschen bisweilen die Gedanken des 58-Jährigen. Sinngemäß sagt Joachim G. dann, die Angst anders zu sein, sei wie ein Gefängnis ohne Gitterstäbe.
Im vergangenen Jahr lief Joachim G. jeden Tag einmal im Hof auf und ab. Über ein halbes Jahr später kommt der athletisch wirkende Mann mit den weißen Haaren noch einmal an die Mauer, diesmal auf der Seite der Freiheit. Von August bis Oktober 2009, drei lange Monate, saß er unschuldig in Untersuchungshaft im Bau I. Einst war Bau I besser bekannt als Hochsicherheitstrakt; das Gefängnis wurde für RAF Häftlinge gebaut:
"Dieses Haus ist schon so gestaltet, dass der Blick nach außen, von den Zellen nach außen, eingeschränkt ist."
Joachim G steht vor der über fünf Meter hohen Mauer und schaut nachdenklich nach oben, zu den vergitterten Fenstern. Was im August vergangenen Jahres passierte, hat ihn aus der Bahn geworfen: An einem Sommermorgen stehen zwei Beamte in Zivil in seiner Boutique in einem Vorort von Stuttgart. Sie nehmen den 58-Jährigen fest. Er habe ein Mädchen, das er nur flüchtig kennt, in seinem Laden vergewaltigt. So steht es im Haftbefehl. Joachim G. wird dem Haftrichter vorgeführt und gleich darauf in Handschellen in das Gefängnis nach Stuttgart – Stammheim gebracht.
"Sie geben ihre Privatbekleidung ab und ziehen einen Overall an. Wenn sie den Overall haben, dann bekommen sie irgendwann einmal eine Jeans, die eine Jeans sein soll, es wird geflickt ohne Ende."
Er darf wählen: Raucher oder Nichtraucherzelle. Herr G ist Nichtraucher und kommt in eine Vierbettzelle.
"Ich für mich habe sofort einen Fensterplatz gesucht, um immer einen Kontakt nach außen zu haben, Richtung Frischluft zu haben."
Die Wände sind mit Fäkalien beschmiert. In der Zelle stinkt es:
"Braune Kacheln, quer gesetzt, vom Boden bis an die Decke hoch. Es ist alles versifft, Toilettenanlagen sind grundsätzlich verschmutzt, nicht so wie man es von manchen Raststätten kennt, die sind noch sauber. Es ist verwahrlost, es ist eine Mülldeponie."
Er strukturiert seinen Tag: Aufstehen, Hofgang, lesen, schreiben, schlafen:
"Ich habe mir ein Ritual zurechtgelegt, nachdem habe ich den Tag gelebt."
"Ich habe den Spruch noch in den Ohren von dem Richter, die Haft ist ja dazu da, dass man den Menschen die Gelegenheit gibt über ihre Tat nachzudenken. Also für die war es klar: Ich war es."
Doch Joachim G. war es nicht. Draußen ermittelt die Polizei, fragt Nachbarn und Bekannte des Mannes. Am vermeintlichen Tatort, der Boutique von Joachim G., wird nun genauer nachgeschaut. Die Angaben des anklagenden Mädchens erweisen sich als haltlos. Kein Detail – von dem Kind im Zusammenhang mit der vermeintlichen Tat beschrieben – findet sich in der Boutique. Herr G. in seiner Zelle erfährt von alledem nichts:
Eine Psychologin erstellt ein Gutachten über das mittlerweile zehnjährige Mädchen, das den Geschäftsmann hinter Gittern gebracht hatte. Joachim G. kämpft indes im früheren Stammheimer Hochsicherheitstrakt gegen das Gefühl der Resignation:
"Sie werden hier drin geknickt. Dieser Bau ist für Terroristen gebaut, aber nicht für den normalen Straffälligen. Der normale Täter hat hier drin nichts zu suchen."
Joachim G. steht vor dem neugebauten Eingangsportal des Stammheimer Gefängnisses. Dort ist er im Oktober vergangenen Jahres an einem Abend herausgekommen. Von einem Tag auf den anderen entlassen. Mittlerweile stand fest: Das Mädchen hatte die Vergewaltigung frei erfunden. Beflügelt wurde ihre Fantasie wohl durch sogenannte Fernseh- Gerichtsshows. In der Urteilsbegründung wird die psychologische Gutachterin zitiert:
Das Mädchen sei zwar deutlich behindert, verfüge aber über eine dem Grad ihrer geistigen Behinderung nicht entsprechende gute Sprachfähigkeit.
Und weiter heißt es:
Geistig behinderte Personen fühlten sich oft sozial ausgeschlossen, kapselten sich ab und flüchteten, um Entlastung zu finden, in eine Scheinwelt.
Im März dieses Jahres findet die Verhandlung statt. Joachim G wird vom Landgericht Stuttgart freigesprochen. Die Staatsanwältin entschuldigt sich bei ihm. Auch das Mädchen hat einen Entschuldigungsbrief geschrieben. Joachim G. ist nun Opfer statt Täter. Doch das interessiert nicht mehr. 25 Euro bekommt Joachim G für jeden Tag im Gefängnis, abzüglich Verpflegungskosten. Sein Laden war während seiner Haftzeit geschlossen, der eine oder andere Kunde hat mitbekommen, wo er war. Das kostet den Geschäftsmann seine Existenz:
"Meine ganzen Umsatzausfälle, alle Wiederbeschaffungskosten, der schlechte Ruf, den können sie ja gar nicht herstellen. Da brauchen sie ja Werbematerial, das geht ja in die Zigtausende, das wird ihnen nicht bezahlt."
Joachim G. lacht oft und doch ist zu spüren, dass er manchmal am liebsten weinen möchte. Doch der Geschäftsmann schildert seine Erlebnisse konzentriert und sachlich, bis zum Schluss. Er bleibt stehen, schaut zu Bau I und erzählt dann, wie er noch im Gefängnis sitzend nach einem Psychologen verlangte:
"Was ist an mir, dass man mir solch eine Straftat anhängen möchte? Mit dieser Frage habe ich den Psychologen konfrontiert."
Der Psychologe hat keine Antwort darauf und Joachim G. weiß, dass es darauf keine Antwort geben wird. Selbstzweifel beherrschen bisweilen die Gedanken des 58-Jährigen. Sinngemäß sagt Joachim G. dann, die Angst anders zu sein, sei wie ein Gefängnis ohne Gitterstäbe.