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Die verlorene Partitur

"Man müßte Klavierspielen können!" - das haben sich schon viele gewünscht; und nicht allen ging es dabei um die Befriedigung einer musikalischen Sehnsucht! Gar manche trachteten nur danach, mit pianistischer Raffinesse ihr Sexualleben zu fördern! - Die Lust ist auch dem Ich-Erzähler des Romans "Die verlorene Partitur" von Roberto Cotroneo nicht fremd. Dabei ist er alles andere, als ein steiffingriger Dilettant. Er greift genialisch in die Tasten. Dennoch gesteht auch er, das Klavierspielen einst als Mittel der Verführung eingesetzt zu haben. Der weltberühmte Pianist überragt gleichwohl die triebverstrickten Durchschnittsexistenzen. Er verschmäht zwar nicht die Kommunikation der Körper; aber seines sublimationsbewährten Erachtens ist ihr die Wollust der Ton-Kunst mindestens ebenbürtig. Vorausgesetzt, man versteht, wie er, sein Instrument zu bearbeiten - ihm durch den einfühlenden Anschlag den seelenerhebenden Klang zu entlocken. Schon in jungen Jahren, erinnert sich Roberto Cotroneos Virtuose, hat er beharrlich wie kein anderer, um technische Meisterschaft gerungen:

Gerhard Mahlberg |
    "Seit damals habe ich mit meinem Perfektionismus gekämpft, und je strenger ich beim Ausfeilen meiner Noten, meiner Töne und Halbtöne war - und folglich meiner Überzeugungen und meiner Sicht der Welt und des Lebens - je mehr ich darauf achtete, daß der Resonanzboden einen Klang zurückgab, den ich als perfekt ansehen konnte, desto mehr wußte ich, daß dies ein Weg war, der mich einsam und immer einsamer machen würde. Die gewollte Perfektion, die obsessive Beachtung des allerkleinsten Details führt zur Vereinsamung."

    Der aus Italien gebürtige, einer wohlhabenden Familie entstammende Pianist war bereit, diesen Preis zu zahlen. Auch wenn er schließlich mit fast niemandem mehr über das, was ihm einzig wichtig war, die Musik, reden konnte. Zwar will weiterhin jeder seinem Spiel lauschen; aber keiner scheint mehr die Nuancen wahrzunehmen, die er hört und in seine Interpretation legt. Unverstanden, flieht er die Öffentlichkeit. Er gibt keine Konzerte mehr und verweigert sich Plattenaufnahmen. Das verschafft ihm den Ruf eines Exzentrikers. Manche halten ihn sogar für einen elitären Reaktionär. Aber hat sich dieser Schwierige nicht ein Empfindungsvermögen bewahrt, das anderen abgeht? Seine künstlerische Vorliebe gilt der Romantik. Roberto Cotroneos Ausnahmepianist fragt sich, ob er nicht als "welker Nachklapp, der keine Fortsetzung haben wird", erlebt, wie ein Zeitalter endet. Weil die Masse der Zeitgenossen anderen Imperativen folgt, geht der sensible Künstler auf Distanz:

    "Die Gegenwart ist geschwätzig: sinnloses Gerede, lauter Dinge, die sich in nichts auflösen und von denen man schon in naher Zukunft nie gehört haben wird. Auch die Musik hat dasselbe Schicksal erlitten; nie hat es eine Epoche gegeben, die so mit Musik überflutet war, überall hört man Musik, auf der Straße, im Laden, im Flugzeug, sogar beim Zahnarzt. Musik aller Art, manchmal die sogenannte "klassische", meistens moderne Rhythmen und Schlager. Seit einigen Jahren gibt es auch Kopfhörer, damit man Musik überall hören kann, wo man will, sogar auf dem Gipfel der Jungfrau. Man kann die Stille an jedem beliebigen Ort durchbrechen, und doch hat man der Musik noch nie so wenig zugehört wie heute. Es ist, wie wenn Lichtsignale von tausend Leuchttürmen blinkten, ohne daß ein einziges Schiff da wäre, das sie auffangen könnte, um sich von ihnen leiten zu lassen. Alles geht durch die Trommelfelle, ohne daß eine Erinnerung daran zurückbleibt."

    Der altgewordene, weltverdrossene Künstler lebt im freiwilligen Exil in einem engen Schweizer Alpental, wie er selbst urteilt, "in die Zange genommen zwischen Frankreich und Italien." Dort langweilt er sich auf höchstem Niveau. Anstelle von Memoiren, die keiner von ihm erwarten darf, versucht der radikale Klangästhet, auch wenn es wahrscheinlich keinem fruchtet, Entscheidendes mitzuteilen: wie sich "an einem Junitag vor nicht ganz zwanzig Jahren" in Paris sein Leben verändert hat! Damals bot ihm ein obskurer russischer Flüchtling ein unbekanntes Originalmanuskript von Frédéric Chopin zum Kauf an, für Kenner eine Sensation: eine Umarbeitung der Coda der vierten Ballade Opus 52 in f-moll. Die war schon in ihrer ersten Fassung "presto con fuoco" zu intonieren, ein kaum überbietbares Bravourstück. Jetzt aber scheint ihr Effekt noch gesteigert! Der große Virtuose soll von dem Werk nie mehr loskommen. Für ihn ist diese Partitur die Herausforderung an sich! Denn wo, wenn nicht hier, hat er es mit einer "Handschrift der Leidenschaften" zu tun? Dafür spricht nicht nur die extreme, fast unspielbare Tonsetzung Chopins, der längst ein todkranker Mann war, als er das Ende der Ballade umkomponierte. Auch die Abänderung ihrer Widmung an Solange Dudevant, also ausgerechnet die Tochter seiner Lebensgefährtin George Sand, beweist dem besessenen Pianisten zufolge, daß man es - bei diesem Coda-Fake - mit dem "Leidenschafts-Testament" Chopins zu tun hat! Roberto Cotroneo duldet keinen Zweifel, daß gerade sein Romanheld als der einzig befugte Interpret des bis dato verschollenen Chopin-Autographen anzusehen ist. Der sieht das selber auch so. Indessen ist dem Virtuosen klar, daß sein geliebtes, gehaßtes Instrument vielleicht weniger als jedes andere geeignet ist, sich einer "Handschrift der Leidenschaften" zu ergeben. Doch der Meister hat Grund zur Klage:

    "Wir Pianisten sind vom Klang getrennt, wir haben keine Rohrblätter, die vibrieren, keine Saiten, die in die Fingerkuppen schneiden, sondern nur Hebel und starre Tasten, angenehm zu berühren, oft aus Elfenbein. Wir sind als einzige von der Musik getrennt, wir haben keine direkte körperliche Verbindung zu ihr, und jedes g, jedes c, jedes d oder fis hat immer den gleichen Klang, mal lauter, mal leiser, mal kaum wahrnehmbar, verstärkt durch das rechte Pedal, gedämpft durch das linke, aber stets kommt nur jenes Timbre heraus und nichts anderes."

    Trotz dieser vom Instrument auferlegten Beschränkung, gibt sich Roberto Cotroneos begnadeter Pianist einer doppelten Hoffnung hin: daß sich ihm dank der bislang unbekannten Ton-Sprache der spätentdeckten Coda der f-moll-Ballade nicht nur sein eigenes Leben in neuem Licht darstellt, sondern auch die künstlerische Existenz von Frédéric Chopin selbst. Ohne ihn herabsetzen zu wollen, bezeichnet er diesen als "Genie der Unvollkommenheit" - und ebendiese Bewertung läßt erkennen, warum der nachgeborene Meisterpianist sich gerade ihm so sehr verbunden fühlt! Verlangt nicht Chopins Notenvorgabe dem Interpreten mehr ab als die anderer Komponisten? Ist sie nicht unabweislich auf kongeniale Ergänzung angelegt? Zumindest Cotroneos Romanpianist behauptet, daß man Chopins Werk "ständig mit Teilen des eigenen Lebens, mit Intervallen der eigenen Sinnlichkeit vervollständigen muß." - Es würde das Lesevergnügen stören, verriete man weitere Einzelheiten des Romanplots. Darin sind, erzählerisch angenehm verpackt, Elemente des herkömmlichen, beinahe antiquiert anmutenden Künstlerromans mit solchen des postmodernen Kolportageromans verwoben, eine Mixtur, die Roberto Cotroneo angereichert hat mit einem Schuß Erotik, - wobei er es auch nicht versäumt hat, dem Bildungsanspruch der Leserschaft Rechnung zu tragen: er wartet mit zum Teil sehr anschaulichen und treffenden Einlassungen zur Musikhistorie und zur pianistischen Ästhetik auf. Daß der 1961 geborene Autor nicht nur Philosophie, sondern auch einige Jahre Klavier studiert hat, ist ihm hierbei zugute gekommen.

    Roberto Cotroneo verhehlt nicht, daß sein literarisches Vorbild Umberto Eco heißt. Aus dessen kühl konstruiertem Erfolgsroman "Der Name der Rose" hat er manche Lehre gezogen. Etwas anderes freilich legt Roberto Cotroneo nicht offen - daß sein Romanpianist im wirklichen Leben ein legendenumranktes Vorbild hatte: Arturo Benedetti Michelangi. 1920 nahe Brescia geboren, starb dieser 1995 in Lugano. Selbstverständlich ist Roberto Cotroneos Buch keine klammheimliche Biographie des großen Pianisten. Aber die Romanfiktion verdankt seiner Gestalt nicht wenig. Dies sollte für alle Musikkenner und im besonderen die Bewunderer Benedetti Michelangis, der für seine Empfindsamkeit ebenso berühmt war wie für seine Eigenwilligkeit berüchtigt, einen nicht geringen Reiz des Romans "Die verlorene Partitur" ausmachen. - Unbeantwortet bleibt darin, ob es so etwas, wie eine Handschrift der Leidenschaften tatsächlich gibt, - auch wenn sich das ein jeder wünscht und von diesem Wunsch nie loskommt! Gerade darum ist ein Einwand gegen Roberto Cotroneos, von Burkhart Kroeber mit unangestrengter Könnerschaft ins Deutsche gebrachtes Buch vorzubringen: Von seiner Schreibweise ist der Roman "Die verlorene Partitur" selbst weit entfernt, eine "Handschrift der Leidenschaften" zu liefern. Das Wagnis, von dem Roberto Cotroneo am Beispiel einer einzigartigen Musik spricht, ist er beim Schreiben nicht eingegangen! Das mag man bedauern; doch ist aus der Glätte des Stils nicht zu folgern, daß der Roman dem Leser nur ein schales Vergnügen bereitet. Man ist schon schlimmer unterhalten worden, wenn Autoren auf Verkaufsziffern schielten.