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Die Verortung der Kultur

Dichter kämpfen mit Worten. Mit ihnen erschließen sie ganze Welten, stoßen vor in unbekanntes Terrain. Spätestens seit Edward Said 1977 sein berühmtes "Orientalismus"-Buch veröffentlichte, darf man dies auch wörtlich nehmen. In seiner Studie, einem Hauptwerk der sogenannten "postcolonial studies", zeigte der palästinensisch-nordamerikanische Literaturwissenschaftler, wie die europäischen Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts ihre Eroberungszüge nicht nur als militärisches, sondern auch und vor allem als kulturelles, und das hieß schon damals: medial inszeniertes Abenteuer erlebten. Mit den unterworfenen Ländern machten sich die meisten Europäer über die Mittel der Kunst vertraut: Aus Romanen und Traktaten zogen sie ihr Wissen über die frisch eroberten Gebiete, in Oper und Theater stimmten sie sich ein auf die maßlosen Ansprüche imperialistischer Realpolitik.

Kersten Knipp |
    Dass diese vorgestellten Welten mit der kolonialen Wirklichkeit wenig zu tun hatten, war schon bei Said zu lesen. Aber erst sein indisch-nordamerikanischer Kollege Homi K. Bhabha zeigte in der jetzt auch auf deutsch erschienen Essaysammlung "Die Verortung der Kultur", welch weitreichende historische Folgen der ungenügende hermeneutische Zugriff auf die unterworfenen Länder hatte. Indem sie die kommunikativen Eigenarten des kolonialen Kulturkontakts verkannten, so Bhabhas These, schufen die Eroberer mit dem neuen Imperium zugleich auch die Voraussetzungen für dessen spätere Auflösung. In der Märchenwelt des Orients zerrannen den Eroberern ihre festgefügten Anschauungen, vergeblich kämpften die imperialistischen Vordenker um die Deutungshoheit über die exotischen Land- und Menschenmassen. Das schönste Zitat für den großen Graben zwischen den Kulturen findet Bhabha in Edward Morgan Forsters Roman "Passage to India":

    Wie kann das Bewusstsein von einem solchen Land je Besitz ergreifen? Ganze Generationen fremder Eroberer haben es immer wieder versucht, aber sie blieben Verbannte. Die bedeutsamen Städte, die sie selbst angelegt hatten, waren eben nur Zufluchtsorte, ihre inneren Zwistigkeiten nur die Fiebersymptome von Menschen, die nicht mehr heimzufinden vermochten. ... Aus Hunderten von Mündern, aus Gegenständen rief Indien dem Wanderer zu: "Komm!" Aber zu wem, zu was? Indien hat es niemals erklärt. Es war keine Verheißung - es war eben nur ein Anruf.

    In dieser Fremde, so Bhabha, verformte sich auch der Geist der britischen Kultur. Der ließ sich schon deshalb nicht maßstabsgetreu auf die Kolonie übertragen, weil er die Fundamente der imperialen Herrschaft unweigerlich ins Wanken gebracht hätten. Wie etwa sollte man das hohe Gut des politischen Liberalismus nach Indien importieren, ohne dass sich die Kolonisierten in dessen Namen gegen die fremde Herrschaft erheben würden? Das British Empire inzenierte in Indien deshalb eine Politik des Als-ob, eine Politik der leeren Gesten, die nach und nach auch für Briten selbst jegliche Autorität verlor. Am Ende löste sie sich ganz auf - und schenkte den Indern um Mitternacht die Freiheit.

    Aus dieser imperialistischen Fabel zieht Bhabha weitreichende Bedenken gegen den von ihm als "ethnozentristisch" gebrandmarkten Glauben, dass regionale Kulturen uneingeschränkt übersetzbar seien. Natürlich: Kulturen treten miteinander in Kontakt, und darüber setzen sie Neues in die Welt. Aber diese Produktivität entfachen sie nicht dadurch, dass sie sich unter der Regie einer universalen Vernunft - für Bhabha ein lächerlicher Mythos längst vergangener Zeiten - dialektisch einander annäherten; im Gegenteil, sie sind kreativ, weil sie einander nach Kräften aushöhlen.

    Auf die globalen Migrationsprozesse der Gegenwart übertragen heißt das: Die Zuwanderer passen sich den Gepflogenheiten der Gastländer zwar an. Aber sie reproduzieren sie nicht einfach, sondern betrachten sie durch das Muster ihrer herkömmlichen Weltbilder und laden sie so mit neuer Bedeutung auf. Unter der Oberfläche scheinbar kontinuierlicher Kulturphänomene entwickelt sich so eine nicht aufzuhaltende Dynamik von Verschiebungen, Revisionen und Neuinterpretationen bestehender Muster, deren verwandelnder Wirkung sich auch die herkömmlichen Bewohner der jeweiligen Kulturlandschaften nicht entziehen können. Unter der Hand ändert sich auch ihr eigener Wahrnehmungs- und Bewertungsmechanismus: Kultur - verstanden als Summe sämtlicher Lebenspraktiken - ändert sich unablässig - ohne dass sie sich jemals in einem ursprünglichen, sozusagen "reinen", unbefleckten Zustand befunden hätte. Denn Kulturkontakte gibt es, seitdem die Menschen die Erde bevölkern.

    Die Sprache, in der Bhabha derartige Prozesse beschreibt, ist allerdings ausgesprochen hermetisch. Das mag historisch begründet sein. Im englischen Original nämlich erschienen das Buch bereits 1994; einige der Essays wurden bereits in der ersten Hälfte der 80er Jahre veröffentlicht - jener Zeit, in der Poststrukturalismus und Dekonstruktion nicht nur die Logik, sondern auch den Stil geisteswissenschaftliche Denken dominierten. So heisst es über den unmerklichen Zusammenbruch kultureller Gegensätze:

    Der koloniale Signifikant schafft seine Strategien der Differenzierung gerade im artikulatorischen Akt der Spaltung, und diese Strategien erzeugen eine Unentscheidbarkeit zwischen Entgegensetzungen und Gegenüberstellungen. ... Statt sich überkreuzender Referenz finden wir ein effektives, produktives Überschneiden quer über Orte sozialer Signifikanz hinweg, das den dialektischen, disziplinären Sinn kultureller Referenz und Relevanz auslöscht.

    Zuletzt findet sich die Kultur vom Kopf auf die Füße gestellt, entwickelt, wie es heißt, eine "Signifikation der Differenz", ist, Zitat, "weder das eine noch das andere". Genau deshalb aber präsentiert dieses Modell in einer täglich zusammenwachsenden und darum enorm konfliktträchtigen Welt die einzig akzeptable, weil nicht auf Aus- und Abgrenzung ausgerichtete Form kulturellen Selbstverständnisses. Bleibt zu hoffen, dass Bhabhas Anregungen tragen dazu bei, den Weg in die Migrantengesellschaft etwas weniger beschwerlich zu machen.