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Die verschiedenen Sprachen der Wissenschaft

Auf einer Tagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik sprechen Sprachwissenschaftler über die Sprache und ihre Funktion. Auch aktuelle Ereignisse - wie die Sarrazin-Debatte - werden hier aufgegriffen.

Von Christian Forberg | 23.09.2010
    Sächsisch war einst eine attraktive deutsche Sprache. Den jungen Goethe zog sie nach Leipzig an die hiesige Universität. Genau hier fand die Jahrestagung der Gesellschaft für angewandte Linguistik statt. Ihr Motto war sehr weit gespannt: "Sprachräume" lautete es. Der sächsische Sprachraum spielte dabei nur eingeschränkt eine Rolle:

    "Im Caféhaus ist das wunderbar, zu Hause ist das wunderbar, auf der Straße zumindest in "Leibzsch" oder Dresden auch ..."

    ... aber nicht mehr in der Wissenschaft, sagt Gerd Antos, Germanist aus dem benachbarten Halle. Womit das Sächsische nicht allein stehe.

    "Wir haben heute schon das Problem, dass etablierte Sprachen wie Niederländisch oder Dänisch praktisch keine Wissenschaftssprachen mehr sind, also als solche nicht mehr anerkannt werden. Man redet miteinander in der Pause – früher manchmal auf Deutsch – heute nur Englisch. Vor dieser Herausforderung stehen wir ja alle miteinander."

    Paradox scheint, dass Sprachräume zugleich verengt werden, wenn Wissenschaftszweige unter sich sind. Für ein Beispiel sorgte Professor Antos selbst in seiner Präsentation. Der Textbaustein lautete:

    "Metaphorisiert man diese areal-diatopischen, sozial-diastrischen und medial-/funktional-diaphasischen Sprach- und Kommunikationsräume als sich sphärisch überlagernde Sprachräume, dann stellt sich die Frage nach der Tragfähigkeit von Raum- und Sphären-Konzeptualisierungen in der Linguistik."

    Zunächst stellt sich die Frage nach der Verständlichkeit für jene, die nicht in diesem Sprachraum zu Hause sind.

    "Richtig. Die Linguisten, sagt man uns nach, sind nach den Soziologen die Schlimmsten. Wenn man boshaft wäre, würde man sagen: Überall da, wo es keine ganz klare Fachsprache gibt, ist der Drang, letztlich auch über Imponiergehabe so zu tun, als ob man in einer Fachsprache sprechen müsse, besonders groß."

    Andererseits vereinfacht die gemeinsame Sprache die Kommunikation, wenn man nur unter sich bleibt. Wird aber der Sprachraum in die Öffentlichkeit überschritten, so Gerd Antos, habe das Prinzip der allgemeinen Verständlichkeit zu herrschen. Weshalb er und andere Kollegen seit Kurzem Gesetzestexte bearbeiten, die meist in juristischen Sprachräumen verfasst werden.
    Natürlich war die Tagung keine reine Innen-Schau. Medienwissenschaftler um Hans-Jürgen Bucher aus Trier hatten jenen Sprachraum analysiert, der bei Vorträgen mittels Power-Point-Präsentationen entsteht, wo gesprochenes und geschriebenes Wort mit Bildern und Animationen gemischt wird. Abgesehen von den Geistes- und Sozialwissenschaften, sagt Professor Bucher. Da herrsche noch immer die "Bleiwüste", das an die Wand geworfene geschriebene und parallel vorgetragene Wort vor.

    "Es ist eine neue Kulturtechnik, die da Eingang gefunden hat in die Wissenschaftskommunikation. Und wie das ist mit neuen Kulturtechniken – sie müssen erstmal gelernt werden und es müssen sich Kompetenzen ausbilden. Und da kann man – glaube ich – deutlich sagen, dass in der naturwissenschaftlichen Kommunikation Visualisierungen - denken Sie nur an die Experimente, die vorgeführt und dann kommentiert werden-, dass da der Umgang mit visuellen Modalitäten schon bedeutend besser etabliert ist, als in den Geisteswissenschaften."

    Eine andere Frage sei die nach dem Rezipienten: Wer bekommt die Präsentation vorgeführt, der Experte oder der Laie? Dabei kamen die Trierer Wissenschaftler zu der Erkenntnis, dass das gesprochene Wort für Laien wesentlich nützlicher ist.

    "Es gibt ja dieses geflügelte Wort: Bilder sagen mehr als tausend Worte, was ich für so falsch halte, wie man nur irgendwas falsch halten kann, weil Bilder sagen zunächst mal überhaupt nichts. Und insofern ist der Text für den Laien, der das Bild nicht versteht, der einzige Anker gewissermaßen, an dem er sich festhalten kann und der ihm einigermaßen hilft, die Mehrdeutigkeit zu handeln und eventuell dann zu einem Verständnis zu gelangen."

    In ganz anderen Sprachräumen bewegte sich Alwin Fill. Der emeritierte Grazer Anglist hatte vor einigen Jahren literarische Werke nach den Quellen von Spannung untersucht. In Leipzig analysierte er sie allein nach literarischen Räumen, die Spannung erzeugten; darunter ein Roman von Jenny Erdal, in dem gleich drei verschiedene Räume vorkommen:

    "Das Heimathaus der Ich-Erzählerin, dann der Verlagsort in London (das ist das Prosaischste), und dann das Poetischste, Romantischste: eine Landschaft in der Dordogne, in der diese Ich-Erzählerin Texte, vor allem Romane für einen Mann, schreibt. Und das ist ein weiterer Punkt der Spannung: Hier schreibt eine Frau für einen Mann."

    Weshalb Professor Fill auch von Geschlechterräumen spricht. Spannung, so seine Grundthese, entstehe allgemein durch Informationszurückhaltung. Die sei im Falle des Buchtitels beschädigt worden, als er aus dem englischen Sprachraum in den deutschen übertragen wurde: Der englische Titel des Buches lautet recht unbestimmt "Ghosting".

    "Im Deutschen heißt der Titel "Die Ghostwriterin". Es ist also schon im Titel drin, dass es eine Frau ist, die schreibt. Also schon im Titel kann schon Spannung verloren gehen, die im Original drin ist."

    Bei allen kritischen und auch selbstkritischen Anmerkungen zum Sprachgebrauch versteht sich die Gesellschaft für angewandte Linguistik nicht als dauermahnendes Gewissen, ja nicht allzu viele Veränderungen im deutschen Sprachraum zuzulassen und zum Beispiel die Jugend an eine straffere sprachliche Leine zu nehmen. Eher sehe man sich als Beobachter und Initiator für Untersuchungen wie jene, die in der Schweiz durchgeführt wurde, sagt Katrin Lehnen, Germanistin und Professorin in Gießen. In einer Studie wurde untersucht, wie sich Schüler in öffentlichen Foren von Jugendzeitschriften verhalten:

    "Bei "Bravo" usw. Und selbst da zeigt sich interessanterweise wie sich die beteiligten Jugendlichen selber gegenseitig auf Orthografie- und Grammatikfehler hinweisen und selber solche Regelsysteme entwerfen und auch stark stigmatisierend aufeinander einwirken und es gar nicht akzeptiert ist in bestimmten Foren, wenn da nicht "sprachlich sauber" formuliert wird."

    Zur Gründung der Gesellschaft für angewandte Linguistik kam es 1968, weil vielen Sprachwissenschaftlern die reine Theorie nicht mehr ausreichte. Sie wollten, dass sich die gesamte Gesellschaft besser versteht. Das gilt heute um so mehr, wo Tausende Menschen in einen völlig neuen Sprachraum einwandern und die gesellschaftliche Debatte um Migration durch Tilo Sarrazins Buch neu angefacht wurde. Weshalb man überlege, eine weitere Sektion namens "Migrationslinguistik" zu gründen, sagt Bernd Rüschoff, der Vorsitzende der Gesellschaft und Professor an der Universität Duisburg-Essen. Wissenschaftlichen Vorlauf gebe es jedenfalls:

    "In Essen gibt es den Forschungsbereich "Deutsch als Fremdsprache / Deutsch als Zweitsprache", der sich seit vielen Jahren mit diesen Sprachproblemen und Möglichkeiten der Lösung entsprechender Sprachprobleme in Migrationskontexten auseinandersetzt. Und die wissen sehr viel genauer, was passiert, wenn Menschen in günstigen oder weniger günstigen Kontexten mit mehreren Sprachen zurechtkommen müssen. Deshalb ist es leider so, dass in dieser Debatte die wirklich Wissenden zu wenig zu Worte kommen."