Mittwoch, 24. April 2024

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Die "Verschwiegene Bibliothek"

Es ist noch gar nicht so lange her, da setzte das Fernsehen im wiedervereinigten Deutschland verstärkt auf Ostalgie. In zahlreichen Shows präsentierte man den sozialistischen Staat DDR als Kuriositätenkabinett, auf dem Sofa eine lachende Katharina Witt – "das schönste Gesicht des Sozialismus" – oder Frank Schöbel, den Gute-Laune-Onkel aus Erichs Lampenladen.

Von Simone Neteler | 01.07.2005
    Trotz passabler Quoten regte sich damals auch begründeter Widerspruch, denn: Es ging, weiß Gott, nicht immer lustig zu im Arbeiter- und Bauernstaat. Doch für die vielen, die von Bespitzelung, Unterdrückung und Verfolgung hätten erzählen können, war kein Platz bei dieser unterhaltsamen Aufarbeitung ostdeutscher Geschichte.

    Dass es auch anders geht, zeigt das Projekt "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR", gefördert von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die Autoren Ines Geipel und Joachim Walther – beide sehr um einen umfassenden Blick auf die Literatur der DDR bemüht – haben hier seit 2001 literarische Texte zusammengetragen, die in der DDR geschrieben, dort allerdings nicht veröffentlicht wurden. Dank umfassender Recherche sind bisher rund 100 Autoren mit etwa 40.000 Manuskriptseiten in dem Archiv vertreten. Geschrieben wurde von den 50er Jahren bis zur Wiedervereinigung: Prosa, Lyrik, Fragmentarisches – jeder Beitrag in Thema, Form und Ästhetik so unterschiedlich wie die einzelnen Verfasser und die Zeit, aus der sie stammen. Wie schwierig es ist, dem gerecht zu werden, beschreibt Ines Geipel:

    "Es ist sehr schwer. Also, bei 100 Autoren in etwa hat man 100 Singularitäten, hat man 100 Schreibgenesen, hat man 100 Lebensschicksale, wo sich Sprache oder die Suche nach künstlerischem Ausdruck, nach eigener Sprache, nach Identität mit der Sprache in je singulärer Weise zeichnet."

    Neben der Textsicherung wird den ehemals unterdrückten Autoren ein öffentliches Forum gegeben. So steht das gesamte Material für Forschungs- und Dokumentationszwecke in der Stiftung Aufarbeitung zur Verfügung. Außerdem sollen 20 ausgewählte Werke in der Edition "Die Verschwiegene Bibliothek", herausgegeben von der Büchergilde Gutenberg, publiziert werden. Die ersten beiden Bände sind nun erschienen.

    "Jahr ohne Frühling" versammelt Lyrik und Briefe von Edeltraud Eckert. Die Autorin wurde 1950, gerade 20 Jahre alt, wegen harmloser Flugblätter zu 25 Jahren Haft verurteilt. Die veröffentlichten Gedichte und Briefe schrieb sie im Gefängnis, man hatte ihr erlaubt, zu diesem Zweck eine Kladde zu führen.

    Zugegeben, die Gedichte von Edeltraud Eckert sind schlicht in der Form! Doch deuten sie trotzdem auf mehr als nur ein Talent der Verfasserin. Denn in ihnen spiegelt sich die schmerzhafte Suche nach dem, was bleibt, wenn man 20-jährig für 25 Jahre zu Unrecht ins Zuchthaus kommt. Dabei ist die einsame Stimme, die sich hier erhebt, frei von Wehleidigkeit. Aus ihr spricht tapfere Hoffnung, die aus Erinnerung und Liebe geboren ist – Liebe zu Eltern, Freunden und nicht zuletzt zu Musik und Literatur.

    Die Texte von Edeltraud Eckert geben keinen Einblick in das raue Leben einer Haftanstalt der DDR – das zu notieren, wäre verboten gewesen. Doch zeigt sich diese Wahrheit im erlittenen Schicksal der Autorin um so eindringlicher: Edeltraud Eckert starb 1955 im Haftkrankenhaus Leipzig an den Folgen eines schweren Arbeitsunfalls – nachdem sie medizinisch nur unzureichend versorgt worden war.

    "Und mit diesen Gedichten und auch mit diesem Leben, glaube ich, sieht man schon sehr viel, wohin dieses Projekt DDR gelaufen ist. Also, mit welchem Recht ein solches Leben vernichtet wird, steht hier im Raum. "

    Die zweite Veröffentlichung der "Verschwiegenen Bibliothek", "Blende ’89" von Radjo Monk, ist ein literarisches Tagebuch von 1989 bis 1990. Hier holen den Leser unweigerlich die eigenen Erinnerungen an die Wendemonate ein. Beschrieben werden die Leipziger Montagsdemonstrationen, das Chaos, das Nicht-wissen-was-wird – und diese Angst, die wohl nur der verstehen kann, der damals in der DDR dabei gewesen ist. Die Schilderungen sind spannend, auch wenn man weiß, wohin die Entwicklung führen wird. Doch hätte Radjo Monk auf den ein oder anderen – vielleicht nachträglich eingefügten – belehrend anmutenden Absatz besser verzichtet, denn die authentische Darstellung leidet darunter.

    Die Möglichkeiten, die die "Verschwiegene Bibliothek" bietet, scheinen vielfältig:

    "Ich glaube, dass, gerade weil es eben eine Edition ist, weil es eine Reihe wird, es möglich sein kann, tatsächlich die Vielstimmigkeit, auch die Ambivalenz deutlich zu machen – die nicht möglichen Stoffe, die nicht möglichen Ästhetiken. Und dass man mit dieser Reihe im Grunde dann auch noch mal diskutieren kann, was ist denn nun tatsächlich dieser Schreibraum, dieses vermeintliche Leseland oder Literaturland DDR wirklich gewesen, wenn so viel Substantielles, Intensives und Wichtiges auch, was eine literarische Landschaft betrifft, überhaupt gar nicht in Augenschein genommen wurde."

    Da fragt sich natürlich, ob die Literaturgeschichte der DDR angesichts des gefundenen Materials nun umgeschrieben werden muss.

    "Ich denke, neues Material verändert immer den Blick. Inwiefern und in wie weit, das wird die Öffentlichkeit entscheiden. Joachim Walther und ich, wir haben gesammelt, wir stellen das Material zur Verfügung – das tun wir in einer Zeit, wo man nun nicht gerade nach DDR schreit. Das war für mich der Punkt zu sagen: Es ist ein Projekt gegen die Zeit. Mit jedem Umzug, mit jeder Veränderung im Grunde, auch mit jedem Sterben, Tod eines Autors verliert sich Material, wenn es denn nicht an die Öffentlichkeit gekommen ist. Und wie dann die Qualität und der Charakter dieser Texte bewertet wird, da vertrau ich ganz den Jungen, die neuerdings ihre eigenen Fragen haben auf diese Zeit."

    Die nächsten Veröffentlichungen aus der Reihe "Die Verschwiegene Bibliothek" sind für den kommenden Herbst geplant. Man darf gespannt sein, ob die literarische Qualität der Texte den geweckten Erwartungen standhält.

    Edeltraud Eckert und Radjo Monk zumindest bewahren – jeder auf seine Weise – einen autonomen geistigen Widerstand während der sozialistischen Diktatur in der DDR, der nicht gebrochen werden konnte.

    Auf der Suche nach dem Wort sind und bleiben die Gedanken schließlich frei – eine Tatsache, die Diktatoren Angst einflößt und auf die sie deshalb immer mit Zensur und Verfolgung reagieren.

    "Dieses Vorhaben, dieses Sammelvorhaben im Grunde zeigt es, die Angst vor dem Wort unter der Diktatur. "

    Das ist durchaus doppeldeutig zu verstehen. Denn so, wie die Gedanken beim Schreiben frei sind, schreibt die Angst vor Entdeckung in einem diktatorischen Regime immer mit.