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Die verschwiegene Realität

Ohne den Schriftstellerverband ging fast nichts im Literaturbetrieb der DDR. Wer nicht Mitglied war, konnte kaum seine Werke veröffentlichen. Ein Berg von Manuskripten ist so nie ans Licht der Öffentlichkeit gekommen. Das Projekt "Die verschwiegene Bibliothek" hat sich der unterdrückten Literatur nun angenommen.

Von Jens Brüning | 16.03.2005
    Vor Überraschungen ist nur sicher, wer nicht fragt oder sucht. Als die DDR in der Bundesrepublik Deutschland aufging, hatten viele gedacht, die Hinterlassenschaft dieses Staates sei ein gesichertes, abgeschlossenes Sammelgebiet. Was die Literatur betrifft, war diese Sicherheit immer trügerisch, denn es kamen in der DDR manche Texte nicht an die Öffentlichkeit, die in Westverlagen für einiges Aufsehen sorgten. Das aber konnte nicht alles gewesen sein. Ines Geipel, die sich zusammen mit ihrem Schriftstellerkollegen Joachim Walther auf die Suche nach unterdrückter und verschwiegener Literatur in der DDR machte, hat mit Hilfe der "Stiftung zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur" eine beachtliche Textmenge zutage gefördert:

    " Wir haben in den letzten vier Jahren einen Textstamm versammelt von etwa vierzigtausend Manuskriptseiten Es geht um etwa einhundert Autoren, die jetzt in diesem Archiv versammelt sind: Wie sieht es denn tatsächlich aus mit den literarischen Gegenwelten? Im Grunde sucht man da eine verschwiegene Realität ab, das ist nicht ganz einfach, man kann sozusagen in offiziellen Archiven bei Franz Fühmann oder Heiner Müller Nebennachlässe suchen und Namen herausfitzeln. Manchmal ist es regelrecht kriminalistisch gewesen."

    Zum Beispiel: wie findet man biografische Hinweise auf eine Autorin mit dem Allerweltsnamen Becker? Wer hat über fünfzig Jahre lang Gedichte aufbewahrt, die eine junge Frau in der berüchtigten Haftanstalt Hoheneck schrieb? Was ist aus dem Mann geworden, dessen frühe literarische Arbeiten in den Archiven der Staatssicherheit vor den Augen der Öffentlichkeit geschützt werden sollten? Ines Geipel und Joachim Walther haben nach Autoren gesucht, die in der DDR ohne Publikation geblieben sind, systematisch verschwiegene Autorschaften, aber auch nach Flucht, Freikauf oder Ausbürgerung im Westen öffentlich nicht wahrgenommene Autoren. Nur sehr wenigen gelang, sich nach dem Systemwechsel durchzusetzen. Joachim Walther:

    " Wir haben das, was wir vermutet haben, auch in großen Teilen gefunden. Also in sich geschlossene Oeuvres, Werke, Konzepte, literarische Poetologien, die über Jahrzehnte durchgehalten worden sind, auch in totaler Abwendung von der DDR. Und das ist eigentlich die Hauptsache, diesen Texten jetzt diese Luft zu geben, die ihnen vorher verwehrt worden ist, also sozusagen den natürlichen Stoffwechsel jetzt möglich zu machen zwischen Text und Leser, und der Leser möge dann prüfen, sozusagen die Qualität der Texte."

    Die Prüfung ist jetzt möglich. In der "Büchergilde Gutenberg" erschienen die ersten beiden von geplanten zwanzig Bänden der "Verschwiegenen Bibliothek": Gedichte und Tagebuchblätter der jungen Autorin Edeltraud Eckert aus den frühen fünfziger Jahren und ein polit-poetisches Tagebuch aus dem Wendejahr 1989/90 des nach seinen ersten Veröffentlichungen von der Staatssicherheit streng beobachteten Christian Heckel, der sich heute als weltweit gefragter Klangperformer Radjo Monk nennt. Beide haben eine sehr eigene Qualität. Sie bestätigen die These der beiden literarischen Schatzsucher, dass es jenseits der staatlich genehmigten Literatur in der DDR vielfältig und ambivalent zuging. Der Verleger der in der "Büchergilde Gutenberg" erscheinenden "Verschwiegenen Bibliothek" zitiert Friedrich Schiller, der forderte: "Die Kultur muss den Menschen freiheitsfähig machen, damit er es auch politisch sein kann." Und diese Maxime dringt an die Oberfläche der bisher vorgestellten Texte. Da mühen sich Menschen, ihrer Persönlichkeit authentischen Ausdruck zu verleihen, und es gelingt ihnen jenseits vorgeschriebener und von kleinen Geistern begrenzter Bahnen. Die Aufnahme in das "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR" erfolgte nach einfachen Kriterien, sagt Joachim Walther:

    "Wir haben lediglich darauf geachtet, dass die Texte literarische Qualität haben, also sozusagen die Schwelle des politischen Pamphletismus oder des politischen Frustes überschreiten, das war aber das einzige, und wir wollen das auch nicht bewerten, sondern wir stellen dieses Material bereit und sind gespannt, wie darauf reagiert wird."

    Die Texte sind jeglicher Nostalgie abhold. Mit ihnen lässt sich keine Retro-Show gestalten. Ines Geipel und Joachim Walther wollen mit ihrer Edition die in der DDR abgewiesenen Autorinnen und Autoren moralisch rehabilitieren. Dabei recherchieren sie auch die Lebensläufe der Verfasser und Entstehungsbedingungen der Texte:

    "Wir treffen also immer öfter - kommt es mir jedenfalls so vor - auf Leute, nicht nur deren Texte zerstört worden sind, sondern deren Leben, Biografien zerstört worden sind, und die auch der Untergang dieses Staates, dieser Diktatur nicht hat heilen können."