Mit sparsamer Sprache und einprägsamen Bildern – so führt der US-Journalist Jon Lee Anderson seine Leser durch Bagdad. Der Korrespondent des Magazins New Yorker hat sich, mit Unterbrechungen, vom Jahresende 2002 bis zum Frühjahr 2004 in der irakischen Hauptstadt aufgehalten, und währenddessen ist er Zeuge dreier Zeitabschnitte geworden: der Saddam-Diktatur, des Krieges und der ersten Nachkriegszeit. Die Szenerie, die Anderson zu Anfang darstellt, ist heute, nur zweieinhalb Jahre später, schon so unwirklich, dass man sich ins Reich Saddam Husseins wie mit der Zeitmaschine zurückversetzt fühlt. Die damalige Atmosphäre bringt Anderson mithilfe eines überraschenden Vergleiches auf den Punkt:
Als ich Bagdad zum ersten Mal sah, ging mir die Vorstellung durch den Kopf, Saddam würde als Amerikaner wiedergeboren werden und in Washington herrschen: Die Gräber des Arlington-Friedhofes würden vermutlich exhumiert und in die Mall verlegt werden, die Bäume dort abgeholzt, um neuen Prachtstraßen für Militärparaden Platz zu machen; dann würde eine fünf Kilometer lange Strecke vom (...) Ronald Reagan International Airport bis Georgetown mit Sicherheitsabsperrungen versehen und von Männern mit Gewehren bewacht werden, die den Befehl hätten, jeden Eindringling zu erschießen. Und schließlich würde das Washington Monument in "Der glorreiche Sieg über Vietnam" umgetauft, und auf dem Boden würden Tausende von Strohhüten vietnamesischer Kulis kunstvoll verstreut werden, damit die Besucher darauf herumtrampeln könnten.
Bei seinen Streifzügen kümmert Anderson sich kaum um Vorgeschichte oder Hintergründe des Irak-Konflikts. Mit langatmigen Exkursen hält er seine Leser gar nicht auf. Er kommt in Bagdad an, beobachtet genau, wählt aus, konzentriert sich auf einzelne Dinge oder Menschen und beschreibt sie so unvoreingenommen wie möglich. Statt etwa die Geschichte der ersten irakischen Revolution zu rekonstruieren, die im kollektiven Bewusstsein der Iraker eine überragende Rolle spielt, schildert er die Geschichte einer Waffe: des Gewehrs nämlich, mit dem Scheich Dhari 1920 den britischen Kolonialoffizier Leachman erschossen hat – eine Tat, die dann den Aufstand auslöste. Dieser Waffe begegnet man im Buch mehrfach: Zu Beginn, als sorgfältig aufbewahrte Ikone im "Museum zum Ruhm des irakischen Führers". Dann wieder in der Mitte, als Anderson, kurz vor dem US-Angriff auf den Irak, die Enkel des Leachman-Mörders trifft, drei würdige alte Scheichs, die sich heillos zerstreiten, als Anderson sie bittet, noch einmal den genauen Tathergang zu schildern. Als Anderson sich, Monate später, während der Plünderungen nach dem US-Einmarsch wiederum in das Museum begibt, ist das Symbol der nationalen Unabhängigkeit spurlos verschwunden. Irgendein Dieb hat die Flinte einfach eingesackt und schießt nun vielleicht Tauben damit ab. Dazwischen referiert Anderson kurz ein Vorkriegstreffen in Teheran mit Bakir al Hakim, dem Gründer der wichtigsten Schiitenpartei SCIRI, und einem Stellvertreter des irakischen Großayatollahs Sistani und streift damit schlaglichtartig die Positionen der Kontrahenten im innerirakischen Konflikt.
Mit seiner lakonischen und leitmotivischen Erzählweise hätte es weitergehen können, so hätte Anderson in die unterschiedlichen Milieus im Irak einführen können. Doch er entscheidet sich für einen anderen Weg: Er konzentriert sich darauf, das Wesen des Saddam-Regimes begreiflich zu machen. Anderson porträtiert mehrere Mitglieder der Nomenklatura, an erster Stelle Dr. Ala Bashir, einen der Privatärzte Saddams und Bildenden Künstler, der zugleich von Saddam fasziniert und abgestoßen ist. Ala Bashir ist Nonkonformist und Opportunist zugleich. Er lebte das Leben eines Künstlers, durfte sich in Grenzen auch Kritik erlauben, war aber stets zur Stelle, wenn es darum ging, ein neues Werk zum Ruhme seines Herrn zu meißeln. Nach Saddams Sturz stellte sich Bashir einfach den neuen Herren in Gestalt der CIA als Informant zur Verfügung. Anschließend ging er ins Emirat Katar, wo er den gutdotierten Posten eines Klinikchefs erhielt.
Diesem ausführlichen, über das ganze Buch verteilten Porträt fügt Anderson zahlreiche Miniaturen von Persönlichkeiten mit ähnlicher Charakterstruktur hinzu: Menschen, die alle mehr oder weniger zu Saddams Nomenklatura gehörten, und die sich seiner Ausstrahlung nicht zu entziehen vermochten. Wie im Vexierbild zeichnet sich im ganzen ersten Teil des Buches die Figur Saddam Husseins ab – und man erlebt die bei Diktatoren nicht unbekannte Mischung aus Grausamkeit, Einfalt, Anfällen von Güte, Minderwertigkeitskomplexen und den ebenso rührenden wie andere Menschen schädigenden Versuchen, diese Minderwertigkeitskomplexe zu kompensieren.
Gerade für Mitteleuropäer ist es keine völlig neue oder überraschende Erfahrung, dass auch kultivierte Intellektuelle vor Begeisterung ins Stammeln geraten, wenn das Lob des Mächtigen auf sie gefallen ist - so wie der irakische Poet Faruk Sellum, wenn er Anderson seine frischen Eindrücke von Saddam Husseins Multitalent zu schildern versucht:
Er stammt aus einem Dorf aus einer armen Familie, aber er kennt sich in der Kultur aus und interessiert sich für sie. Gelegentlich fertigt Saddam architektonische Zeichnungen für seine großen Paläste und andere öffentliche Gebäude selber an. Faruk hob hervor, dass Saddam keineswegs seine niedere Herkunft vergessen habe. 'Er ist ein Naturliebhaber. Ich weiß, dass er manchmal ein paar Tage zum Angeln fährt, um den Kopf frei zu bekommen, und in die Wüste zum Schafe hüten.
Dass Anderson das Regime im wesentlichen aus der Perspektive von Helfershelfern Saddams schildert, dass er dessen Dolmetscher und Chauffeure schildert, als stünden sie stellvertretend für die irakische Bevölkerung, ist verständlich. Diverse Kollegen haben das vor ihm auch schon getan. Schließlich gab es für Journalisten unter dem Saddam-Regime so gut wie keine Möglichkeiten, gewöhnliche Iraker, geschweige denn Regimeopfer zu treffen. Nach der vierten oder fünften Beschreibung Saddams und seiner Mitarbeiter wünschte man sich dann aber doch mit demselben Einfühlungsvermögen auch den Alltag aus der Perspektive der anderen Seite, nämlich der Opfer des Regimes zu erfahren.
Tausende Kurden und zwischen 200.000 und 300.000 Schiiten sind während der Saddam-Herrschaft grausam getötet worden. Familien wurden auseinander gerissen. Angehörige verschwanden spurlos. Ein schier unerschöpfliches Reservoir von Geschichten. Wo sind sie? Statt einige davon wenigstens nachträglich zu erzählen, verfällt der Autor in den Reflex der meisten Korrespondenten, die sich in Bagdad während des Krieges aufgehalten haben: Der Perspektivenwechsel von den Großkopfeten des Saddam-Regimes zur einfachen Bevölkerung erfolgt erst dann, als es zivile Bombenopfer durch die US-Luftangriffe zu beklagen gab. So berichtet Anderson etwa von Ali, einem neunjährigen Jungen, der am ganzen Körper Verbrennungen erlitten hat und dem die Ärzte beide Arme amputieren mussten.
Über seinem Bett lag eine graue Decke. Saleh zog die Decke behutsam zurück, und Ali blickte uns entgegen. Ich konnte seine nackte Brust, seine bandagierten Stümpfe und sein Gesicht sehen. Aus der Nähe erkannte ich grüne Punkte in seinen großen haselnussbraunen Augen, er hatte außerdem lange Wimpern und gewelltes dunkles Haar. Es war ein hinreißender Junge.Ich fragte Ali, was er einmal werden wollte: 'Offizier’. Daraufhin rief seine Tante: "Inschallah" – so Gott will -, und ich bemerkte, dass auch Dr. Saleh hinter seinem Mundschutz weinte.
In diesem späten Perspektivenwechsel liegt das Problematische an Andersons Buch. Anderson hat sich noch monatelang nach dem Sturz des Baath-Regimes in Bagdad aufgehalten und hätte aus Gesprächen mit den Saddam-Opfern diese "andere Seite" unschwer rekonstruieren und den Tätern gegenüberstellen können. Diese selektive Verfahrensweise bekommt noch mehr Gewicht angesichts der Tatsache, dass es auch der internationalen arabischen Öffentlichkeit keineswegs opportun erscheint, über die systematischen Massenmorde unter dem Baath-Regime zu diskutieren.
Um die vom Autor selbst aufgeworfene Frage zu beantworten, wie das Saddam-Regime bestehen konnte, wie es so lange überleben, wie Saddam jahrzehntelang Hunderttausende von Menschen töten, foltern, verschwinden lassen konnte, braucht man mehr Informationen über Religion, Theologie und Geschichte. Hier hätten, in Andersons bewährter literarischer Technik, ähnlich wie bei der Geschichte mit dem Revolutions-Gewehr, ein paar leitmotivische und lakonische Passagen die erschreckende gesellschaftliche Stagnation erhellen können, die nicht nur ein irakisches Phänomen war, sondern noch immer auch ein arabisches Phänomen ist. Stattdessen richtet Anderson seinen Blick auch am Ende des Buches auf das ihm und seinen Lesern im Westen Bekannte: Auf die US-Besatzung und ihre Art, sich durch den Irak zu bewegen – etwa, wenn er beschreibt, wie eine Menschenmenge eine US Patrouille durch die Sunnitenhochburg Falludscha einkreist.
Die Menge wurde jetzt ungehemmter, ein wenig aufsässig, es wurde gebrüllt und laut kommentiert. Ich trat zu einer Gruppe von Jugendlichen, die die Soldaten umzingelten. Die Jugendlichen grapschten nach den Flugblättern und entfernten sich lachend. Die Soldaten blickten sich erstaunt um, und es war eindeutig, dass sie kein Wort von dem verstanden, was die Männer sagten. Hinter mir hörte ich lautes Geschrei und sah, dass der Offizier für psychologische Kriegsführung wieder vor der Kebab-Bude stand, wo er seinen Streit mit dem Besitzer fortsetzte. Der Iraker tippte grob mit dem Finger auf das Gesicht des Amerikaners. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass die Zunge des Offiziers gepierct war.
Der Iraker brüllte auf Englisch: 'Was ist das? Sind Sie eine Frau? Warum tun Sie das?’ Er schnalzte grob mit der Zunge. 'Sind Sie denn kein Mann?’
Der Offizier erwiderte lächelnd: 'Natürlich bin ich ein Mann.’
'Nein!’, konterte der Iraker, der sich umwandte und etwas auf Arabisch zu seinen Freunden sagte, die lachten und den Amerikaner anschrieen.
Der Offizier wandte sich zum Gehen.
'Halt, bleiben Sie hier’, brüllte ihm der Iraker nach. 'Sind Sie denn kein Mann?’
Der Offizier drehte sich wieder um. Er warf dem Iraker einen unsicheren Blick zu.
Dieser Wortwechsel ist nur der Auftakt zu gegenseitigen Schimpfkanonaden, die rasch in sexuell geprägte Beleidigungen abgleiten und mit gegenseitigen Hassbekundungen enden. Solche Szenen machen klar, wie mangelhaft die Psychologen der US-Armee die Soldaten auf den Kontakt mit der irakischen Bevölkerung vorbereitet haben und letztlich auch, wie fahrlässig die politische Vorbereitung der Invasion durch ihre Befürworter in Washington gehandhabt wurde. Andersons Beispiel ist deshalb so prägnant, weil es verdeutlicht, aus welch zunächst banalen Anlässen sich ein großer Teil der noch immer aktuellen Gewalt in der sunnitischen al Anbar-Provinz entwickelt.
Abgesehen von der fragwürdigen Auswahl der - dann allerdings sehr eindrucksvoll geschilderten – Milieus ließe sich noch Einiges an der Übersetzung der deutschen Ausgabe bemängeln, wenn beispielsweise die hochberühmte arabische Sängerin Umm Kalthum als der Sänger Umm Kalthum auftaucht oder die Macht des Korangelehrten – auf Arabisch Fiqr – in der deutschen Übertragung als die – in diesem Zusammenhang völlig rätselhafte - "Macht des Fakirs" erscheint. Auch deutsch-englische Schnitzer wie "ein Kapitän der Luftwaffe" oder ein "Militäroffizier" – in Abgrenzung zum US-amerikanischen Police Officer – müssten nicht sein.
Im Ganzen liefert Andersons Werk einen sehr lesenswerten, durch seinen Reportagestil bilderreichen und eingängigen Beitrag zum Verständnis des Irak-Konflikts - einen Beitrag allerdings, der noch einiger Ergänzungen bedarf.
Marc Thörner rezensierte "Die verwundete Stadt" von Jon Lee Anderson, aus dem Englischen übersetzt von Antoinette Gittinger und Norbert Juraschitz. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins hat den 530 Seiten starken Band herausgebracht. Und er kostet 22.90 Euro.