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Die vielleicht letzte Chance

Ein vagabundierender Illegaler, der zusammen mit anderen, die sein Schicksal teilen, eine Art Wahlfamilie gründet, ist der Ich-Erzähler von "Unter fremdem Himmel". Roland E. Koch schildert eindrucksvoll und detailgetreu die Lebensqualen von Flüchtlingen in unserem Land.

Von Dina Netz | 10.01.2011
    "Dieser Simon hat in einer Diktatur wahrscheinlich gelebt, das erfährt man alles nicht so genau. Aber er ist auch schon im Gefängnis gewesen, er ist gefoltert worden. Er kann sich nicht genau erinnern. Für mich passte da so ein Land wie Kasachstan zum Beispiel. Das habe ich mir vorgestellt, und es gibt da ja auch Leute, die Deutsch sprechen. Das ist gar nicht entscheidend für den Roman. Er kommt aus einem fernen Land, er hat vieles erlitten dort. Er wollte immer weg, er hat zu spät eigentlich erst die Flucht angetreten. Und jetzt muss er zurecht kommen."

    Und im Jetzt lernen wir Leser Simon kennen. Der Protagonist von Roland E. Kochs neuem Roman "Unter fremdem Himmel" strandet wie aus dem Nichts auf niedersächsischen Wiesen, ohne Papiere, ohne Vergangenheit. In einer verlassenen Mühle trifft er Valentina, 20 Jahre jünger als er, ebenfalls aus Osteuropa. Bei ihr ist Roddy, ein Junge mit schlimmen Verletzungen, der nicht spricht. Die drei bilden fast auf der Stelle eine Notgemeinschaft. Schon auf Seite 29 des Romans beschließt Simon, mit Valentina und Roddy zusammenzubleiben, "egal was passiert". Woher nimmt er diese Entschlusskraft und diese Sicherheit, dass es gutgehen wird?

    "Ich habe einerseits dieses starke Gefühl beim Schreiben gehabt dieser Schmerzen, die diese Leute erlebt haben. Und jetzt kommt aber das andere Gefühl hinzu, was ich sehr stark empfunden habe beim Schreiben: eine irrsinnige Hoffnung. Und diese irrsinnige Hoffnung, die ist eigentlich da noch viel zu früh und unberechtigt und unrealistisch - ist in diesen Figuren: dass sie doch überleben können, dass sie doch bleiben können, dass sie es doch irgendwie schaffen, vielleicht eine Familie zu gründen. Das ist eine Utopie, die sofort aufkommt, auch in diesen verzweifelten Menschen."

    Dennoch geraten Valentina und Simon in Streit, Roddy läuft weg, und auf der Suche nach ihm verlieren sich auch Valentina und Simon. Doch sie kommen wieder zusammen, Simon findet Arbeit in einem Fahrradladen, beim Besitzer können sie auch wohnen, er schlägt sogar vor, Simon zu adoptieren. Und die 14-jährige Kari stößt zu ihnen, die mit Simon nach Deutschland kam. Mit ihr komplizieren sich die Dinge allerdings auch, denn Kari hat nicht nur ein kindliches Interesse an Simon:

    "Der Erzähler Koch möchte eine Idylle schaffen, aber er möchte die Idylle auch brechen. Und dieses 14-jährige Mädchen bringt ja auch ein bisschen Unruhe da rein und Eifersüchteleien da rein. Ich möchte eben nicht so eine stillstehende Idylle am Schluss haben, sondern die verschieden altrigen Menschen, diese vier Menschen werden sich ja weiter entwickeln, und das ist lebendig zwischen denen. Und ich hab einfach nicht das Bild gehabt: die heilige Familie mit Vater, Mutter und Sohn, sondern da sollte noch jemand dazukommen, der das lebendiger macht, bunter, unruhiger, der das auch unberechenbarer macht."

    Durch einen glücklichen Zufall findet Simon Roddy wieder, und die kleine Familie steht tatsächlich vor einem neuen Anfang unter guten Vorzeichen. Klingt alles sehr pathetisch? Stimmt, aber schließlich geht es in dieser Geschichte auch um alles, um die vielleicht letzte Chance von vier bisher gescheiterten Menschen. Und Roland E. Koch erzählt nicht mit Pathos, sondern er beschreibt vielmehr mit erstaunlicher und wohltuender Unaufgeregtheit das ständige Auf und Ab, das tägliche Ringen ums Überleben dieser fragilen Existenzen.

    Die Utopie am Schluss, der gelingende Neuanfang zu viert ist sicher wenig realistisch. Doch das macht den Roman nicht unglaubwürdig, denn das Glück der Figuren hängt so oft nur am seidenen Faden, weil die Polizei ihr Versteck aufspürt zum Beispiel oder weil der Besitzer des Fahrradladens schwer krank wird. Die Möglichkeit des Scheiterns liest man deshalb immer mit, ganz leicht hätte es anders ausgehen können.

    Zumal die Figuren ja nur scheinbar bei Null anfangen. In Wirklichkeit schleppen sie an ihrer Vergangenheit wie an einem schweren Rucksack. Vor allem Simon wird immer wieder von Bildern und Visionen heimgesucht.

    "Vergangenheit ist das Thema, über das ich schreibe. Und dass einen die Vergangenheit nicht loslässt und einen immer wieder einholt und dass da immer wieder Bilder auftauchen, das ist ja was allgemein Menschliches. Das will ich auch in diesem Roman beschreiben. Und das würde ja nicht nur für Simon zutreffen, das würde für jeden anderen Romanhelden zutreffen, dass der nicht frei ist, dass der seiner Kindheit verbunden ist, aber auch vielleicht seiner Kindheit nicht entkommen kann. Dass da Prägungen sind, die auch über Generationen weitergegeben wurden. Das trifft ja für meine Generation auch zu, was die deutsche Vergangenheit angeht, dass da eben dunkle Wolken sind, die immer wieder vorbeiziehen."

    Die Wolken an Simons fremdem Himmel ziehen allerdings sehr häufig vorbei. Und da sie sich ähneln, hätten ein paar weniger als erzählerisches Mittel vielleicht auch gereicht, um der Vergangenheit ihren Platz einzuräumen.

    "Unter fremdem Himmel" handelt aber nicht nur von vier Osteuropäern, sondern auch von dem Land, in das sie fliehen. Die Deutschen in dem niedersächsischen Dorf bleiben allerdings merkwürdig blass. Die meisten, die den Flüchtlingen begegnen, leben allein, sind irgendwie frustriert. Dass die Deutschen eigentlich kaum Kontur bekommen, ist für Roland E. Koch in unserem Gespräch eine neue Beobachtung:

    "Ich könnte mir denken, dass ich mich sehr stark mit dem Gefühlsleben dieser drei oder vier Flüchtlinge identifiziere und natürlich weniger mit dem der Deutschen. Weil das sind meine Helden und das sind die Seelen, die mich beschäftigen und in die ich hineinsehen möchte. Die anderen werden vielleicht auch eher von außen beschrieben in ihrer Unzufriedenheit und ihrem Nicht-glücklich-Sein. Wobei sie ja auf einem relativ hohen existenziellen Niveau unzufrieden sind. Die haben ja alles, die haben ja eine Wohnung, die haben Geld. Vielleicht wollte ich auch diese etwas unsinnige Unzufriedenheit beschreiben."

    Die Flüchtlinge in Roland E. Kochs Roman "Unter fremdem Himmel" halten also auch den Dorfbewohnern den Spiegel vor. Zumindest der hilfsbereite Fahrradhändler bekommt so wieder ein Gespür dafür, dass das Leben doch auch gut zu ihm war, indem es ihm eine Wohnung und eine Rente geschenkt hat. Und seine emotionale Leere füllen Valentina, Simon, Roddy und Kari. Am Schluss ist man fast ein bisschen neidisch auf Roland E. Kochs Romanfamilie. Und irgendwie dankbarer.

    Biografie:
    Roland E. Koch veröffentlichte u.a. Kurzgeschichten, den Erzählband "Helle Nächte" (1995) sowie die Romane "Das braune Mädchen" (1998), "Paare" (2000), "Ins leise Zimmer" (2003) und "Ich dachte an die vielen Morde" (2009). 2002 gab er die Anthologie "Der wilde Osten. Neueste deutsche Literatur" heraus. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Bettina-von-Arnim-Preis. Koch schreibt für Rundfunk und Zeitungen, war Gastprofessor am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim und unterrichtet seit 2008 Kreatives Schreiben an der Universität Siegen.

    Roland E. Koch: Unter fremdem Himmel. Dittrich Verlag, Berlin 2010, 240 Seiten, 19,80 Euro