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Die vierte Zehe des Archaeopteryx

Paläontologie. - Was macht anatomisch einen Vogel aus? Federn, Schnabel, das typische verwachsene Schlüsselbein - und der ganz besondere vierzehige Fuß. Weil das alles bislang auch auf Archaeopteryx zutraf, gilt er als Ahn der Vögel. Damit könnte eine neue Publikation in "Science" jetzt aber Schluss machen.

Von Dagmar Röhrlich | 02.12.2005
    "Das Wichtigste, was wir aus diesem Exemplar lernen, ist, dass Archaeopteryx wesentlich vogelunähnlicher war, als es in Lehrbüchern dargestellt wird."

    Gerald Mayr vom Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt deutet auf einen noch nicht einmal einen Zentimeter großen Zeh an dem Urvogelfossil, das 150 Millionen Jahre überstanden hat. Es ist eingebettet in eine Platte aus Kalkstein, und selbst Details sind sehr deutlich zu erkennen. Eben auch die Stellung dieses Zehs:

    "Heutige Vögel haben vier Zehen, und die hintere Zehe ist permanent nach hinten gedreht, und das hat man auch für Archaeopteryx bisher vermutet. Und an dem neuen Stück sieht man nun ganz deutlich, dass die erste Zehe nicht nach hinten gedreht war, sondern eher seitlich abgespreizt war, in so einer ähnlichen Stellung, wie so der Daumen einer menschlichen Hand ist."

    Oder wie am Fuß eines Raubsauriers. Dann wendet der Paläontologe seine Aufmerksamkeit dem ebenfalls hervorragend erhaltenen Schädel zu:

    "Viele Knochenelemente sind dreidimensional erhalten. Und das gibt uns natürlich die Möglichkeit, bisher nicht erkennbare Details zu sehen, vor allem die Struktur des Gaumenapparats betreffend. Man sieht auch Details der Nasenöffnung oder der Region um die Nasenöffnung, die bisher unbekannt waren, und die auch zeigen, dass der Schädelbau von Archaeopteryx wesentlich vogelunähnlicher war, als bisher vermutet war, und wesentlich ähnlicher den nächsten Verwandten der Vögel, den Deinonychosaurier."

    Zu dieser Sauriergruppe gehört der Velociraptor aus dem Film "Jurassic Park". Das rabengroße, zierliche Fossil liefert neuen Zündstoff für die fast anderthalb Jahrhunderte alte Diskussion, ob der Archaeopteryx nun mehr vom Vogel hat oder vom Saurier:

    "Damit fehlt Archaeopteryx eigentlich das letzte typische Vogelmerkmal, das Archaeopteryx übrig geblieben ist, nachdem andere kleine Dinosaurier zum Beispiel mit Federn bekannt sind."

    Während in China oder Südamerika immer vogelähnlichere Saurier entdeckt werden, wird Archäopteryx selbst immer reptilienhafter – in der fernen Dinosaurierzeit vor 150 bis 120 Millionen Jahren verschwimmen die Grenzen zwischen den Wirbeltierklassen der Reptilien und der Vögel. Wahrscheinlich können durchaus noch mehr kleine, befederte Saurier Anspruch darauf erheben, zum Kreis der Vögel zu zählen. Ein Archaeopteryx, der eher wie ein kleiner Saurier aussieht als wie ein Urvogel, ist ihnen anatomisch viel zu ähnlich, um eine klare Trennung zu rechtfertigen.

    "Vor 100 Jahren war es ganz klar, da konnte Archaeopteryx nur als Vogel beschrieben werden, weil man diese ganzen Dinosaurier noch nicht kannte, die man in den letzten 20 Jahren gefunden hat, aber je mehr man kennt, desto schwieriger wird es, da eine Unterscheidung zu treffen."

    Dieser vierte Zeh des Archaeopteryx verändert auch das Bild vom Lebensstil des Urvogels. Mit diesen Füßen konnte er wohl besser laufen als klettern, so dass er vermutlich nicht wie eine Krähe im Wipfel eines Baumes saß, um zum Gleitflug zu starten. Gebüsch dürfte ihm besser gefallen haben, was auch eher mit der Rekonstruktion seines Lebensraums übereinstimmt, in dem hohe Bäume fehlen. Allerdings eignen sich Büsche nicht als Startrampe für den Gleitflug, betont Stefan Peters, Vogelkundler am Forschungsinstitut Senckenberg:

    "Sie müssen mit Sicherheit von irgendwo abgesprungen sein. Also ich halte das Umfeld dafür, dass das eher ein zerklüftetes Gebirge gewesen ist, das heißt, die ersten Gleitflüge waren Hanggleiter."

    Das neue Skelett stützt vor allem die Theorie, dass sich die Vögel tatsächlich aus den Fleisch fressenden Deinonychosaurier heraus entwickelt haben.

    "Deswegen wird man jetzt viel mehr Forschungsarbeit investieren müssen, um die genaue Abgrenzung zwischen diesen Gruppen herauszuarbeiten. Und es scheint möglich, was einige frühere Autoren vermutet hatten, dass einige fossile Tiere, die als Deinonychosaurier beschrieben worden sind, in Wirklichkeit sekundär flugunfähige Vögel waren."