Popows vorangegangenen, auch auf deutsch vorliegenden Bücher "Das Herz des Patrioten", "Die Wunderschönheit des Lebens" und "Vorabende ohne Ende" stellen eine Art Trilogie über das Lebensgefühl jener Generation von russischen Intellektuellen dar, die seit etwa Mitte der 70er Jahre die durch und durch ideologisierte sowjetische Wirklichkeit nur noch als Simulation, als realpolitische Satire wahrnahmen und darauf nicht mehr mit einer politischen oder moralischen Gegenideologie reagierten, sondern allein mit den künstlerischen Mitteln des Absurden, der Parodie, des Happenings und Spiels.
Wie der Philosoph Michail Epstejn schon Anfang der 90er Jahre zeigte, war deshalb das postmoderne Bewußtsein - als Reaktion auf diese einzige Realität von Potjomkinschen Dörfern - in diesen Kreisen weiter entwickelt als zur gleichen Zeit im Westen. Das Spiel mit den Sprach- und Bild-Schablonen der in Rußland verbreiteten ideologischen Diskurse, das fröhlich freche Zitieren aus dem gesamten Reservoir der russischen Literatur- und Geistesgeschichte, das Verspotten aller nationalen Klischees und Mythen, die Dekonstruktion jeder Autorität wird deshalb von diesen Autoren aus dem Umkreis der Moskauer Konzeptualisten mit großer Radikalität und Konsequenz betrieben.
Popows letzter Roman "Vorabende ohne Ende" (1994) war eine bis in Figurenkonstellation und Kapitelaufbau dem Original folgende parodistische Wiederauflage von Turgenjews Roman "Vorabend", dessen Handlung - in die Gegenwart der Nachperestrojkazeit übertragen - die geistige Situation Rußlands mit seiner ewigen Wiederholung der gleichen gesellschaftlichen Probleme witzig persiflierte. Sein jüngstes Buch nun ist fast so etwas wie eine Parodie der Parodie.
Die Struktur des als Roman angekündigten Textes mit Motto aus Homer, Vorwort, Haupttext, Kommentar und Register simuliert ein anspruchsvolles, bedeutungsschweres Werk. Aber schon das Vorwort des - wie es heißt "am Ausgang des Jahrhunderts und Jahrtausends geschriebenen Buches", macht die parodistische Grundhaltung deutlich. Der Roman besteht nämlich aus einem belletristischen Teil, in dem das Leben und die Karriere eines gewissen Iwan Iwanytsch - das heißt also eines russischen Jedermann - vom kleinen Studenten und Möchtegernschriftsteller zu einem der mächtigsten Männer des heutigen Rußland geschildert wird. Dieser im Skaz, einer stilisierten mündlichen Redeweise locker dargebotene Text von knapp 50 Seiten - vom Autor fingiert als eine Erzählung aus dem Jahr 1974 - wird nun allerdings überwuchert von einem um ein Vielfaches längeren, ausufernden Kommentarteil. Und während schon die Gestalt des Iwan Iwanytsch in vielen Details eine erstaunliche Ähnlichkeit zur Lebensgeschichte des Autors aufweist, sozusagen eine mögliche Variante seiner Biographie darstellt, gibt sich der Schreiber der Kommentare als der reale Autor zu erkennen, der 1997 - über 20 Jahre später - dank eines Stipendiums in der ehemaligen Villa Otto Grotewohls in Berlin-Pankow am Schreibtisch sitzt, und dem zu jedem dritten Wort des alten Textes eine Unmenge von Erinnerungen, , Richtigstellungen, stilistischen Verbesserungsvorschlägen, aber auch frei assoziierten Anekdoten, Witzen und Geschichten einfallen.
Wenn man als Leser diesen Kommentaren folgt - allein der erste Satz umfaßt 8 Anmerkungen - und ständig zwischen Haupttext und Kommentarteil hin- und herblättert, ist es natürlich unmöglich, die Handlung als lineare, narrative Geschichte zu erfassen. Das ganze Buch entfaltet sich - wie der Hypertext des Internet, wo man immer neue markierte Wörter anklicken kann, die immer weitere Informationen bieten, als eine Art ineinandergeschachtelte räumliche Struktur mit einem dichten Netzwerk von Knoten, an denen eine überbordende Erzähllaune alles, aber auch alles in den Text einbezieht, "wie die Hausfrau, die einen ordentlichen Borschtsch zu kochen versteht."
Das klingt nun erstmal sehr schwierig und anstrengend. Wenn man aber bereit ist, sich dieser neuen Art von Erzählfluß, wie er wohl für die Internet-Generation inzwischen schon zur Gewohnheit geworden ist, hinzugeben, bekommt man einfach Spaß an der Sache. Nicht umsonst bringt Popow den Untergang der Sowjetmacht mit der Rolle des Computers in Zusammenhang. "Sonst hätte sie noch tausend Jahre vor sich hin gestunken."
Popow gelingt es gleichsam, in seiner Schreibweise das Prinzip des Hypertexts des Computerzeitalters mit dem des traditionellen russischen Holzspielzeugs, der Puppe in der Puppe, der Matrjoschka, zu verbinden. Dem entspricht seine Sicht auf Rußland, in der seelenvolle Heimatliebe und ätzende Kritik an seinem Land voll Selbstironie miteinander verschmelzen. Als Erzählmaterial dient das gesamte russische Alltagsleben der letzten Jahrzehnte der Sowjetmacht. Dabei geht es weniger um das reale Zeitgeschehen, das ja sowieso grundsätzlich in Zweifel gezogen wird, sondern um das, was in den Köpfen von Popows Generation herumspukte. Es geht um die Wirklichkeit, wie sie sich in unzähligen fidelen oder melancholischen Gesprächsrunden oder ausgelassenen Saufgelagen spiegelte: um das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, zwischen Angepaßten und Dissidenten, zwischen Russen und Juden; das gesamte Sprach- und Bildreservoir jener Zeit mit den populären Filmen und Büchern wird verarbeitet; zahllose Redensarten, Sprichwörter, Sprachwendungen werden ironisch kommentiert, die charakteristischen sowjetischen und russischen mythischen Abstraktionen, Begriffe wie "Volk" oder "Sobornost", werden veralbert; der Text setzt sich zusammen aus einer bunten Menge von Zitaten aus Klassikern, Schlagern, sowjetischen Politliedern, -Losungen usw.
Allem übergeordnet jedoch ist der Bereich der Literatur. "Literatur, Wodka und Sex wird es in Rußland immer geben..." heißt es.
Letztlich ist das Buch eine vergnügliche Literaturgeschichte der Tauwetter- und Stagnationszeit in Rußland, zusammengesetzt aus hunderten von verschlüsselten oder unverschlüsselten Geschichten und Anekdoten aus dem Moskauer Literatenmilieu, aus boshaftem Klatsch und liebevoll humoristischen Nachrufen auf Popows viele Künstlerfreunde und -feinde. 555 Namen umfaßt das Register, in dem noch einmal augenzwinkernd betont wird, daß "alle Übereinstimmungen mit der Realität des lediglich auf dem Papier existierenden Kunstwerks (einschließlich gleichlautender Namen) fiktiv sind".
Für Insider und zumindest vage Kenner der zeitgenössischen russischen Literatur ist das alles ein Riesenspaß. Ob das allerdings auch auf einen normalen deutschen Leser zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Dann hätte man zumindest das Strukturprinzip des Textes wirklich ernst nehmen müssen, und die kärglichen und zufälligen "Anmerkungen zur deutschen Übersetzung" zu einem erschöpfenden Kommentar der Kommentare ausweiten müssen. Vieles ist aber in diesem Text sowieso nicht übersetzbar und bleibt deshalb an ein paar Stellen sogar einfach unverständlich.
Wer sich aber für Rußland und sein geistiges Leben interessiert, der findet in dieser verrückten, bunten, frechen, verstiegenen Enzyklopädie russischen Denkens und Verhaltens die Hoffnung bestätigt, daß - wie es Popow ausdrückt - "Rußland seinen Platz finden wird in einem weltweiten kulturellen Raum, wo "Amerikanisierung" und Epos, Folklore und Postmoderne, Pornographie und Romantik, Kwaß und Coca Cola eine friedliche Koexistenz führen."
Wie der Philosoph Michail Epstejn schon Anfang der 90er Jahre zeigte, war deshalb das postmoderne Bewußtsein - als Reaktion auf diese einzige Realität von Potjomkinschen Dörfern - in diesen Kreisen weiter entwickelt als zur gleichen Zeit im Westen. Das Spiel mit den Sprach- und Bild-Schablonen der in Rußland verbreiteten ideologischen Diskurse, das fröhlich freche Zitieren aus dem gesamten Reservoir der russischen Literatur- und Geistesgeschichte, das Verspotten aller nationalen Klischees und Mythen, die Dekonstruktion jeder Autorität wird deshalb von diesen Autoren aus dem Umkreis der Moskauer Konzeptualisten mit großer Radikalität und Konsequenz betrieben.
Popows letzter Roman "Vorabende ohne Ende" (1994) war eine bis in Figurenkonstellation und Kapitelaufbau dem Original folgende parodistische Wiederauflage von Turgenjews Roman "Vorabend", dessen Handlung - in die Gegenwart der Nachperestrojkazeit übertragen - die geistige Situation Rußlands mit seiner ewigen Wiederholung der gleichen gesellschaftlichen Probleme witzig persiflierte. Sein jüngstes Buch nun ist fast so etwas wie eine Parodie der Parodie.
Die Struktur des als Roman angekündigten Textes mit Motto aus Homer, Vorwort, Haupttext, Kommentar und Register simuliert ein anspruchsvolles, bedeutungsschweres Werk. Aber schon das Vorwort des - wie es heißt "am Ausgang des Jahrhunderts und Jahrtausends geschriebenen Buches", macht die parodistische Grundhaltung deutlich. Der Roman besteht nämlich aus einem belletristischen Teil, in dem das Leben und die Karriere eines gewissen Iwan Iwanytsch - das heißt also eines russischen Jedermann - vom kleinen Studenten und Möchtegernschriftsteller zu einem der mächtigsten Männer des heutigen Rußland geschildert wird. Dieser im Skaz, einer stilisierten mündlichen Redeweise locker dargebotene Text von knapp 50 Seiten - vom Autor fingiert als eine Erzählung aus dem Jahr 1974 - wird nun allerdings überwuchert von einem um ein Vielfaches längeren, ausufernden Kommentarteil. Und während schon die Gestalt des Iwan Iwanytsch in vielen Details eine erstaunliche Ähnlichkeit zur Lebensgeschichte des Autors aufweist, sozusagen eine mögliche Variante seiner Biographie darstellt, gibt sich der Schreiber der Kommentare als der reale Autor zu erkennen, der 1997 - über 20 Jahre später - dank eines Stipendiums in der ehemaligen Villa Otto Grotewohls in Berlin-Pankow am Schreibtisch sitzt, und dem zu jedem dritten Wort des alten Textes eine Unmenge von Erinnerungen, , Richtigstellungen, stilistischen Verbesserungsvorschlägen, aber auch frei assoziierten Anekdoten, Witzen und Geschichten einfallen.
Wenn man als Leser diesen Kommentaren folgt - allein der erste Satz umfaßt 8 Anmerkungen - und ständig zwischen Haupttext und Kommentarteil hin- und herblättert, ist es natürlich unmöglich, die Handlung als lineare, narrative Geschichte zu erfassen. Das ganze Buch entfaltet sich - wie der Hypertext des Internet, wo man immer neue markierte Wörter anklicken kann, die immer weitere Informationen bieten, als eine Art ineinandergeschachtelte räumliche Struktur mit einem dichten Netzwerk von Knoten, an denen eine überbordende Erzähllaune alles, aber auch alles in den Text einbezieht, "wie die Hausfrau, die einen ordentlichen Borschtsch zu kochen versteht."
Das klingt nun erstmal sehr schwierig und anstrengend. Wenn man aber bereit ist, sich dieser neuen Art von Erzählfluß, wie er wohl für die Internet-Generation inzwischen schon zur Gewohnheit geworden ist, hinzugeben, bekommt man einfach Spaß an der Sache. Nicht umsonst bringt Popow den Untergang der Sowjetmacht mit der Rolle des Computers in Zusammenhang. "Sonst hätte sie noch tausend Jahre vor sich hin gestunken."
Popow gelingt es gleichsam, in seiner Schreibweise das Prinzip des Hypertexts des Computerzeitalters mit dem des traditionellen russischen Holzspielzeugs, der Puppe in der Puppe, der Matrjoschka, zu verbinden. Dem entspricht seine Sicht auf Rußland, in der seelenvolle Heimatliebe und ätzende Kritik an seinem Land voll Selbstironie miteinander verschmelzen. Als Erzählmaterial dient das gesamte russische Alltagsleben der letzten Jahrzehnte der Sowjetmacht. Dabei geht es weniger um das reale Zeitgeschehen, das ja sowieso grundsätzlich in Zweifel gezogen wird, sondern um das, was in den Köpfen von Popows Generation herumspukte. Es geht um die Wirklichkeit, wie sie sich in unzähligen fidelen oder melancholischen Gesprächsrunden oder ausgelassenen Saufgelagen spiegelte: um das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, zwischen Angepaßten und Dissidenten, zwischen Russen und Juden; das gesamte Sprach- und Bildreservoir jener Zeit mit den populären Filmen und Büchern wird verarbeitet; zahllose Redensarten, Sprichwörter, Sprachwendungen werden ironisch kommentiert, die charakteristischen sowjetischen und russischen mythischen Abstraktionen, Begriffe wie "Volk" oder "Sobornost", werden veralbert; der Text setzt sich zusammen aus einer bunten Menge von Zitaten aus Klassikern, Schlagern, sowjetischen Politliedern, -Losungen usw.
Allem übergeordnet jedoch ist der Bereich der Literatur. "Literatur, Wodka und Sex wird es in Rußland immer geben..." heißt es.
Letztlich ist das Buch eine vergnügliche Literaturgeschichte der Tauwetter- und Stagnationszeit in Rußland, zusammengesetzt aus hunderten von verschlüsselten oder unverschlüsselten Geschichten und Anekdoten aus dem Moskauer Literatenmilieu, aus boshaftem Klatsch und liebevoll humoristischen Nachrufen auf Popows viele Künstlerfreunde und -feinde. 555 Namen umfaßt das Register, in dem noch einmal augenzwinkernd betont wird, daß "alle Übereinstimmungen mit der Realität des lediglich auf dem Papier existierenden Kunstwerks (einschließlich gleichlautender Namen) fiktiv sind".
Für Insider und zumindest vage Kenner der zeitgenössischen russischen Literatur ist das alles ein Riesenspaß. Ob das allerdings auch auf einen normalen deutschen Leser zutrifft, wage ich zu bezweifeln. Dann hätte man zumindest das Strukturprinzip des Textes wirklich ernst nehmen müssen, und die kärglichen und zufälligen "Anmerkungen zur deutschen Übersetzung" zu einem erschöpfenden Kommentar der Kommentare ausweiten müssen. Vieles ist aber in diesem Text sowieso nicht übersetzbar und bleibt deshalb an ein paar Stellen sogar einfach unverständlich.
Wer sich aber für Rußland und sein geistiges Leben interessiert, der findet in dieser verrückten, bunten, frechen, verstiegenen Enzyklopädie russischen Denkens und Verhaltens die Hoffnung bestätigt, daß - wie es Popow ausdrückt - "Rußland seinen Platz finden wird in einem weltweiten kulturellen Raum, wo "Amerikanisierung" und Epos, Folklore und Postmoderne, Pornographie und Romantik, Kwaß und Coca Cola eine friedliche Koexistenz führen."