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Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang

Ich denke, dies ist in gewissem Sinn die Geschichte des Landes und um zu begreifen, warum das so sein könnte, mussß man sich wohl daran erinnern, dass - auch wenn Menschen hier seit 50 000 Jahren gelebt haben - erst die vor wesentlich kürzerer Zeit angekommenen Europäer eine Nation bildeten und eigentlich kamen sie nur, um eine Strafkolonie zu gründen. Das heißt, im 19. Jahrhundert bis in das 20. Jahrhundert hinein, in geringem Umfang sogar noch heute gibt es alle möglichen Narben und Fragen, die sich daraus ergeben. Eines ist der Sträflingsmakel und die viktorianische Frage, ob ein Land, das sich auf solche Menschen gründet, anständig sein kann. Und es gab sogar eine noch widerlichere Bezeichnung: Sträflingsbrut. Zumindest die Australier im 19. Jahrhundert machten sich große Sorgen um ihr Ansehen und ich vermute, auch um sich selbst - was sie denn nun wären. Ned Kelly jedenfalls ist eindeutig der Nachkomme eines Sträflings. Seine soziale Umgebung, diese merkwürdige ländliche Unterschicht, in der er lebte, war mit Ex-Sträflingen bevölkert.

Johannes Kaiser |
    Jedes Kind kennt in Australien die Legende von dem Banditen Ned Kelly, der mit dem Gesetz in Konflikt geriet, vor der Polizei flüchtete, eine Gang bildete, seine Verfolger lange Zeit narrte, die Armen beschenkte, die Reichen bestahl, korrupte Polizisten bestrafte, bis ihn feiger Verrat seinen Häschern auslieferte und er nach einem unfairen Prozess zum Tode verurteilt und gehängt wurde. Ned Kelly ist der australische Robin Hood des wilden, unerschlossenen Hinterlandes, der Outlaw des Outback, ein heimlicher Held, dem seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute die Sympathie vieler Australier gilt. Den australischen Schriftsteller Peter Carey reizte an dessen Geschichte eben dies: Ned Kelly als Symbol der Befreiung von allen unterschwellig rumorenden Minderwertigkeitsgefühlen:

    Ich meine, ab dem Augenblick, in dem Ned Kelly mit drei sehr schönen Banküberfällen ins öffentliche Bewusstsein rückte und fast über Nacht zu einer Medienberühmtheit wurde, begriffen die Leute, dass der Sohn eines Sträflings klüger, tapferer und grundsätzlich anständiger war als jeder Polizist, als jeder, der ihn fassen wollte und von der Vorstellung der Sträflingsbrut befangen war. Außerdem entkam er der Polizei und das kommt in Australien immer noch ziemlich gut an. Jedenfalls schaute man auf ihn und sagte: er ist ganz offenkundig ein Gefangener der Verhältnisse, in die er nie geraten wäre, hätte er nicht diesen Hintergrund besessen.

    Es war nicht zuletzt der zumindest in Australien enorme Bekanntheitsgrad des Rebellen gegen die Krone, der Peter Carey lange davon abhielt, sich seiner Geschichte anzunehmen. Wenn jemand die öffentliche Phantasie so beherrscht, bleibt für einen Schriftsteller wenig Raum, eine eigene Version zu erfinden. Dass er sich vor gut vier Jahren dennoch an das Thema wagte, ist, so erzählt er, einer Ausstellung des australischen Malers Sidney Nolan geschuldet. Dessen Bilderserie über Ned Kelly hatte Peter Carey bereits 20 Jahre früher in Australien begeistert.

    Viele Jahre später, ich lebte bereits in New York, kamen die Kelly Gemälde in die Stadt und ich ging zur Eröffnung, ein bisschen nervös, weil ich die Bilder liebe und fürchtete, sie könnten die kulturelle Entfremdung nicht verkraften. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie wirkten außergewöhnlich und ich brachte meine Freunde aus Downtown Manhattan dorthin, um sie ihnen zu zeigen und Kellys Geschichte zu erzählen. Als ich sie dann immer wieder vortrug, dachte ich mir, jetzt würde ich wirklich gerne einen Roman darüber schreiben.

    Hinzukam, dass Peter Carey in seiner Themenmappe, in der er alle möglichen Ideen sammelt, die sich vielleicht einmal für ein Buch verwenden lassen, auch eine Kopie eines Briefes aufbewahrte, den Ned Kelly selbst an die Zeitungen seines Landes geschrieben hatte, um seine Taten zu rechtfertigen. Die reine, unverfälschte Sprache des Bauernsohnes, ihre natürliche Poesie hatten ihn schon immer fasziniert. Zudem war sie ihm durchaus vertraut, schließlich stammt 1943 geborene Peter Carey aus einer Kleinstadt in NewSouthwales, ist keine hundert Meilen entfernt vom Ort des Geschehens aufgewachsen, hat noch in seiner Kindheit einfache Menschen ohne Schulbildung so reden gehört.

    In dieser Sprache steckt eine ganze Kultur, eine ganze Klasse, der ganze Zorn. Es ist eine wunderbare Dichtung. Man kann das lesen und denkt dann: 'Mein Gott, wenn ich nur diese Stimme bewohnen könnte, dann würde sich dieser Mann aus der Erde erheben und wieder herumlaufen. Das war das eine. Aber ich kehrte damit auch zu meinen Anfängen zurück, zu dem, was mich an Literatur zuerst angezogen hatte, zu der Idee, aus der Stimme eines Ungebildeten Literatur zu erschaffen, den Sprachlosen eine Stimme geben - auch wenn das ein bisschen melodramatisch klingt. Aber das Buch, das mich als junger, eher ahnungslosen Leser am meisten beeindruckt hatte, war Faulkners 'Als ich im Sterben lag', diese wunderbare, poetische Sprache, nichts als Monologe von Figuren, bei denen ungebildet wohl noch eine Untertreibung wäre. Das vor allem führte mich zur Literatur und so war es für mich tief befriedigend, selbst so vorzugehen. Interessanterweise begriff ich, nachdem ich das Buch beendet hatte, plötzlich den enormen Einfluss all der Dinge auf mich, die ich damals zuerst gelesen hatte, als ich begonnen hatte, mich in Literatur zu stürzen. 40 Jahre später sieht man jetzt das Ergebnis dieser besonderen Lektüre.

    Dass Peter Carey überhaupt zur Literatur kam und später sogar selbst zu schreiben anfing, verdankt er im Prinzip einem Autounfall. Eigentlich hatten es dem jungen Mann die Naturwissenschaften angetan. Doch eine Studentenliebelei hielt ihn davon, ernsthaft zu studieren. Er fiel durch alle Prüfungen und musste sich einen Job suchen. Bei einer Werbeagentur kam er unter. Das war sein großes Glück, denn die Hälfte des Teams bestand als linken Künstlern, die neben ihrer Arbeit Bilder malten und Romane schrieben. Sie weihten den Sohn eines Gebrauchtwagenhändlern in die Literatur ein. Beflügelt von den Größen der Belletristik fing der 19jährige selbst an zu schreiben. Dreimal versuchte er sich an einem Roman, dreimal scheiterte er. Daraufhin entsagte er enttäuscht der großen Form und begann Kurzgeschichten zu schreiben. Die allerdings kamen bei Freunden wie Kritikern gleichermaßen gut an. 1974 erschien ein erster Band mit Erzählungen, der viel gelobt und gut verkauft wurde. 1979 folgte eine zweite Kurzgeschichtensammlung 'War crimes'. Für die erhielt Peter Carey sogar einen literarischen Preis. Damit schien der weitere Weg vorgezeichnet, hätte nicht seine Londoner Agentin Schicksal gespielt. Um die Kurzgeschichten besser verkaufen zu können, erzählte sie dem englischen Verleger, der Australier säße derzeit an einem Roman. Die Lüge animierte Peter Carey, sich tatsächlich noch einmal an einem Roman zu versuchen. 1981 kam 'Bliss' heraus und verhalf ihm zum literarischen Durchbruch. Seitdem ist er dem Roman treu geblieben, hat alle drei Jahre ein neues Werk veröffentlicht. Sie alle zeigen ihn als außergewöhnlich einfallsreichen Erzähler, dem es an verrückten Einfällen nie fehlt. So ist zum Beispiel sein zweiter Roman Illywhacker eine furiose tour de force durch die australische Geschichte der letzten 139 Jahre, erzählt von einem geschwätziger, listigen, alten Mann, einem notorischen Lügner. Auch der dritte Roman, die melancholisch-vergebliche Liebesgeschichte von 'Oscar und Lucinda', dem englisch-anglikanischen Geistlichen und der australischen Glasfabrikbesitzerin, sprüht wieder vor Phantasie. Der Titelheld, obwohl Pfarrer ein hemmungsloser Spieler, versucht mit Hilfe der ebenfalls dem Glücksspiel verfallenen Unternehmerin eine Kirche ganz aus Glas auf einem australischen Fluß ins Landesinnere zu transportieren, um die Ureinwohner zu missionieren. Eine wahnwitzige Idee, grandios erzählt, die dem Schriftsteller 1989 den renommiertesten englischen Literaturpreis, dem Booker Prize einbrachte. Seitdem gilt er als eine der wichtigsten Stimmen der australischen Literatur. Seine außergewöhnliche Stellung unterstreicht, dass er letztes Jahr als überhaupt erst zweiter Autor in der Geschichte des Booker-Preises die prestigeträchtige Auszeichnung erneut und zwar diesmal für seine 'Wahre Geschichte Ned Kellys' verliehen bekam. Zu Recht, denn selbst bei diesem historisch so festgelegten Thema hat Peter Carey wieder einmal viel Einfallsreichtum bewiesen und z.B. irische Mythologie mit eingeflochten wie die ungewöhnliche Legende von den Männern in Frauenkleidern:

    Unter den Gemälden von Sidney Nolan gab es ein ziemlich merkwürdiges Bild von einem der Gangmitglieder, Steve Hart, der seitlich auf dem Sattel sitzt und ein hübsches Kleid trägt. Eigentlich hat mich das nicht besonderes interessiert, denn mir lag mehr daran, zu erkunden, welche Volkssitten und religiösen Bräuche den Transport von Irland nach Australien überlebt hatten. Dem entgegen steht die australische Manie, all diese Dinge einfach als typisch australisch anzusehen, weil wir vergessen und nicht nachgeforscht haben, was daran eigentlich irisch ist. Ich las dann bei dem irischen Historiker Roy Foster einiges über die ländlichen Outlawgruppen, die z.B. loszogen, um ungerechte Großgrundbesitzer zu bedrohen und er erzählt von den Charakteristika dieser Gruppen, der Wahl ihrer Captains, ihren Blutschwüren und ihrem Transvestitentum. Hallo, dachte ich, das ist aber sehr faszinierend, rief also Roy Forster an und erfuhr noch einiges mehr darüber. Ich kam schließlich zu dem Schluß, dass dieser Brauch nicht in der Absicht entstanden war, sich zu tarnen oder weil sie Transvestiten in dem Sinne waren, wie wir das verstehen, sondern dass diese Männer, wenn sie aufbrachen, um jemanden umzubringen, Kleider anzogen als Zeichen dafür, dass alle normalen Regeln der Gesellschaft außer Kraft gesetzt waren. Ich beschloß, das zu benutzen, denn es erlaubte mir, mich mit all den Fragen verlorener Erinnerung und verlorener Kultur auseinander zusetzen.

    Es fällt auf, dass alle Romane Peter Careys unter der Oberfläche einer dramatischen Geschichte bestimmte Ideen und gesellschaftspolitische Themen verfolgen. Er hat gewissermaßen ein Anliegen, wenn er sich hinsetzt und ein neues Buch schreibt. Der inzwischen 59jährige hat das politische Engagement seiner Jugend nicht verloren:

    Die Leute in diesem Land neigen dazu zu sagen, dass der Sozialismus tot ist. Ich frage dann: für wie lange? Glauben Sie, es wird nie wieder sozialistische Ideen geben, auch nicht in 5000 Jahren oder in 200? Klar, wir haben ziemlich viel Schlimmes im Namen des Sozialismus gemacht und ich denke da auch an meine eigene willentliche Blindheit gegenüber allen möglichen Sachen, nur befand ich mich in der vorteilhaften Situation, nicht all zuviel Schaden anrichten zu können. Dennoch: die Ideale scheinen mir immer noch sehr attraktiv und wenn Sie davon Spuren in Ned Kelly finden, dann, denke ich, sehen Sie darin dasselbe, was auch ich sehe. Dieser Roman steckt voller Politik, denn er ist angefüllt mit Verfolgung, Ungerechtigkeit, dem Wunsch nach Freiheit und es geht um politische Klassen.

    Geschickt versteht es Peter Carey, beim Leser Wut und Zorn gegen Willkürherrschaft und Unterdrückung zu schüren, seinem Rebellen gegen die Obrigkeit viele Sympathien zukommen zu lassen, auch wenn es mit ihm, wie jeder weiß, ein böses Ende nimmt. So gewiss wie 'Die wahre Geschichte des Ned Kelly' ein Abenteuerroman ist, so selbstverständlich feiert sie auch die Menschlichkeit eines Geächteten. Die Weltliteratur ist um einen Helden wider Willen reicher.