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Die Wahrheit hinter dem Bild

In der Kunstgeschichte steckt reichlich Potenzial zum besseren Verständnis unserer Welt. Das gilt vor allem dann, wenn sich, wie bei Hans Belting, Bildwissenschaft als Kulturwissenschaft versteht. Sein Buch "Das echte Bild – Bildfragen als Glaubensfragen" beweist es.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 13.03.2006
    Die radikal-islamistischen Terroristen bedienen sich auf eine höchst perfide Art und Weise dem im Westen so ausgeprägten Kult, ja teilweise sogar Wahn des Visuellen. Die uns täglich umgebende und prägende Flut der Bilder in einer von den Bild-Medien bestimmten Welt wird genutzt, um uns den Schrecken und die Angst vor Anschlägen zu implantieren. Ohne die durch grausame Bilder bezeugte terroristische Gewalt wären die Selbstmordattentäter um ein Vielfaches unwirksamer, vielleicht hätten sie sich gar nicht zu solch einer Bedrohung entwickelt.

    Sie selbst gehören - und deswegen die Charakterisierung als "perfide” - einer Kultur an, die bilderlos ist. Die Schrift ließ den Bildern im religiösen Raum des Islam keinen Platz.

    Ich habe diesen aktualitätsbezogenen Einstieg in die Vorstellung des Bandes "Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen" gewählt, um von vornherein deutlich zu machen, welch großes Potenzial in der Kunstgeschichte zum besseren Verständnis unserer Welt steckt; vor allem dann, wenn sich, wie hier, Bildwissenschaft als Kulturwissenschaft versteht. So lag es denn wohl auch nahe, dass der emeritierte Kunstwissenschaftler Hans Belting 2004 die Leitung des Internationalen Forschungszentrums für Kulturwissenschaften in Wien übernahm.

    Der anthropologische Ansatz wird in Beltings neuem Buch - das an sein bereits zum Klassiker avanciertes Werk "Bild und Kult" anschließt - besonders deutlich.

    "Bilder werden als Fenster zur Wirklichkeit benutzt. Da sich aber unser Begriff für Wirklichkeit stets ändert, wandelt sich auch unser Anspruch an Bilder. Es hängt wohl mit diesem Anspruch zusammen, dass wir an Bilder glauben wollen, doch müssen sie diesen Glauben auch rechtfertigen.

    Mit den Begriffen Wirklichkeit und Glauben sind wir bereits im Bannkreis der Religion, in der diese Bilderwartung einmal ihren 'Sitz im Leben' hatte. Sie repräsentierte eine Art absoluter Wirklichkeit hinter der Fassade der Dinge. Da diese Wirklichkeit empirisch und sinnlich nicht verfügbar war, machten die Hüter des Glaubens sie entweder durch Bilder anschaulich, über die sie Kontrolle ausübten, oder sie erließen ein Bilderverbot..."

    Freilich annulliert auch das Verbot die Bilder nicht gänzlich, sondern verlegt sie in die innere Vorstellung. Bild und Schrift beanspruchten sodann absolute Autorität.

    "Ist der Glaube an echte Bilder einmal erschüttert, wenden wir uns dem Zeichen und besonders dem Wort zu ... Wir glauben an Zeichen nicht so wie an Bilder, sondern müssen sie entziffern und deuten."

    Dagegen halten die Bilder, sofern sie uns glaubwürdig erscheinen, unsere Sinne und unsere Imagination gefangen. Sie üben aus eigener Kraft und dank einer vitaleren Anschauung von Wirklichkeit Macht auf uns aus.

    Die islamische Kultur, die wir schon angesprochen haben, hat in ihrer Geschichte einen heftigen Kampf gegen Bilder geführt. Gottes Wort, so manifestierte es der Koran, wird nur in der Schrift sichtbar. In der christlichen Religion geschah die Heiligsprechung des Worts auf die folgende Weise:

    "Sie fand statt, als der Kirchenvater Hieronymus im Johannes-Evangelium den großen griechischen Begriff 'Logos' lateinisch schlicht und direkt als 'Wort' übersetzte. Damit verlieh er nicht nur diesem, sondern jedem Wort künftig eine Autorität, vor welcher die Bilder kapitulieren mußten."

    Mit höchster Gelehrsamkeit und in einer präzisen Sprache erkundet Belting die vielfältigen Bezüge zwischen Bild und Sprache und wie selbst die avanciertesten Bild-Theorien und Bild-Praktiken auf Worte angewiesen sind. Wo die Worte nicht mehr hinreichen, setzen immer neue und sich als autonom ausgebende Versuche der Visualisierung ein. Aber wie auch immer, ohne den Glauben an die Bilder oder Wörter kommen wir niemals aus. Ebenso bedeutsam ist die Rolle des Körpers und der Körperlichkeit.

    "Zunächst ist einmal Körper ganz wichtig ... Körper als Problem.”"

    Alles, ob in Natur oder Kultur, ob in Bild- oder Textsprache, scheint heute als Information beschreibbar. Das echte Bild wird jetzt an seinem Informationsgehalt gemessen.

    ""Heute gilt nur dasjenige als unsichtbar, was in der Welt noch nicht ausreichend sichtbar gemacht worden ist ..., während das absolut Unsichtbare, welches die Religionen im spirituellen Raum versprechen, im wörtlichen Sinn aus unserem Blick geraten ist."

    Wie lässt sich eigentlich die Zeit benennen, in der wir heute leben? Ist es ein Zeitalter globaler Telekommunikation, in dem die Moderne (die "Zweite Moderne” oder "Dritte Neuzeit”, wie einige meinen) erst wirklich beginnt? Zugleich haftet dieser Moderne immer schon etwas Endzeitliches an, was in Diagnosen wie der vom "Ende der Geschichte” besonders deutlich wird.

    Die Moderne verabschiedet sich gleichsam ständig von sich selbst, um sich dann unter neuen Namen (wie Postmoderne, New Age oder Medienkultur) zurückzumelden. Niedergang und Aufgang erscheinen schon fast als beliebige Charakteristika, so wie auch Globalisierung oder Multikulturalität nur scheinbar prägnante Beschreibungen und Deutungen liefern, in Wahrheit aber zuweilen mehr verschleiern als enthüllen.

    Allmählich decke, so Beltings Fazit in dem Band "Szenarien der Moderne", diese Situation das ungeklärte Verhältnis zwischen Moderne und Kultur auf. Die Moderne möchte immer viel von der eigenen Kultur loswerden und Traditionen abstreifen, um den Aufbruch in die Zukunft unbehindert zu vollziehen.

    "Die Frage spitzt sich jetzt darauf zu, welches Kulturverständnis wir eigentlich noch von uns selber haben, wenn wir den anderen Kulturen begegnen. Sie scheint mir wichtiger zu sein als die Debatte darum, in welcher oder in der wievielten Moderne wir inzwischen angekommen sind.”"

    Es gehört zur Schizophrenie unseres Kulturverständnisses, dass wir von "echten”, "authentischen” und "autochthonen” Kulturen träumen, ihnen aber letztlich nur die so genannte Peripherie in unserem Weltbild zuordnen. Zugleich sind die Bemühungen unverkennbar, die so genannte primitive Kunst aus der Ethnologie und den ethnologischen Museen zu befreien, ihnen einen Platz neben der europäischen Kunst zuzuweisen, sie also als Kunst zu präsentieren. Solche Ausstellungen, die die Wahlverwandtschaften zwischen beiden Künsten herausstellen, sind indes auch problematisch, ist doch die Kunst in den traditionalen Gesellschaften aufs engste an das Ritual, an gelebtes Leben, gebunden.

    ""Wie stellt man andere Kulturen und wie stellt man überhaupt Kulturen aus? Die Frage führt auf direktem Wege zu der Überlegung, ob unsere Museen noch legitimiert sind für ihr Monopol in der Präsentation, und übrigens in der Repräsentation, anderer Kulturen."

    Was können wir von der anderen Kultur und ihren Ritualen überhaupt wahrnehmen, wenn wir etwa ausgestellte Masken und Fetische in einem Museum anschauen? Ist deren Ästhetisierung angebracht? Ist nicht einzig der Gläubige und am Ritual Teilnehmende in der Lage, die Objekte zu verstehen? Andererseits ist natürlich der Blick des Ethnographen und Ethnologen dafür ausgebildet, von außen Anderes zu sehen, zu klassifizieren und zu deuten. Und die Museen können, als Orte der Erinnerung, die Ausstellung der fremden Objekte legitimieren:

    "Die Museen sind schon als Tempel der Erinnerung gegründet worden, die ihre Kompetenz aber schrittweise vergrößerten, je mehr Kulturen sich in die bloße Erinnerung zurückzogen. Die Ausstellung ist meist schon eine postkulturelle Praxis, denn sonst brauchte man sie nicht. Dinge, die nicht mehr produziert werden, müssen musealisiert werden. Man kann sie kopieren, aber die Originale, die oft nur für eine kurze Benutzung hergestellt wurden, würden bei neuerlichem Gebrauch ohnehin zu Bruch gehen. In der Zeit der alten Benutzung konnten sie immerzu wieder durch neue, aber gleichartige Nachbilder ersetzt werden. Seit der Stillegung ihrer Produktion sind sie unersetzbare Kostbarkeiten geworden, welche zur Erinnerung an den eingetretenen Verlust einladen.”"

    Hans Belting, der in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag feierte und zu den renommiertesten Vertretern seines Fachs gehört, hat doch zugleich - und das beweisen auch die eben angeführten Überlegungen zu Kunstgeschichte und Ethnologie - die Grenzen dieses Fachs überschritten. Mit seinem auf fremde Kulturen erweiterten und auf nahezu alle Traditionen der europäischen Kunst vertieften Blick war er wie kaum ein anderer dazu legitimiert, die Frage nach dem Ende der Kunst und der Kunstgeschichte zu stellen.

    Peter Weibel spricht in seinem Vorwort zu dem Band "Szenarien der Moderne" zu Recht von der "präzisen Gelehrsamkeit” und "kritischen Originalität”, mit der Belting die europäische Kunstgeschichte durchstreifte und überschritt.

    ""Die Kunst kennt keine Grenzen, und die Einschränkung auf europäische oder gar nationale Parameter ist in Wirklichkeit nicht modern, sondern widerspricht der Dialektik der Moderne. Modern ist man nur, wenn man sich stetig umschreibt, bis zum Überschreiten und Überschreiben der Moderne selber."

    Wo sieht Belting selbst noch unerledigte und zukünftige Aufgaben der Kunstgeschichte? Ist es die Ausbildung eines neuen Verständnisses des Realen? Bilder haben ja nie das Reale abgebildet. Vielmehr sind sie immer schon an dem beteiligt gewesen, was dann als real erschien beziehungsweise erscheint. Hans Belting möchte den Begriff des Realen durch den des Ereignisses ersetzen, was einmal viel mehr als bloß das modische "Event” meinte, nämlich so etwas wie den Einbruch des Realen in unser Bewusstsein.

    Bilder haben traditionell ein Ereignis reproduziert, so dass es für jene, die nicht daran teilgenommen haben, vorstellbar wurde. Aber heute ist das Bild selbst Ereignis. Welche Konsequenzen hat dies für die Kunstwissenschaft? Und lassen sich die heutige "Bildsucht” oder "Ikonomanie” und die virtuelle Realität noch in den Termini der Kunstwissenschaft erfassen, und wie sieht die Kooperation mit der Anthropologie und der Medienwissenschaft aus?

    ""Zunächst ist die Frage der Kunstwissenschaft ... zu sehen.”"

    Der Bilderkonsum und der Bilderwahn gehen mit einem Verlust an Welt einher. Zugleich entsteht eine neue Intensität der Welt als Bild. Im Bild erfahren und verehren wir, was wir im Alltag vermissen oder verleugnen. Computer und Fernseher machen uns Angebote alternativer Welt-Modelle. Wir messen sozusagen die Welt daran, wie viel Ähnlichkeit sie mit den Bildern hat. Haben wir schon das ganze Ausmaß einer solchen Verkehrung begriffen, und stehen wir erst am Anfang einer Entdeckung, bei der wir am Ende gar nicht mehr den Rückbezug vom Bild zur Welt machen? Werden uns Bilder am Ende nur noch betäuben oder aber auch ganz neue, noch unerahnte Erfahrungshorizonte eröffnen?

    ""Vielleicht in beiderlei Richtung ... Bedürfnis nach Bildern ... im Bild nur erscheinen kann.”"

    Wir kehren noch einmal zum Ausgangspunkt der Besprechung, und damit zur Verflechtung westlicher Bildersucht und terroristischer Strategie, zurück. Die pseudo-sakralen Bilder von Selbstmordattentätern und terroristischen Leitfiguren bedienen sich unserer Medien und Technologien. Die teilweise kultisch inszenierten Bilder und Medien-Phantome etwa eines Osama Bin Laden haben sich längst in den medialen Strom der Bilder eingereiht und bestimmen somit unser Denken und Fühlen, unser Bewusstsein und unsere Ängste.