Archiv


Die Wahrheit über die Iren

Irland von A bis Z. In alphabetischer Reihenfolge breitet der englische Literaturwissenschaftler und Irlandfan Terry Eagleton die grüne Insel vor seinen Lesern aus - lakonisch, witzig, augenzwinkernd. "Alkohol" steht ganz weit vorn im ABC, deswegen darf das Buch zu allererst von ihm berichten. Ist also was dran an der irischen Trinkfestigkeit? Lesen wir nach:

Kersten Knipp |
    "Alle Welt weiß, dass die Iren ein besonders trinkfreudiges Volk sind", schreibt Eagleton, und weiter: "Trotzdem muss es nicht unbedingt stimmen." "Nicht UNBEDINGT", wohlgemerkt. Denn eigentlich stimmt es doch, wie der Autor im folgenden Schluck für Schluck nachweist - und uns so am Klischee vom trinkfesten Iren doch nicht verzweifeln lässt. Am Ende ist die Atmosphäre jedesfalls wieder stocknüchtern. "Zoolgischer Garten, Dublin" lautet das letzte Stichwort, aber Menschenaffe und Nilflusspferd konnten Eagleton offenbar nur schwerlich, eigentlich gar nicht, inspirieren:

    "Lohnt den Besuch eigentlich nicht", schreibt er spürbar gelangweilt, "aber welches andere Wort mit Z fiele IHNEN denn ein?" Immerhin: Da sind wir nun angekommen beim Z, kennen das ABC der Iren von vorne bis hinten. Hat Eagleton nun das absolute, allumfassende Buch über die Insel am Rande Europas geschrieben? Eagleton:

    "Ich hoffe, ich habe es nicht. Das Leben wäre sehr traurig, wenn mir das gelungen wäre. Vor allem einige Kritiker werden der Meinung sein, dass es noch einiges mehr zu sagen gäbe. Man könnte endlos Bücher dieser Art schreiben. Es geht ja keineswegs nur um irische Politik, es geht um unendlich viele Dinge, um Essen, um Musik, um die Landschaft, um irische Angewohnheiten, die Sprache usw. Das Buch ist ein Versuch, eine Art soziologischer Spaziergang durch Irland. Aber es gibt natürlich sehr viel mehr zu sagen; ich hoffe, niemand denkt, dass dies das letzte Wort über Irland ist - das ist es ganz bestimmt nicht."

    Das letzte Wort ist es ganz bestimmt nicht - und garantiert nicht immer das verlässlichste. Denn als Reiseführer ist Eagletons Buch bisweilen ganz und gar unbrauchbar - denn der Verfasser erweist sich als Schalk. Oder wie soll man sonst einen nennen, der behauptet, "B & B" stehe für "Bar und Bordell" und dem Reisenden empfiehlt, sich von dem Äußeren der scheinbar so biederen Madame nicht täuschen zu lassen:

    "Blumengemusterte Schürze hin oder her", schreibt unser Reiseleiter über die ahnungslose Frau, "sie ist mit allen Wassern gewaschen. Schildern sie ihr nur frank und frei Ihre absonderlichsten sexuellen Phantasien, und sie wird Ihnen mit Freuden zu Diensten sein."

    Ein Rat, den man allenfalls auf eigenes Risiko befolgen sollte. Denn hier wie anderswo wandelt der Autor auf schlüpfrigem Parkett. So auch im Kapitel über die irischen Feen. Denn die gibt es in Irland nicht - oder besser: nicht mehr. Zum letzten Mal, zitiert Eagleton die Überlieferung, trafen sie sich im Jahre 1839 - um festzustellen, dass sie in einem rasch sich modernisierenden Land nicht mehr gebraucht wurden. "Tags darauf", fabuliert der Autor, "gingen sie auf ein Schiff und verließen Irland. Niemand weiß, wohin sie gesegelt sind; manche glauben, nach San Francisco."

    Wohin auch immer. An Sagengestalten jedenfalls ist Irland auch heute nicht arm. Denn mit ihnen bestreitet es nach wie vor einen Großteil seiner Einkünfte. Besonders Verdienste hat vor allem eine mythische Figur: James Joyce. "Ich habe den ´Ulysses` gelesen" - dieser Aufkleber soll einst der holländischen Ausgabe des monumentalen Werks beigelegen haben. Wieviele derer, die mit dem Spruch prahlten, schlicht gelogen haben, möchte man lieber nicht wissen. Aber was soll´s, im zeitgenössischen Irland ist Joyce längst mit nicht-literarischen Aufgaben betraut, dient als bewährtes touristisches Aushängeschild. Deswegen hat er bei Eagleton auch Aufnahme als eigenständiges Stichwort gefunden. Schlagen wir also nach unter "Joyce":

    "Einer der führenden Wirtschaftszweige Irlands, T-Shirts, Sommerschulen, Kneipenbesuche und ein Haufen Kitsch inklusive. Gerüchten zufolge kommt das alles von einem irischen Schriftsteller namens James Joyce, aber das stimmt vielleicht gar nicht und spielt ja auch gar keine Rolle."

    In Irland blüht und gedeiht der Mythos. Auch und vor allem in der Musik. Uralte Weisen stimmt man auf der Insel an, meistens mündlich überliefertes gälisches Liedgut. So wollen es zumindest die Touristen, so wollen es die Anthropologen. Eagleton erzählt die Geschichte von dem Musikwissenschaftler, der eine alte Frau eine ihm unbekannte Melodie summen hörte. Woher sie die habe, will er wissen. Von einem blinden Harfenisten aus einem Dorf hinten am Berg. "Und woher hatte der es? Der Experte ließ nicht locker. Von seinem alten Onkel, erwiderte sie, der ein umherziehender Kesselflicker gewesen sei. Und woher hatte der es? Aus dem Radio."

    Terry Eagleton: ein Spötter. Aber nicht nur. Wer so viele ernste Bücher geschrieben hat, den treiben auch bei humorvollen Werken ernste Hintergedanken. Oder hat Eagleton endgültig die Seite gewechselt, will von grauer Theorie von nun an nichts mehr wissen? Eagleton:

    "Wir müssen abwarten. Ich habe mich ja immer schon dem kreativen Schreiben gewidmet. (...) Hin und wieder will ich auf eine etwas populärere Art schreiben, für diejenigen, die noch nie ein College oder eine Universität von innen gesehen haben. Ich finde das sehr befriedigend, und ich denke auch, dass wir Schreiber von der politischen Linken die Pflicht haben, unsere Ideen auch jenseits der akademischen Mauer populär zu machen. Ich bin ziemlich bestürzt darüber, dass einige amerikanische Autoren der Linken, vor allem einige herausragende Kritiker, gar nicht das Bedürfnis empfinden, so zu schreiben. Ich glaube also, dass diese eher satirischen, polemischen, populären Schriften für die Linke sehr vitale Ausdrucksformen sind. Ich glaube, dass ein Linker, der nur den akademischen oder theoretischen Stil pflegt, Gefahr läuft, ein blasses Abbild all derer wird, die er politisch bekämpft."

    Bei allem politischen Engagement: Das Buch ist lustig - auch wenn es mitunter ernste Passagen aufweist. Denn der Autor wäre nicht er selbst, würde er nicht auch den politischen Fragen dieses mitunter gewaltgeplagten Landes die gebührende Aufmerksamkeit widmen. In dem Kapitel über den Nordirland-Konflikt schildert er das Problem konsequent aus wechselnder Perspektive, nimmt er nacheinander die Position aller Beteiligten ein: die der Nationalisten, die den Rückzug der Engländer fordern; die der Unionisten, die sie weiter im Lande haben wollen; die der Bewohner der Republik Irland, die für ein wiedervereinigtes Irland sind - jedenfalls in idealistischen Momenten; und schließlich die der Briten, die mehrheitlich für einen Rückzug von der Insel sind. Im Schnelldurchgang präsentiert Eagleton die Unmenge die zahlreichen Lösungsvorschläge, ohne sich zu einem davon durchringen zu können - zu komplex ist die Situation. Aber vielleicht, hofft Eagleton, hat ja der Leser eine zündende Idee: "Falls SIE", spricht er ihn an, "eine Idee haben, wie sich die Krise beenden lässt, schreiben Sie Ihre Lösung umgehend auf eine Postkarte und schicken Sie sie unter dem Stichwort "Nordirland: die Lösung" an die Verleger dieses Buchs. Der Einsender der einfallsreichsten Lösung gewinnt einen Urlaub für zwei Personen in Tallaght, einem für seine Schönheit bekannten Fleckchen der Insel."

    Ob Eagleton es aufrichtig mit seinen Lesern meint? Eine Teilnehmerkarte ist dem Buch jedenfalls nicht beigefügt. Und Preisausschreiben gewinnt man ohnehin fast nie. Besser also, man fährt auf eigene Faust nach Irland. Nehmen Sie Eagletons Reiseführer ruhig mit. Unbedingt auch auch noch einen anderen!