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Die Wahrnehmung eines Briefkastens

Hans Blumenberg gehört zu den unkonventionellen Philosophen des letzten Jahrhunderts. Geschichte zeige sich in erzählten Geschichten, in Metaphern, behauptet er. Nun beschäftigt sich ein Suhrkamp-Band mit dem Lebenswelt-Konzept des 1996 verstorbenen Philosophen.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Hat die Philosophie etwas mit dem Leben zu tun? Oder braucht das Leben etwa die Philosophie? Offenbar nicht, wenn Goethe 1808 in einem Brief schreibt:

    "Ich hatte mir manches zu arbeiten vorgesetzt, daraus nichts geworden ist, und manches getan, woran ich nicht gedacht hatte; das heißt also ganz eigentlich das Leben leben."

    Das klingt planlos. Lebt man nicht, wenn man reflektiert seine Pläne einhält und seine Ziele verfolgt? Und wenn man gar nur nachdenkt, hat dann Fichte mit seinem Verdikt recht?

    "Philosophie ist ganz eigentlich Nicht-Leben."

    Dem hält Edmund Husserl 1929 an seinem 70. Geburtstag nach einer Festrede Martin Heideggers entgegen:

    "Ich musste philosophieren, sonst konnte ich in dieser Welt nicht leben."

    Doch da widerspricht Hans Blumenberg:

    "Das Leben strömt, während der Philosoph am Schreibtisch sitzt, vorbei; aber schwimmen will er im strömenden Leben, wie Husserl selbst es einmal formuliert hat: 'der lebendige Strom, in dem ich schwimme.' Niemand wird ihm das glauben."

    Trotzdem hat Husserl mit seinem Alterswerk über "Die Krisis der europäischen Wissenschaften" in den dreißiger Jahren dem Begriff der Lebenswelt zu großer Popularität verholfen. Seinen Ausgangspunkt stellen die damaligen weit verbreiteten Zweifel am Fortschritt von Wissenschaft und Technik dar. Denn so bemerkt Husserl in der Krisis-Schrift:

    "Gerade die Fragen schließt <die wissenschaft=""> prinzipiell aus, die für den in unseren unseligen Zeiten den schicksalsvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins."

    Die modernen Wissenschaften, so Husserl, bewegen sich zunehmend in einem Elfenbeinturm, versuchen Physik und Mathematik sich aus sich selbst heraus jenseits der Alltagswelt zu begründen. Und just an deren Modell orientieren sich tendenziell bis heute beinahe alle Wissenschaften. Doch auch die moderne Physik besitzt ihr Fundament nicht abgehoben in sich selbst, sondern letztlich in der Alltagswelt, die Husserl als Lebenswelt bezeichnet. Aus dieser vorwissenschaftlichen Welt erhält nicht allein die Physik ihren Sinn. So konstatiert Husserl:

    "Auch objektive Wissenschaft stellt nur Fragen auf dem Boden dieser ständig im Voraus, aus dem vorwissenschaftlichen Leben her, seienden Welt."

    Hans Blumenberg gibt sich mit dieser Perspektive Husserls indes nicht zufrieden. Er schreibt in den aus dem Nachlass unter dem etwas hochtrabenden Titel "Theorie der Lebenswelt" herausgegebenen Texten, zu denen sich auch einige bereits verstreut publizierte Aufsätze gesellen:

    "Arglos auch hat Husserl in der 'Krisis'-Abhandlung das Attribut der Alltäglichkeit zu dem der Selbstverständlichkeit hinzugenommen und der Lebenswelt erteilt."

    Denn eigentlich – das ist Blumenbergs Einwand gegen Husserls späten Lebensweltbegriff – die Phänomenologie Husserls hat sich zum Ziel gesetzt, das Selbstverständliche verständlich zu machen, die Sache selbst, die kleinen Dinge: Wie nimmt man beispielsweise einen Briefkasten wahr? Ich gehe am Briefkasten achtlos vorbei: Er ist selbstverständlich. Sobald ich aber anfange, über diese Selbstverständlichkeit zu reflektieren, ist das alles nicht mehr selbstverständlich. Vielmehr muss ich es mir erst verständlich machen.
    Die Lebenswelt aber stellt das Ganze der Selbstverständlichkeiten dar, die selbstverständliche Voraussetzung der Wissenschaften, allemal keine raunende Tiefsinnigkeit. Blumenberg schreibt:

    "Der Ausdruck 'Lebenswelt' hat, gerade in seiner schlichten Schönheit, eine gefährliche Disposition, Tiefgründigkeit und Höchstrangigkeit seiner Leistung vorzutäuschen. Jeder kann sich prüfen, der in eine Vorlesung mit dem Titel 'Theorie der Lebenswelt' geht, ob er nicht offen oder insgeheim sich versprochen hat, sein Problem würde nun an die Reihe kommen."

    Wenn man aber über die Selbstverständlichkeit der Lebenswelt reflektiert, indem man eine Theorie aufstellt, ist die Lebenswelt nicht mehr selbstverständlich, ist sie nicht mehr das, was sie für Blumenberg sein soll, nämlich die selbstverständliche Voraussetzung der Wissenschaften. Es kann also keine Theorie der Lebenswelt geben bzw. die Theorie der Lebenswelt ist keine.

    "Wir sprechen von der Lebenswelt, wie wir von der Gesundheit sprechen, indem wir sie nur als das Nichtbestehen der 40.000 möglichen Krankheiten erfassen, von denen jede uns etwas über die Gesundheit als den prekären Zustand eines eben unendlich gefährdeten Wesens erkennen lässt."

    Doch Husserl – so Blumenberg – führt den Begriff der Lebenswelt nicht erst in seinem Spätwerk, der Krisis-Schrift in den dreißiger Jahren, ein. Er taucht explizit ab 1917 bei ihm auf, lässt sich aber indirekt der Sache nach auch zuvor diagnostizieren. Wahrscheinlich – so vermutet Blumenberg – entwickelt Husserl den Begriff der Lebenswelt, nachdem er mit den Begriffen des Lebens und des Lebensschwungs von Henri Bergson konfrontiert wurde.

    Bergson, der große französische Lebensphilosoph, stößt auch in Deutschland mit seinem 1907 erschienenen Buch "Die schöpferische Entwicklung" auf große Resonanz, die jedoch in der patriotischen Gesinnung des Ersten Weltkriegs verstummt. Husserl setzt sich aber just während des Krieges mit Bergson auseinander, nämlich als Roman Ingarden, einer der später bekanntesten, polnischen Philosophen, bei ihm über Bergson 1916/17 seine Doktorarbeit abschließt – bringt also ein polnischer Philosoph einen damals verpönten Dialog zwischen französischer Lebensphilosophie und deutscher Phänomenologie quasi über die Schützengräben hinweg wieder zustande.

    Denn daraus bezieht Husserl nach Blumenberg entscheidende Anstöße, um aus seinen frühen Konzeptionen heraus den Begriff der Lebenswelt ab 1917 zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt birgt Husserls neuer Begriff für Blumenberg noch jene Selbstverständlichkeit, über die man keine Theorie schreiben kann, eine Selbstverständlichkeit, die im Spätwerk der Krisis-Schrift dann verloren gegangen ist und sich durch ominösen Tiefsinn aufzuladen droht. Peinlicherweise aber wird dieser Lebensweltbegriff der Krisis-Schrift später berühmt werden und nicht der vorhergehende, der der Phänomenologie zugrunde liegt.

    Jedenfalls braucht die Lebenswelt phänomenologisch richtig betrachtet keine Philosophie. Und wenn man philosophiert, dann hat man in der Tat die Lebenswelt längst verlassen. Husserl kann also nicht mit dem Strom des Lebens philosophieren. Aber er kann parallel zum Leben philosophieren, räumt Blumenberg zumindest ein:

    "Leben ist, was in der Lebenswelt seine erste Bewusstseinsform hat: Nichts als leben, das ist, was das Leben nicht erträgt, worüber es hinausdrängt, weil Selbsterhaltung zwar seine Notwendigkeit, aber nicht sein Sinn ist."

    Dann besteht doch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Leben und der Philosophie, indem sie ebenfalls über das Leben hinausdrängt. Vielleicht philosophiert man ja ähnlich planlos, wie Goethe lebt. Oder braucht das Leben gar Philosophie? Das hätten die Philosophen wohl gerne.

    Hans Blumenberg: "Theorie der Lebenswelt"
    Suhrkamp, Berlin 2010, geboren, 253 S., 29,80 Euro.</die>