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Die Welle und das Fernsehen

Die drei Minuten, die die Welt veränderten, hinterließen Fernsehstoff für Tage, Wochen, Monate. Und wie so oft in solchen Fällen, waren es Amateuraufnahmen, die als Endlosschleife auf allen Kanälen liefen: Immer und immer wieder die anschwappende Riesenwelle, die betäubte Überraschung in den ersten Reaktionen, dann das Drama des Kampfes zwischen Tod und Rettung, die Schreie, die hilflosen Versuche, den Höllentanz von Mauerwerk und Mobiliar von der erhöhten Kameraposition aus zu dirigieren, schließlich der nicht weniger gewaltsame Rückzug des Wassers, doch davon gibt es schon viel weniger Bilder, denn da hatten die meisten ihre Kameras bereits abgeschaltet, denn es gab wahrhaftig anderes zu tun als zu filmen.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Was dann mit diesen Bildern passierte, war allerdings ein deprimierender Beweis für die Verschlafenheit des gesamten deutschen Fernsehens, des privaten wie des öffentlich-rechtlichen. Denn zunächst zeigte sich wieder einmal, dass Vorkommnisse epochaler Art einfach nicht an Sonn- und Feiertagen auftreten sollten. Am Abend des 26. Dezember, als aufgrund der Meldungslage wirklich klar war, was für atemberaubende Ausmaße dieses Desaster hatte, konnte man durch sämtliche Programme zappen und sah: "Stars in der Manege", "Traumschiff" und "Sissi", man sah Thriller und Komödien, nicht zu vergessen den amerikanischen Actionfilm aus dem Jahr 1996 mit dem sehr passenden Titel "Tödliche Weihnachten". Die Nachrichten auf CNN und BBC World wurden immer fürchterlicher und die deutschen Sendungen an jenem Abend immer fröhlicher. Die Redakteure hatten sich verkrümelt, der Apparat spulte das Programm ab, und die Welt konnte untergehen.

    Die famosen Nachrichtenkanäle n-tv und N24 lieferten derweil das im Falle deutscher Improvisation übliche unbeholfene Schülerfernsehen. Ganz peinlich wurde es aber am Dienstag dieser Woche mit der großen ZDF-Spendengala. Zwar hat es sich herumgesprochen, dass Tanzen, Biertrinken und Freiluft-Lustbarkeiten an einem von Leichen übersäten Strand nicht unbedingt angemessene Äußerungsformen von Hilfsbereitschaft seitens europäischer Feriengäste sind, aber dass dies auch für das Unterhaltungs-Tralala deutscher Fernsehsendungen gelten könnte, ist ein Gedanke, von dem sich beim ZDF niemand irritieren lässt. Schließlich ging es ja um einen guten Zweck, und der Ertrag von mehr als 40 Millionen Euro heiligt alle ästhetischen Mittel. Die Drohung mit dem guten Zweck haben sich freilich auch schon jene Urlauber zueigen gemacht, die in dumpfer Indolenz an thailändischen Hotelbars hocken bleiben und erklären, sie würden damit Arbeitsplätze sichern.

    Wenn aber der belgische Schnulzensänger Helmut Lotti einen Katastrophensong vorträgt, dessen Mittelteil darin besteht, zum süßlichen Gewimmer der Saiteninstrumente und dem wohligen Pulsieren des Schlagzeugs langsam und rhythmisch die Länderliste mit den Totenzahlen abzuarbeiten, dann ist eine Stufe kulturindustriellen Trauerkitschs erreicht, die schon etwas Barbarisches hat. Und dies war wahrlich nicht der einzige Moment des Grauens an diesem fürchterlichen Fernsehabend. Schließlich wurde jeder Künstlerauftritt visuell mit einem Tsunami-Filmverschnitt garniert, bis man zwischen Liebeslied und Lazarett, zwischen Silbermond und Kindertod gar nicht mehr unterscheiden konnte. Die ZDF-Verantwortlichen konnten das offenbar von vornherein nicht; sie lieferten mit dieser schizophrenen Schmerzens-Show immer beides: die unerträgliche Seichtigkeit von Mainz und die triefende Betroffenheit eines professionellen Leid-Wesens wie Johannes B. Kerner.

    Der sprach gegen Ende den vielsagenden Satz: "Wir wollen an diesem Abend, der auch ein Abend der Freude ist, nicht in Vergessenheit geraten lassen: dies ist auch ein Abend der Trauer." Sehr richtig! Oder anders ausgedrückt: Wir sind in unserer Anstalt alle etwas durchgeknallt und können nicht denken, sondern nur senden. Was übrigens fürs Erste Deutsche Fernsehen ganz genauso gilt. Denn dort ließ Sandra Maischberger die Stunde der Wichtigtuer schlagen, die jetzt die internationale Nothilfe neu erfinden. In der Tat gründet zur Zeit fast jeder deutsche Unterhaltungskünstler eine eigene Seebebenopfer-Stiftung, eröffnet ein eigenes Konto und bastelt eine eigene Website. So auch die 37-jährige Schauspielerin Natalia Wörner, die das Desaster erfreulicherweise unverletzt überstand und sich im Fernsehstudio darüber auslassen durfte, wie sie nun gedenkt, Thailand wieder aufzubauen. Wer noch ein paar Euro spenden will, kann nun zwischen ganz verschiedenen Organisationen wählen: Rotes Kreuz oder Natalia Wörner.