Donnerstag, 28. März 2024

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Die Welt als Klang

Die Welt ist Klang, genau genommen: im kleisten wie im größten regieren Schwingungen das Universum. Auch Sonnensystem und Erde gehorchen komplexen Rhythmen. Mit der Ankunft des Menschen kamen ganz neue Klänge in die Welt, die schließlich, Dank Edison und seiner Nachfolger, gesammelt werden konnten. Im Tierstimmenarchiv der Berliner Humboldt-Universität etwa haben 110.000 tierische Lautäußerungen Platz gefunden; eine Handvoll Enthusiasten hält die Klänge alter Landschaften fest, und Künstler verhelfen Vivaldis "Jahreszeiten" mit Naturgeräuschen zu frischem Glanz.

Von Mathias Schulenburg | 16.04.2006
    " Da begannen die Stimmen der Ainur zu erschallen wie Harfen und Lauten, Flöten und Posaunen, Geigen und Orgeln, und sie machten aus Iluvatars Thema eine große Musik; und ein Klang stieg auf von endlos ineinander spielenden Melodien, harmonisch verwoben, und verlor sich in die Höhen und Tiefen jenseits allen Gehörs, und ..."

    Die Schöpfungsgeschichte nach Tolkien, gar nicht so weit von der Wissenschaft entfernt.

    Denn Klänge finden sich auch in der modernen Kosmogonie, der Wissenschaft vom Werden des Universums. Das geachtete Szenario des einstigen sowjetischen Physikers Jacov Z'eldovichs etwa, eine Art singendes Universum, sieht am Anfang Schwingungen vor, die Verdichtungen in den Raum tragen, an denen Materie kondensiert, zu Galaxien ... zu Sternen ...

    Und so, sagt das Lehrbuch, entstand der Stoff, aus dem etwas Vernünftiges werden konnte: In den fast nur aus Wasserstoff bestehenden Sternen der ersten Generationen bildeten sich schwerere Elemente, die teils mit dem Sonnenwind, teils von gewaltigen Explosionen in den Raum getragen wurden. In den Supernovaexplosionen wurden auch die schweren Elemente wie Gold synthetisiert.

    Viele solcher Supernovae enden als rasend schnell rotierende Pulsare, die sich mit einem Radioteleskop anpeilen und klingend machen lassen - Sternleichen in einem galaktischen Sternhaufen:

    Die Materieblase, aus der unser Sonnensystem entstand, hatte alle Zutaten, die man für wohnliche Welten braucht. Und aus Gründen, die bis heute nicht verstanden sind, nahmen die Planeten ihren Platz einem sehr simplen, nahezu melodischen Zahlenspiel folgend ein, das im 18. Jahrhundert die Herren Titius und Bode entdeckt bzw. bekannt gemacht hatten. Und versetzt man die Umlauffrequenzen der Planeten in den hörbaren Bereich, gibt es einen netten Klang:

    Merkur - Venus -Erde - Mars ... der Asteroidengürtel. Die großen Planeten brummen in diesem Schema zu tief, als dass man sie noch hören könnte.

    Ein sehr wichtiger irdischer Rhythmus entstand durch eine Katastrophe:

    Als die Erde sehr jung war, wurde sie - so ein respektiertes Szenario - von einem großen Himmelskörper so heftig gestreift, dass große Teile ihrer Kruste in eine Erdumlaufbahn geschleudert wurden. Dort fand sich das flüssige und schließlich erstarrende Gestein wieder zu einer Kugel zusammen, die wir noch heute bewundern können - als Mond. Für die Erde - spekulieren namhafte Gelehrte weiter - war der Krustenraub ein Segen: Er machte Platz für die verbleibende Kruste, die mobil wurde und in Platten über den Erdmantel zu gleiten begann. Zwar nur mit der Geschwindigkeit wachsender Fingernägel, was sich im Laufe von Millionen Jahren aber zu beträchtlichen Strecken addieren kann. Die Eifel nahe Köln, das wissen die Geologen heute sicher, hatte einmal an einem tropischen Meer nahe dem Äquator gelegen.

    Und der Segen? Erst diese "Plattentektonik" ermöglicht lang andauerndes Leben im großen Stil, denn sie setzt den Kohlenstoff, den die Lebewesen in Calciumcarbonat, Kalk, binden, wieder frei, wenn die mit Kalksedimenten beladenen Platten in die Tiefe der Erde abtauchen, aufschmelzen und ihre Kohlenstofffracht über Vulkane an die Atmosphäre zurückgeben.

    Und natürlich ließ der Mond auch die Gezeiten entstehen:

    Die Anziehungskraft des Mondes erzeugt in den Ozeanen der Erde auf der Höhe des Äquators Wasserberge, unter denen sich die Erde wegdreht. Das kostet Energie, weshalb die Drehung ganz allmählich langsamer wird. Den Schwung, den die Erde verliert, gewinnt der Mond, der sich beschleunigt und langsam von der Erde entfernt. Den Gravitationsgesetzen folgend muss der Erdentag dann früher kürzer, der Mond früher näher und auch der Monat kürzer gewesen sein.

    Nautilus, das Perlboot, ein kleiner Kopffüßer mit einem hocheleganten spiraligen Perlmuttgehäuse, kann das bestätigen. Seiner Nahrung, dem Plankton, folgend, taucht es jeden Tag einmal auf und ab, was sich in Wachstumslinien seiner Gehäusekammern widerspiegelt. Die Kammern wiederum werden im Monatsrhythmus angelegt. Folglich haben die Kammern der Tiere heute je ungefähr 30 Wachstumslinien. Die Kammern sehr alter fossiler Nautilus-Gehäuse dagegen viel weniger. Vor vierhundert Millionen Jahren, verraten Nautilus-Fossilien, war der Mond doppelt so dicht an der Erde, war sein Anblick riesenhaft, waren die Gezeiten gigantisch.

    Ungefähr zu der Zeit, als die Erde - mutmaßlich - ihren Mond bekam, begannen die ersten Lebewesen an Land zu gehen und dort Laut zu geben. [Patschen] Dann, vor etwa 200 Millionen Jahren, erschienen die ersten Saurier:

    Mit Sorgfalt konstruiert von Jean-Luc Hérelle, der auch die Zeitreise vom Niedergang der Dinosaurier bis zur Gegenwart rekonstruiert hat:

    Das Vogelgezwitscher ist Absicht, denn aller Wahrscheinlichkeit nach sind Vögel die fernen Nachfahren der Dinosaurier.

    Schließlich, in erdgeschichtlich junger Zeit, mischten sich von Bewusstsein bestimmte Töne in den Chor des Lebendigen

    Dem folgten alsbald technische Töne.

    Bis dahin war auf Erden aller Schall flüchtig gewesen, kaum erklungen für immer dahin, sodass, wenn man von Schall spricht, das Jahr 1878 eine wahrhaft erdgeschichtliche Bedeutung hat. Denn in diesem Jahr ließ Thomas Alva Edison seinen so genannten Phonographen patentieren, der erstmals Klänge festhalten konnte:

    " Mary had a little lamb
    its fleet was white as snow
    and everywhere that Mary went
    the lamb was sure to go."

    Thomas Alva Edison, der begnadete Erfinder, aus dessen Walzen das Deutsche Rundfunkarchiv mit moderner Techniken noch Klänge der Kaiserzeit destillieren kann:

    " Der Schutzmann heutzutag'
    hat manche Müh' und Plag,
    hat kolossal zu tun,
    darf Tag und Nacht nicht ruhn' ...

    Es ist der Schutz-, Schutz-, Schutzmann
    zu so manchem nutz,
    wozu er früher viel zu dumm,
    jetzt wünscht es das Präsidium,
    er ist sehr arbeitsfroh,
    der neue Po-, Po-, Po-,
    der neue Polizeipräfekt,

    den wir in Teltow ham entdeckt."

    Und da Klänge nun gesammelt werden konnten, entstanden auch Klangarchive, und darunter ganz besondere, wie das Tierstimmenarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin. Das hat um die 110.000 Tonaufnahmen gespeichert, darunter auch sehr menschlich anmutende:

    " Orlando! (unverständlich) ist da! Hust, hust! Oh mein Gott! "

    Das ist ein Beo, eine Starenart, die menschliche Stimmen noch weitaus besser imitieren kann als Papageien, Husten eingeschlossen.

    " Hust, hust! Oh mein Gott! "

    Eines der dramatischsten Geräusche der Sammlung, versichert Karl-Heinz Frommolt, der sie pflegt und an ihr forscht, sei Imkern wohl bekannt ...

    "...aber der breiten Öffentlichkeit nicht, das sind Geräusche, die frisch schlüpfende Bienenköniginnen von sich geben, sonst, wenn man an Bienen denkt, denkt man meistens an Summen, aber das ist ein richtiger tonaler Laut, den die frisch geschlüpfte Königin dann von sich gibt."

    " Höööömmm .... Hööömmmm ...."

    Dieser Laut leitet ein Drama von Shakespeareschen Dimensionen ein: Die potentiellen Konkurrenzköniginnen, die - wenn sie denn schlüpften - den Staat spalten würden, sozusagen eine Camilla-Fraktion hier, Diana-Gefolgsleute dort ... die möglichen Konflikte werden im Keim erstickt, dadurch, dass die nach dem Erstschlupfton reifenden Königinnen - gekillt werden.

    " Es darf ja nur eine Königin schlüpfen, und die anderen werden dann getötet. Und das ist dann auch das Signal, dass der Schlupf erfolgt ist, wenn man in den Bienenstock reingeht, dann wird man hören, dass da nicht nur ein Tier ruft sondern dass mehrere Tiere rufen, aber wenn dann eine Königin geschlüpft ist, dann ist das ein richtiger tonaler Laut und die anderen, die quäken dann nur so."

    Die Berliner Tierstimmensammlung wird für Bildungsarbeit, aber auch für die Wissenschaft genutzt. So interessieren sich Forscher etwa für die Amselstimmensammlung, weil sie wissen wollen, ob sich die Art des Gesangs unter dem Einfluss des wachsenden Umweltkrachs verändert.

    Zu den Beständen des Archivs zählt seit neuestem auch ein balzendes Vogelspinnenmännchen. Das muss die Spinnenfrau seiner Wahl mit Bodenschall davon überzeugen, dass es von der richtigen Art ist. Hier balzt ein Männchen ein Weibchen in einem Schuhkarton an; Körperschallmikrofone unter dem Schuhkarton haben die leidenschaftliche Werbung festgehalten.


    Während reine Tierstimmen von eher akademischem Interesse sind, sollten Klangbilder ein breiteres Publikum finden können. Groß ist der Markt allerdings nicht, die Platten sind allenfalls unter der Rubrik "Spezialaufnahmen" großer Ketten zu finden, oder im Internet. Infolgedessen ist auch die Zahl der Klangbildsammler überschaubar. Zu den großen zählt der Amerikaner Dan Gibson, dessen preisgekrönte Reihe "Solitudes" unter anderem in die amerikanischen Nationalparks führt, so auch in die nächtlichen Sümpfe des Südens ...

    Von höchster Brillanz: Die Kunstkopf-Aufnahmen Walter Tilgners, auf dessen CDs man mitunter einzelne Schneeflocken fallen hört. Hier freilich ist Sommer am Waldbach:

    Die französische Firma Sitelle bietet Aufnahmen aus aller Welt an, eine der schönsten CDs kommt aus der Nachbarschaft - "Polnische Wälder":

    Firmen wie Rykodisc führen sogar Dauergewitter im Programm, die jedes Mietverhältnis sprengen könnten:

    Unter den deutschen Naturtonkünstlern fällt Michael Schubert mit seiner Reihe "Hörexkursion" unter dem Label "syrinx" auf. Lange Zeit ebenfalls mit der Humboldt-Universität und ihrem Tierstimmenarchiv verbunden, hat Michael Schubert schon zu DDR-Zeiten Schallplatten mit Naturgeräuschen produziert. Die mit einem modifizierten Kugelkunstkopf gemachten Hörexkursions-CDs sind technisch überzeugende, liebevoll ausgewählte, kurzweilige Klangkollagen zu Themen wie "Ein Jahr im Wald" oder "Ein Sommertag im Dorf". So wie da könnte es in Tolkiens Mittelerde geklungen haben, sieht man von den gelegentlichen Motorgeräuschen ab - ein guter Kopfhörer führt also geradewegs nach Hobbingen, ins Auenland!

    " Ich finde, es ist mindestens ebenso wichtig für ganz viele Menschen, dass sie einfach lauschen, dass sie sich entspannen können, dass sie mit ihren Phantasien irgendwie, und mit ihren Erinnerungen, landen können und dass man ihnen dafür vielleicht mal eine Brücke baut, dachte ich mir, könnte wichtiger sein als sich einzureihen in die Vielzahl von Leuten, die nun also die Stimmen einzelner Tierarten sammeln."

    Das Sammeln solcher Töne ist ein wenig auch Chronistenpflicht, denn es lässt sich absehen, dass es mit der tönenden Landwirtschaft bald ein Ende hat.

    " So gibt es also heute viele, viele Wohndörfer, gerade in den Randbereichen der Städte, und da findet man denn eben diese klanglichen Bilder von einst nicht mehr, und das ist bedauerlich, aber sicher auch nicht künstlich aufrecht zu erhalten."

    Die bunten Klangteppiche brauchen eine kleinzellige Landwirtschaft; der "Sommertag im Dorf" wurde denn auch in einem norddeutschen Dorf aufgenommen. Die zu DDR-Zeiten angelegten großen Strukturen, die wirtschaftlich ja als vorbildlich gelten, bringen einen stummen Frühling, meint auch Michael Schubert:

    " Ansonsten ist es doch so, dass gerade eben hier im Osten die großen und sehr großen Feldflächen einfach allzu wenig an Tierarten noch beherbergen, das konzentriert sich dann doch sehr merklich auf irgendwelche Strukturen, die vielleicht noch irgendwo als Rudimente erhalten geblieben sind, aber der völlig platte Acker ist fast völlig frei von Feldlerchen und anderen Arten und insofern für jemanden, der mit den Ohren spazieren geht, und mit den Augen allemal, sehr langweilig geworden."

    Wer heute noch die alte Welt hören will, muss sich auf ausgesuchte Gebiete beschränken:

    " Das ist insbesondere in Polen der Fall, Mittel- und Ostpolen, und hierzulande sind es dann Bereiche in Mecklenburg und in der Uckermark, die dazu noch geeignet sind. Man muss eben ein ganzes Stück von den großen Städten entfernt sein und von den zunehmend häufiger werdenden Autobahnen und belebteren Straßen, und die zweite Forderung ist eben eine zeitliche, man muss wenn irgend möglich sehr, sehr früh zu Wege sein, also möglichst noch vor Sonnenaufgang und möglichst an Wochenenden oder Feiertagen, weil dann eben doch die Landschaft von den Menschen kaum genutzt wird."

    Michael Schubert hat sich auf die Herrgottsfrühe eingestellt:

    " Das sind dann so meine Zeiten, und wenn die Leute aufwachen, dann könnte ich schon wieder zu Hause sein, aber dann liege ich manchmal doch irgendwo am Waldrand noch in der Sonne und schlafe ein Stündchen nach. Aber dann habe ich was Gutes im Kasten."

    Das Interesse der Klangsammler und -komponisten beschränkt sich nicht auf Naturgeräusche. Uli Aumüller, Kopf der Berliner inpetto-Filmproduktion und Produzent einer CD-Reihe, mit der man sich, wie er sagt, seine Wohnung akustisch tapezieren kann, nimmt lange Szenen auf, mit deren Hilfe die Provence, ein Krakauer Park, der Picknickplatz unter einem Kärntener Kirschbaum aber auch einer Windmühle gedanklich Gestalt annehmen können. Oder - in " ... wenn dein starker Arm es will" - ein Berliner Kabelwerk:

    Solche Szenen, sagt Uli Aumüller, ließen sich fallweise besonders gut in einem Kino - mit geschlossenen Vorhängen - genießen.

    " In Kinos deswegen, weil es dort Lautsprechersysteme mit acht Kanälen oder vielleicht auch mit mehr Kanälen gibt, die man nicht extra aufbauen muss, wo dann aber bei einer Vorführung der Vorhang zu bleibt und das Kino im Kopf der Zuschauer stattfindet. In der Vorstellung. Man spricht dann auch von Klangskulpturen, die sich im Raum dreidimensional bewegen können."

    Und manchmal gehen dann Kunst, Natur und Technik ganz unerwartete Verbindungen ein - diese war in Arte zu sehen:

    " Der Film "Mein Kino für die Ohren" ist ein Portrait des französischen Komponisten Francis Dhomont, der eben Elektroakustik macht, dem ich den Auftrag gegeben habe, das Frühlingskonzert von Vivaldi erneut zu komponieren. Also dieses Konzert, dem liegt ein Gedicht zugrunde, das möglicherweise Vivaldi selber geschrieben hat, in dem sehr viel von Geräuschen die Rede ist. Murmelnde Bäche, zwitschernde Vögel, Bellen des Hundes, das Tanzen von irgendwelchen Nymphen und dergleichen mehr, ja, und dann ist Francis durch die kanadische Landschaft in dem Fall getapert und hat diese Geräusche aufgenommen, die Vivaldi erwähnt und hat das dann neu gemixt und auch mit Instrumenten bearbeitet, bis eben ein neues Frühlingskonzert angeregt von Vivaldi im Verlauf dieses Films entstanden ist."