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Die Welt auf zehn Quadratmetern

Der Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler ebnet in seinem Buch "Reisender Stillstand" den Weg in die sogenannten Zimmerreisen. Jenes literarische Genre zeigt auf amüsante Art, wie man sich möglichst weit vom gegenwärtigen Aufenthaltsort entfernt, ohne sein Zimmer dabei tatsächlich zu verlassen.

Von Angela Gutzeit | 27.06.2010
    "Reisende", so der französische Schriftsteller und Journalist Alphonse Karr...

    "Reisende sind merkwürdige Wesen, die große Distanzen zurücklegen und viele Kosten dafür in Kauf nehmen, Neues zu sehen, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, den Blick auf die eigenen Füße oder ihre Köpfe zu richten, wo sich so viel Einzigartiges und auch Unbekanntes abspielt, wie man es sich nur wünschen kann."

    Alphonse Karr war ein bürgerlicher Exzentriker des 19. Jahrhunderts. Der Autor gründete das satirische Magazin "Les Guepes" ("Die Wespen"), bewohnte in Paris ein Domizil, das er orientalisch ausstaffierte. Die milchweiß und violett getönten Scheiben ließen keinen Blick nach draußen zu. Während Karr sich in seinen vier Wänden einen Imaginationsraum schuf, der die verklärte Ferne im orientalischen Interieur aufscheinen ließ, war sein eigentliches Reich der Garten. Er bereiste ihn täglich.

    In seinem zweibändigen Werk "Voyage autour de mon jardin" (1845) hat Alphonse Karr auf fast 700 Seiten seine Anschauungen zu Leben und Verhalten der Pflanzen und Insekten zu Papier gebracht. Nicht der Garten als naturwissenschaftliches Labor ist hier angesprochen, sondern als ein Ort der Metaphysik und des Gleichnisses. Im Kleinen entdeckt Karr eine zentrale Gesetzmäßigkeit, die Mikro- und Makrokosmos verbinden: "Alles reist" - der Käfer auf dem Blatt, die Gallwespe, die Zugvögel, ja sogar die Jahreszeiten. Warum also in die Ferne schweifen, wenn sich die Schöpfung im eigenen Garten auf kleinstem Raum in ihrer ganzen Komplexität nachvollziehen lässt?

    Das ist nur eines der vielen Beispiele aus über zwei Jahrhunderten, die der Konstanzer Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler vornehmlich aus der französischen Literatur- und Geistesgeschichte ans Tageslicht befördert hat. Man mag diese sogenannten "Zimmerreisen" für ein Kuriosum halten, und in der Tat sind ja die meisten von Stiegler ausgegrabenen Autoren und Autorinnen kaum bekannt. Aber so, wie sie der Literaturwissenschaftler chronologisch zusammenstellt, ihre Schriften miteinander korrespondieren lässt, eröffnen sich faszinierende Deutungsräume, die weit über das Buch hinausweisen.

    Das Genre der "Zimmerreise" geht auf Xavier de Maistre und sein Buch "Reise um mein Zimmer" aus dem Jahr 1794 zurück. Die Wirkungsgeschichte dieses Büchleins, so zeigt Stiegler, ist enorm. Hier setzt er an, um die Entfaltung des Genres zu verfolgen. Dabei versteht Stiegler sein Buch offensichtlich selbst als Reise - eine Zimmerreise durch die Literatur, die weit ausholt, ja, die sogar das Internet mit einbezieht, aber dann am Ende doch einem Buch das letzte Wort lässt. Was die Stationen dieser Reise auf kleinstem Raum über das Weltverhältnis der Menschen in ihrer jeweiligen Zeit aussagen - das ist der rote Faden von Stieglers Studie. Mit Spannung und Verwunderung folgt man ihr über fast 300 Seiten.

    Es lohnt sich, einen Moment bei Stieglers erster von 21 Etappen zu verweilen, bei Xavier de Maistre und seinem Buch "Voyage autour de ma chambre".

    Xavier de Maistre war ein französischer Offizier. Wegen eines Duells im Jahre 1790 bekam er sechs Wochen Zimmerarrest. Diese Strafe saß er - und das ist wortwörtlich gemeint - in höchst vergnüglicher Weise in seinem Sessel ab. Jeden Morgen legte er Reisekleidung an, um dann mit den Augen auf Entdeckungsreise zu gehen - ausschließlich in seinem Zimmer. Er nahm die Alltagsgegenstände, die Bilder an der Wand, sein Bett, die Bücher, den Schreibtisch, aber auch seinen Diener und seinen Hund in den Blick. So eröffnete er sich einen neuen Erfahrungsraum. Er sah sich plötzlich doppelt. Hier sein Körper im Sessel und dort seine reisende Seele, die Dinge und Wesen auf neue Art verknüpften und damit dem Alltag, wie er begeistert kundtat, wunderbare Entdeckungen und philosophische Höhenflüge über das eigene Ich entlockten. Diese Erfahrungen brachte er zu Papier. Noch heute bereitet die Lektüre dieses Buches großes Vergnügen. Eine Kostprobe:

    "Ich hob den Kopf aus den Falten meines Reisegewands, in die ich mich vergraben hatte, um bequem nachdenken zu können (...) Ich glitt in meinen Sessel ganz nach vorne, stellte beide Füße auf die Kaminkante (...). Dies ist eine köstliche Haltung. (...); ich glaube, es wäre schwierig, eine andere zu finden, die so viele Vorteile vereint und so bequem ist für die unvermeidlichen Pausen auf einer langen Reise."

    "Laßt uns mutig aufbrechen. (...) Alle Unglücklichen, Kranken und Gelangweilten des Universums mögen mir folgen. (...) Alle Faulen mögen sich in Massen erheben! Und ihr, die ihr in euren Köpfen irgendeiner Treulosigkeit wegen finstere Pläne der Einschränkung oder des Rückzugs wälzt; (...) lasst ab von diesen düsteren Gedanken , glaubt mir, ihr büßt einen Moment des Vergnügens ein, ohne einen für die Weisheit zu gewinnen; geruht mich auf meiner Reise zu begleiten; wir werden in kleinen Tagesreisen voranschreiten und unterwegs über die Reisenden lachen, die Rom und Paris gesehen haben..."

    Das 18. Jahrhundert ist das der großen Welt- und Entdeckungsreisen. Als Xavier de Maistre sein kurioses Buch schrieb, hatte zum Beispiel der britische Seefahrer James Cook seine Fahrten durch den Pazifischen Ozean bereits gemacht. De Maistres Zimmerreise kann also durchaus als eine ironische Distanzierung von den zahlreichen Geschichten über Heldentum und maritime Abenteuer gelesen werden. Warum sonst sollte er die Eintragungen der Fahrtenbücher nachahmen?

    "Mein Zimmer liegt, nach den Messungen des Paters Beccaria, auf dem 45. Breitengrad; es ist von Ost nach West ausgerichtet und bildet ein Rechteck mit einem Umfang von sechsunddreißig Schritt, wenn man ganz dicht an der Wand entlangstreift."

    Xavier de Maistres Zimmerreise hat im 19. Jahrhundert zahlreiche Nachahmer gefunden. Bernd Stieglers Buch ist eine wahre Fundgrube der merkwürdigsten Beispiele aus diesem Genre der Reise-Experimente en miniature. Zur Spannbreite seiner Fundstücke schreibt er:

    "Von Ende des 18. bis zum späten 19. Jahrhundert entstehen eine Vielzahl von Miniaturreisen, bei denen die Schwelle eines Zimmers oder Hauses oder die Grenzen einer Stadt nicht überschritten werden: Man bereist die Hosentaschen, das Zelt oder die Schublade, das Zimmer des Tags wie des Nachts, die eigene Bibliothek oder immerhin eine Großstadt wie Paris, die, wie der passionierte Fernreisende Arséne Houssaye, selbst dem Pariser immer noch eine unbekannte Welt ist ..."

    Es ist durchaus sinnvoll, dass Stiegler diese Zimmerreisen als Reflex auf die zunehmende Erforschung des Erdballs bewertet. Die Menschen im 19. Jahrhundert konnten deren Wahrheitsgehalt kaum überprüfen und so zog man sich - halb ironisch, halb verunsichert - in die vertraute Nische zurück, um sich des eigenen Standorts zu versichern. So schreibt ein gewisser Alois Schreiber in seinem Buch "Reise meines Vetters auf seinem Zimmer" im offensichtlich direkten Anschluss an de Maistres Veröffentlichung:

    "Willst du mein Begleiter sein? ich werde dich weder zu den Trümmern von Palmyra, noch zu den Pyramiden oder Spitzsäulen, wie unsere Sprachbereicherer sie nennen, noch nach Mecca, zu dem Grabe des Propheten, noch nach Kaufbeuren zu dem Sarg der heiligen Walpurgis führen: sondern auf mein kleines, stilles Zimmer. Du kannst bei mir seyn, wie zu Hause!"

    Weitere Expeditionen in die Nähe schließen sich an: Sophie La Roche beschreibt in ihrem zweibändigen Werk "Mein Schreibtisch" in einer Art "Listenpoesie" alle Gegenstände an ihrem Arbeitsplatz, alle Bücher in ihrer Bibliothek und imaginiert eine Italienreise als eine der zahlreichen Etappen ihrer Zimmerreise. Arthur Mangin unternimmt in seinem Buch "Voyage scientifique autour de ma chambre" eine naturkundliche Expedition durch sein Zimmer und erforscht dort "Klima, Lage, Staatsform, Bevölkerung, Flora und Fauna". Georges Aston lässt in seinem Roman "L‘ami Kips" seinen Helden das florale Leben vom Keller bis zum Dachboden eines Hauses untersuchen.

    "Es ist nicht notwendig, weit weg zu gehen, um die tausend unterschiedlichen Arten der Pflanzenwelt zu finden. Sich auf einen kleinen Raum zu beschränken, aber in möglichst gründlicher Weise fast bis ins letzte Detail die vorgefundenen Phänomene zu studieren, ist die beste Art und Weise, sich solide und ernsthaft zu bilden. (...) Es will mit Methode gelernt sein, vergessen wir das nicht. Wir durchschreiten das gesamte Haus gemäß der ‚Natur der innewohnenden Ordnung‘ (...) Wir beginnen im Keller und werden auf dem Dachboden enden."

    Bernd Stieglers Expedition durch die Literaturgeschichte der Zimmerreisen ermuntert dazu, eigene Lektüreerlebnisse dieser Art hinzuzufügen. In diesen Kosmos passt beispielsweise durchaus der gerade erschienene erste Band in deutscher Sprache des französischen Entomologen und Schriftstellers Jean-Henri Fabre mit dem Titel "Erinnerungen eines Insektenforschers". Fabres Werk erschien Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, und fast wäre er dafür mit dem Literaturnobelpreis belohnt worden. Fabres wunderbares Werk über die Größe des Lebens im Kleinen, über die Schöpfung, die sich im reichhaltigen Mikrokosmos des Insektenlebens offenbart, hat genau das, was offensichtlich im Kern alle von Stiegler genannten und ernstzunehmenden 'Zimmerreisen' des späten 18., des gesamten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts gemeinsam haben: Sie gleichen Meditationen über Grundfragen der Existenz und versichern sich des eigenen Standorts in der Welt.

    Warum nun gerade in Frankreich die Zimmerreise ihre größte Verbreitung erlebte - das allerdings hätte in Bernd Stieglers Buch einer näheren Erklärung bedurft. Der Autor macht zwar in einer chronologischen Reise bis ins 21. Jahrhundert interessante Abstecher - zu Walter Benjamin, Samuel Beckett und Peter Handke, aber auch diese lassen mit manchen thematischen Bezügen - zumindest überwiegend - in den französischen Kontext einordnen. Warum also gerade Frankreich? Frankreich war im 19. Jahrhundert besonders in der Zeit nach der französischen Revolution und dem Zusammenbruch des Ancien Regimes starken gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Umbrüchen ausgesetzt. Die Moderne mit ihren Widersprüchen und ihrer Heterogenität prägte das Land in dieser Zeit wie kein anderes.

    Frankreich war im 19. Jahrhundert, dies könnte ein weiterer Aspekt sein, hinter Großbritannien zur zweitgrößten kolonialen Weltmacht aufgestiegen. Berichte und Gegenstände aus Afrika hielten Einzug in das bürgerliche Interieur und belebten die Phantasie, lösten aber auch Befremden aus. Sich des Eigenen zu vergewissern, indem man in einer sich rasant verändernden Welt das Zimmer, den Garten oder die Wunderwelt der Passagen von Paris abschritt - Walter Benjamin hat als Chronist des Flaneurs in diesem Ambiente bei Stiegler zu Recht seinen festen Platz - dieses Abschreiten schuf offenbar Sicherheit und traf in Frankreich den Nerv der Zeit.

    Diese Sicherheit, so lässt sich resümieren, ist im 20. Jahrhundert hier wie dort gründlich verloren gegangen. Aber die Zimmerreise hat überlebt. Bevor der Literaturwissenschaftler dafür Beispiele anführt, die nun allerdings etwas disparater ausfallen, hält er in der Mitte des Buches inne, um Rückschau zu halten.

    "Zimmerreisen dienen der Erkundung und Affirmation von Ordnungen. Nicht selten gerät mit der Zimmerreise diese Ordnung erst in den Blick. Doch alle Reisen bis (Jules) Vernes mathematisch genauer Umrundung der Erde sind Erkundungen von Ordnungen und dienen letztlich ihrer Stabilisierung. Es ist eine dichte Welt, die sich dem Blick darbietet. eine Welt ohne Löcher, ein Sein ohne Sprünge, ein Leben ohne Riß."

    Wann genau sich dieser Riss auftut und sich fortan auch nicht mehr schließen wird, bleibt bei Stiegler etwas vage. Fassen wir seine verschiedenen Hinweise zusammen, so könnte man sagen: Die rasante Beschleunigung in der modernen Existenz, der zunehmende Zweifel an der Überlegenheit der eigenen Kultur, die Entzauberung der Welt durch ihre Eroberung, Erforschung und Beschreibung hat den Zimmerreisenden aus seinem Paradies, das ihm einst die ganze Welt bedeutete, vertrieben. Und noch etwas ließe sich ergänzen: Wenn der Schriftsteller Raymond Roussel auf seiner Reise mit dem Wohnwagen von Paris nach Rom im Jahre 1930 weder der Landschaft draußen noch den Dingen in seinem Reisemobil eines Blickes würdigt, ja, nicht mal einen Fuß vor die Tür setzt, sondern sich ausschließlich auf das Blatt konzentriert, auf dem er während der Reise Wort an Wort reiht, dann kann man das - wie Stiegler - durchaus als Versuch deuten, die Welt im Text noch einmal einzufangen.

    Aber dies erscheint doch eher wie ein verzweifelter Versuch - angesiedelt nach einem verheerenden Weltkrieg und vor der Kulisse einer erneuten Destabilisierung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Wenige Jahrzehnte später bereitet Samuel Beckett nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, dem ungeheuren Morden in den Lagern und an den Fronten diesem Versuch der erneuten Weltaneignung im Mikrokosmos des Textes ein Ende. Die Zimmerreise, so schreibt Bernd Stiegler, werde bei Beckett in den Kopf seiner Protagonisten verlagert. Sie verharren auf einem Fleck, einen Bezug zur Außenwelt gibt es nicht mehr, der Raum, ja sogar der Körper wird zum Gefängnis und die Gedanken drehen sich unentwegt und sinnentleert im Kreis.

    Es ist übrigens eine meisterliche Leistung, wie der Literaturwissenschaftler an dieser Stelle den Bogen schlägt von Xavier de Maistres freudigem und erkenntnisreichem Seelenflug durch sein Zimmer zu Becketts Bildern der Eingeschlossenheit der menschlichen Seele.

    Aber die Zimmerreise, so lesen wir bei Stiegler, ist immer wieder auferstanden - so wie sie sich auch aus der Sackgasse von Becketts ‚Endspielen‘ befreit hat. Offensichtlich erfüllt sie eine wichtige Funktion. Sie bahnt sich in immer neuen Ausprägungen ihren Weg und markiert ein Innehalten, ein Stemmen gegen den brausenden Sog der Zeit.

    An dieser Stelle hätte die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger gut ins Konzept gepasst. In ihrem Buch "Unglaubwürdige Reisen" schreibt sie:

    "Wichtig wäre es, mit der Langeweile im eigenen und kollektiven Leben umgehen zu lernen, die scheinbare oder wirkliche Bewegungslosigkeit nicht mit erfundenen Aktivitäten und Betriebsamkeit vollzustopfen. Einmal nicht zu reisen, sondern die Landschaft vor dem Fenster oder die Landschaft des eigenen Lebens auf sich zukommen lassen. (...) Deshalb ist es mir lieber, immer dieselben Wege zu gehen oder dieselben Strecken zu fahren. Die Qualität der Entdeckungen wächst, bringt Ruhe und neue Aufbruchsmöglichkeiten."

    Bevor Stiegler seinen eigenen melancholischen und doch positiv gestimmten Schlusspunkt zu seinem Thema setzt, lässt er uns noch einmal staunen über das, was heute so als Zimmerreise daherkommt oder - besser gesagt - von ihm in diesen Kontext integriert wird.

    Gerade gewinnt ein spaßiges Experiment im Internet an Bekanntheit, das auch Stiegler in seine Sammlung der modernen Zimmerreisen einreihte: Das Künstlerpaar Monica Studer und Christoph van den Berg bietet virtuelle Ferien in einem Berghotel an. Man kann sich da für fünf Tage kostenlos einmieten. Die Nachfrage ist offensichtlich enorm: Mehr als 10.000 Gäste soll das alpine Hotel bereits beherbergt haben. Die computergenerierte Ferienwelt biete – so der Veranstalter - Ruhe, Erholung und absolute Abgeschiedenheit von anderen Gästen. Also, no chatroom!

    Das Anbandeln mit anderen Besuchern ist nicht möglich. Dafür gemächliches Wandern in der Umgebung und in Räumen mit ihrem Dekor der 60er-Jahre. Ironisch spielen hier die Schöpfer dieser Kunstwelt mit Sehnsuchts- und Erinnerungsbildern. Eine hinterlistig-nostalgische Kuriosität auf Erfolgskurs. Das Hotel soll noch ausgebaut werden!
    Und dann "Die letzte Reise" in Stieglers Buch, die 21. Etappe. Der spanische Schriftsteller Julio Cortázar und seine kanadische Frau Carol Dunlop unternahmen 1982 eine ebenso bizarre wie romantische Entdeckungsreise auf der Autobahn zwischen Paris und Marseille.

    Die Bedingung war, die Autobahn nicht zu verlassen und täglich zwei Rastplätze anzufahren, die sie mit größter Akribie erkundeten, um ihre Entdeckungen - wie einst die Seefahrer - minutiös in einer Art Logbuch festzuhalten. Die Fahrt war als letzte Reise geplant, denn beide Teilnehmer waren unheilbar an Leukämie erkrankt. Inmitten des Getöses und des Wahnsinns der Beschleunigung setzten sie mit dieser "friedfertigen Erkundung eines langgezogenen, geschlossenen Mikrokosmos", wie Stiegler formuliert, als reisende Liebende ein widerständiges Zeichen.

    Ausgerechnet einem eher öden Ort wie dem Autobahn-Rastplatz beglückende Entdeckungen und existenzielle Erfahrungen entlocken zu wollen, ist in der Tat ein verwegenes Unterfangen. Dem Paar ging es ja nicht nur darum, ihrer Liebe unter widrigsten Bedingungen einen Raum zu geben, sondern auch und gerade um den Versuch, die Zeit stillzulegen am Ort ihrer größten Beschleunigung. In ihrer akribischen Erkundung eines geschlossenen Milieus, das von ständigen An- und Abfahrten durchquert wird, entzifferten sie die Insignien unserer rastlosen Wirklichkeit.

    Stieglers inspirierendes Buch lädt also dazu ein, immer wieder selbst Verknüpfungen vorzunehmen und im assoziativen Gedankenflug durch eigene Lektüren nach weiteren Beispielen zu forschen. Dabei fällt auf, dass der moderne Zimmerreisende offensichtlich nicht mehr in seinem privaten Interieur oder in der Natur Antworten auf seine Fragen sucht, sondern eher an den Knotenpunkten seines unsteten Lebens. So erkundete zum Beispiel der in England lebende Schweizer Schriftsteller Alain de Botton 2009 den Flughafen Heathrow. Sein Platz war ein Schreibtisch im Durchgang zu Terminal 5. Seine Beobachtungen sind nachzulesen in seinem neuen Buch "A week at the airport".

    "Reisen bedeutet, sich an den Tod zu gewöhnen" - so zitiert Bernd Stiegler zu Beginn seines letzten Kapitels über die Autobahn-Tour des todkranken Autorenpaares Dunlop/Cortárzar den französischen Schriftsteller Arsène Houssaye. Touristische Fernreisen kann Houssaye damit nicht gemeint haben. Eher die Zimmerreise, den "reisenden Stillstand", als Durchmessen von Erfahrungsräumen, in dessen Zentrum man sich selbst begegnet. Diese Erfahrungsräume, so vermittelt uns Bernd Stiegler in seinem klugen wie auch elegant geschriebenen Buch, haben sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Und somit auch die Formen der Zimmerreise. Das Bedürfnis innezuhalten, um dem kurzen Leben im immer schneller rotierenden Weltgeschehen einen Sinn abzutrotzen, das jedoch ist geblieben.

    Bernd Stiegler: "Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte der Reisen im und um das Zimmer herum" S. Fischer Wissenschaft, 288 Seiten, 22.95 Euro