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Die Welt braucht Europa

Ob Kongo, Afghanistan, Irak, Iran, Nahost oder das Kosovo: Die Liste der Missionen europäischer Nationalstaaten im Ausland ist lang. Doch eine wirklich gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union gibt es nicht, auch weil die EU-Verfassung gescheitert ist. Dazu der Brüsseler Korrespondent der Wochenzeitung "Die Zeit", Joachim Fritz-Vannahme, in der Europakolumne.

    Es gibt Zitate, die darf man eigentlich in keinem Kommentar mehr zitieren, weil sie längst ausgelutscht sind. Zum Beispiel das Spottwort von Henry Kissinger, einst Außenminister der USA. Wessen Telefonnummer er in Europa eigentlich wählen solle, witzelte Kissinger einst. Sein Spottwort hat sich gehalten und wird von Kommentatoren gern im Munde geführt wie eine magische Formel, die alle Kinderkrankheiten der europäischen Außenpolitik bündelt.

    Stimmt schon, o Henry, die eine patente Telefonnummer für die europäische Außenpolitik gibt es bis heute nicht. Aber die Erfahrung der letzten Monate und Jahre zeigt, dass die Mächtigen in Kinshasa oder Kabul, in Teheran, Damaskus, Jerusalem oder meinetwegen in Pristina kein Problem damit haben, eine Handvoll Telefonverbindungen in Richtung Europa zugleich zu bedienen.
    Und täuscht der Eindruck, dass vielen dabei die internationale Vorwahl 00-1, die Verbindung in die Vereinigten Staaten längst nicht mehr am nächsten liegt?

    Die Standleitung ins Weiße Haus jedenfalls, die eine Telefonnummer also, die Henry Kissinger als weltpolitisches Patentrezept empfahl, ist zusehends zweite Wahl, seit dort alle glauben, alles am besten zu wissen - und für ihren Hochmut bitteres Lehrgeld bezahlen. Womit wir am eigentlichen Punkt angelangt sind. Die Welt braucht Europa, und das selbst dann, wenn man dafür wie jüngst im Libanonkrieg oder in der Kongokrise eine ganze Reihe von Gesprächspartner anwählen muss. Und deren Antwort hernach schweißtreibend lange auf sich warten lässt.

    Im Jargon der Globalstrategen heißt eine solche Politik multilateral, auf gut deutsch vielseitig - was fast schon nach einem Vorzug klingt und sich zusehends auch als solcher erweist. Der Vorzug multilateraler Krisenbewältigung ist es, dass jeder mit jedem spricht. Solana mit Steinmeier, Steinmeier mit Olmert, Olmert mit Chirac, Chirac mit Prodi, Prodi mit Annan und Annan mit allen.
    Das vielseitige Gespräch mag hier ein sanftes Flehen, dort ein leises Drohen, da ein Räsonieren und dann wieder ein scharfes Argumentieren enthalten. Der erste Vorzug des Gesprächs ist es, die Waffen kurzzeitig zum Schweigen zu bringen oder wenigstens das Waffengeklirr für einen wertvollen Augenblick in den Hintergrund zu drücken.

    Der zweite Vorteil des Gesprächs ist es, dass alle sich einig sind, dass niemand so mächtig ist, als dass er alle Probleme mit schierer Gewalt zum Verschwinden bringen könnte, und sei es auch im Namen von Freiheit und Demokratie. Ein aufwendiges, ein lästiges, und oft ein ruhmloses Verfahren. Niemand geht dabei als Held von der Wallstatt, jeder kann nur sein Scherflein zum multilateralen guten Zweck beitragen. Nennen wir es "Engagement", was gut französisch klingt und Hingabe meint. Und nicht amerikanisch wie engagement, wie machtbewusster Trommel- und Truppeneinsatz dröhnt.

    Darum ist derzeit auch niemand in Gefahr, die sieben- oder achttausend Soldaten, aus verschiedenen Armeen von Europa aus unterwegs in den Libanon, gleich misszuverstehen als ein Expeditionskorps. Die Welt braucht nicht nur europäische Telefonpartner, sie braucht auch europäische Truppen. Sie ruft förmlich danach. Ein Grund zur Freude in Europa muss das nicht sein. Allenfalls dient das alles der Einsicht, dass die Welt halt nicht friedvoll ist und uns und unser Europa darum braucht. Und dass auch mit multilateraler Politik nach vielen Telefonaten am Ende mitunter der Frieden ganz ohne Waffen nicht zu schaffen ist.