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Die Wiederaufnahme mythischer Weltsichten

Ein Tag im Leben eines alternden Schauspielers, ein Streifzug durch Wald und Stadt, eine unbekannte Frau: Das neue Buch von Peter Handke trägt Züge eines Märchens, eines großen Gesangs sowie Anklänge an das Leben eines Taugenichts.

Von Helmut Böttiger | 27.03.2011
    Jener Tag, der mit dem Großen Fall endete, begann mit einem Morgengewitter. Der Mann, von dem hier erzählt werden soll, wurde geweckt von einem mächtigen Donnerschlag. Das Haus, mitsamt dem Bett, wird erzittert und für einen langen Augenblick nachgebebt haben. Augenblick: das traf auf den Liegenden dort nicht zu. Aus dem Schlaf geschreckt, hielt er die Augen geschlossen und wartete, wie das Geschehen nun weiterginge.

    Der Beginn des neuen Buches von Peter Handke, das er programmatisch eine "Erzählung" nennt, lässt schon ein bisschen erahnen, wohin der Leser hier geführt wird. Es ist noch eine eher dunkle Ahnung, aber wie der titelgebende "Große Fall" hier gleich im ersten Satz eingeführt wird, hat etwas leitmotivisch Drohendes und Verlockendes zugleich. Handke schreibt ihn wie einen Eigennamen, mit großen Anfangsbuchstaben, "Großer Fall", ohne näher auszuführen, was es damit auf sich haben könnte. Und das wird auch so bleiben. Auf Seite 173 taucht der "Große Fall" unvermittelt wieder auf: die Geschichte spielt an einem einzigen Tag, und er wird hier, in einem Nachhall des allerersten Satzes, erneut "der Tag des Großen Falls" genannt.

    Am Tag des Großen Falls war die Zeit für den Sanften Lauf so früh wie noch keinmal gekommen.

    Mittlerweile ist längst klar, dass es sich hier um keine im überkommenen Sinn realistische Erzählung handelt, es ist ein eigentümlicher Hallraum, in dem die Worte stehen, etwas Märchenhaft-Irreales und doch auch oft Scharfes und Konkretes. Noch ein paar Dutzend Seiten weiter, auf Seite 213, heißt es dann:

    An dem Tag des Großen Falls überfiel ihn die Zeitnot aus einem besonders heiteren Himmel.

    Da haben wir den Helden der Geschichte, einen Schauspieler, schon vom morgendlichen Aufstehen bis zum späten Nachmittag verfolgt, und es wundert uns deswegen fast gar nichts mehr. Oder wundern wir uns jetzt erst recht? Inzwischen hat die Handlung Züge eines Krimis bekommen, nachdem sie vorher bereits ein Märchen gewesen ist, ein Gesang, ein Nachwehen antiker Epen, aber sie hat auch Anklänge an das Leben eines Taugenichts ausgekostet. Am Ende des Tages, am Ende der Erzählung ist der Schauspieler in einer Bar mit der Frau verabredet, mit der er die Nacht vorher verbracht hat und die schon früh am Tag aufbrach. Er sieht sie von weitem und bleibt stehen. Es ist Zeit, auf sie zuzugehen. Doch dann endet das Buch mit dem Satz:

    Stattdessen der Große Fall.

    Auf diesen Großen Fall läuft alles in Handkes neuem Text zu. 278 Seiten lang scheint alles darauf konzentriert zu sein, und der traumhaft-unwirkliche Duktus der Erzählung, ihr hoher Ton verweist darauf, dass es sich hier um die Wiederaufnahme mythischer Weltsichten handelt. Der "Große Fall", diese magische Formel, bleibt als ein Mythem stehen, als kleiner, spezifischer Bestandteil eines Mythos, eine Formel aus der eigensinnigen literarischen Vorstellungswelt des Schriftstellers Peter Handke. Die Erzählung liefert dazu viele kleine Hinweise. Sie zeigt sich von vornherein als eine, die ihren eigenen Gesetzen unterliegt, ein selbstreferenzielles System, das viele Bezüge zu früheren Motiven Handkes enthält. Sie ist poetisch und verspielt, aber gleichzeitig auch getragen, liturgisch und von einer mitunter pathetischen Sprache.

    Der namenlose Mann, dem wir hier folgen, ist als Schauspieler immer auch ein Stellvertreter, ein Symbolträger – doch als Schauspieler auch wandlungsfähig und gewitzt, augenblicksbezogen und mitfühlend. Er ist von seinem Wohnort, der zwei Flugstunden entfernt liegt, in eine Metropole, eine Weltstadt aufgebrochen. Dort soll er eine große Ehrung erhalten, bevor am nächsten Tag die Dreharbeiten zu einem Film beginnen, in dem er einen Amokläufer spielt. Das Haus der Frau, in dem er übernachtet hat, liegt einsam und abgelegen mitten in der Natur. Erzählt wird, wie er sich von diesem Haus zu Fuß aufmacht, durch Wälder und Gestrüpp die Randgebiete der Metropole durchstreift und schließlich bis zum Zentrum vordringt. Und im absoluten Zentrum, auf dem Platz mit der großen Kathedrale, endet der Text. Es gibt also eine Bewegungsrichtung, eine Handlung, aber es wird dabei vieles mittransportiert, was vieldeutig ist. Alles wirkt ein bisschen verrückt und entrückt.

    Eingedrungen in den Wald war er durch die naturgewachsene, brusthohe Brombeerdornenhecke am Saum. Ihr hättet den Schauspieler sehen müssen, wie er ohne ein Zögern, in dem teuren, von der Frau eigens für den Abendanlass ihm gekauften Anzug, erst das linke, dann das rechte Knie hochschwang und die Rankenbarriere niedergetreten und auch schon überwunden hatte, wobei er zugleich die ersten reifen Brombeeren pflückte und sich in den Mund steckte. Eine der Beeren hinterließ einen tiefschwarzen Fleck auf dem, "seinem" frischgebügelten quittenblütenweißen – kein vollkommenes Weiß – Hemd, und eine der Dornkletten, deren hiesiger Name, "ronce", ein stärker sprechender war, riss ihm das Jackenfutter auf. Das störte ihn nicht, es war ihm sogar recht. Auf ähnliche Weise ließ er manchmal das Drehbuch mit einem zu lernenden Text über Nacht irgendwo im Freien liegen, wo es vom Tau gewellt, von einem Regen durchweicht oder vom angekündigten Schneefall eingeschneit würde, als mache erst das so ein Buch zugänglich und zu seiner höchsteigenen Angelegenheit.

    Das Ganze hat eindeutig etwas Theatralisches, und die eingestreute Bemerkung "Ihr hättet den Schauspieler sehen müssen" legt nahe, dass wir hier einer mündlichen Rede zuhören, einem Märchenerzähler vielleicht, einem Bänkelsänger, einem reisenden mittelalterlichen Rhapsoden. Obwohl die unmittelbare Gegenwart unverkennbar ist – Mobiltelefone, Autobahnringe und "Stadtrandwolkenkratzer" prägen unmissverständlich das Bild – hat die Erzählung etwas Zeitloses. Es geht um alltägliche Gegenstände, um den Wechsel der Jahreszeiten, um allgemeine menschliche Bewandtnisse, und es geht im speziellen um die Kunst des Theaters, die Verwandlung und um eine unvermutete Kenntlichmachung und Durchdringung der Wirklichkeit. Handke hat im Lauf der letzten Jahre eine bestimmte Form von Text entwickelt, die sich den landläufigen Genrebezeichnungen fast belustigt entzieht. "Der Große Fall", der jetzt als "Erzählung" firmiert, unterscheidet sich im Formalen keineswegs von seinem letzten Buch "Immer noch Sturm", das keine Gattungsbezeichnung hatte und dennoch vor allem als Theatertext kenntlich war. Zwischen Epischem und Dramatischem gibt es in dieser Handkeschen Form keinerlei Unterschied mehr. Die alten Epen, der Charakter der Mündlichkeit, das zeitlose Erzählen bestimmen den Duktus. Und so ist es kein Wunder, dass der Schauspieler übergangslos von der Commedia dell'arte zu Naturversenkung und Innerlichkeit übergehen kann.

    Unversehens war der Himmel blau geworden. Er war nicht bloß blau, sondern blaute, und blaute. Es war das ein Blauen von einer Zartheit, dass man sich in die Sicherheit gewiegt fühlte, diese Zartheit würde nie vergehen. Vor dem Blauen oben leuchtete darunter der ganze Wald. Und zugleich sah der Schauspieler im Weitergehen das Ausgeleuchtetwerden der Dinge im Umkreis als das Licht eines letzten Tages, "meines letzten Tages", und verbot es sich wieder, derart mit sich zu reden: "Wie leichtfertig du dahinredest. Du darfst nicht so denken. Du darfst nicht. Zeit, dass du unter die Leute kommst."

    Ein wichtiges Motiv für Handke ist das Handwerk, das Ursprüngliche, ohne Industrialisierung und Entfremdung. Der Schauspieler ist ursprünglich Fliesenleger gewesen. Es gibt einmal eine Erinnerung an die Wasserwaage, die mit ihrem Gleichgewicht ein Sinnbild für Ruhe darstellt: die "Luftblase im Auge der Waage", wie sich der Schauspieler erinnert, diese "Ruheblase" ist etwas, was er in die Kunst des Schauspiels überführen will. Aber als er das Haus seiner Freundin verlässt, kommen die komödiantischen Dimensionen dazu: Er greift nach einer Krawatte in grellen Farben, die so gar nicht zu Hemd und Anzug passt, er hat aus Versehen zwei verschiedenfarbige und auch unterschiedlich lange Socken angezogen, und als endgültig aufbruchsbereit fühlt er sich dann, als er einen großen, bäurischen Hut mit mottenlöchriger Krempe aufsetzt und eine Falkenfeder hineinsteckt.

    Auch die Natur nimmt er abwechselnd als unantastbar und von Menschen vergewaltigt wahr, die Szenerie ist künstlich und traumhaft idyllisierend zugleich. Eine Waldlichtung erscheint dem Schauspieler zunächst als Inbegriff des Glücks, bis er etliche Protagonisten der verschiedenen Bevölkerungsschichten dort entdeckt, Jogger und Manager, Landstreicher und rüstige Rentnergruppen, verzweifelte Einzelne und sogar den Staatspräsidenten mit seinem Gefolge. Abrupt wechseln die Stimmungen. Einem Anzugträger im Brombeergebüsch, der nach ausgetüftelten, quasi wissenschaftlichen Prinzipien die Beeren sammelt, wünscht er den sofortigen Tod durch die Hundertschaften von Wespen aus dem Wespennest in der unmittelbaren Nähe, aber auf der Waldlichtung überfällt ihn fast im selben Atemzug ein unendliches Gefühl von Harmonie, von Einssein mit der Welt.

    Diese jähen Schwankungen, dieses Nebeneinander von Poesie, Jähzorn und Gewaltphantasien sind ein Charakteristikum Handkes, und er lässt dies durch seinen Schauspieler exaltiert und ostentativ darstellen. Die poetischen Betrachtungen der Welt jedoch, die kleinen, innigen Momente des Schauens, weisen darauf hin, dass das gesamte Geschehen, der gesamte Text, den wir hier vor uns haben, auf Sinnbilder aus ist und auf Transzendenz.

    Das Platzen des Springkrauts, wenn man es nur leicht streifte: eine Zeitschwelle im Jahr, im Sommer, so wie das Nachwehen der gerade aufgeblühten Haselkätzchen in dem sonst unmerklichen Wind eine Zeitschwelle im Vorfrühling war, und das feine Aufreißen der Nussschalen eine Zeitschwelle im Vorherbst. Noch und noch solche Zeitschwellen im Jahr hatte er einmal gekannt. Aber inzwischen hatte er die allesamt vergessen. Er wusste sie nicht mehr, oder wollte sie nicht mehr wissen; sie hatten, für ihn, ihre Bedeutung verloren. Nur eine der Zeitschwellen konnte und wollte er nicht vergessen: das Kreisen des Adlers, hoch und höher im Himmel, ruhige Spiralen im Blau, sich entfernend und zuletzt wiederkehrend und weiter die Kreise ziehend, während unten auf der Erde, nach Stunden der Stille, die Stunde der noch im einen Grad tieferen, einer stofflichen Stille anberaumt war, in welcher nicht einmal mehr ein Grillenzirpen sich hören ließ, allein sie, die Stille, mit ihrem Zeichen, dem Adler in der Höhe, die Zeitschwelle des Hochsommers. Und indem er jetzt daran dachte, hob er den Kopf, und dort oben in dem Blauen da ging es, wie gedacht so gewahrt, sage und schreibe vor sich, das Adlerkreisen mit reglos gestreckten Schwingen, himmelhoch über all den flatternden, kreuz und quer schießenden, geradewegs durch die Lüfte rudernden Vogelvölkern. Heute war also Hochsommer.

    Der Übergang von der scheinbar entlegenen Natur auf der Hochfläche, mit Wald, Gestrüpp und majestätisch kreisendem Adler, zur Peripherie der Stadt mit ihren Hochhaussiedlungen und Autobahnanschlüssen ist abrupt: der Übergang von Weltferne, Wildnis und Weglosigkeit zur Weltstadtnähe. Solche Wechsel sind in der frühen Literatur, in den Entwürfen der alten Epen häufig, Übergänge von der einen in die andere Sphäre. Darauf spielt Handke genauso an wie auf frühe Vorstellungen eines naiven, ungekünstelten Menschen, der in die Gesellschaft und in die Fallstricke der Kommunikation und der Beziehungen hineingerät; wie nebenbei assoziiert der Schauspieler die Figuren des Parzival und des Kaspar Hauser. Und die Peripherie der großen Stadt, die austauschbaren Bauten, die Anonymität erscheint wie in einem künstlichen Licht, einer Filmkulisse – typisierende Gestalten tauchen auf, Einsame und Verlorene, in einem bestimmten Bereich fallen immergleiche Paare auf, Paare von Uralten und Blutjungen, wie in Endzeitmärchen, die etwas im Schilde führen.

    Auf dem Weg besucht der Schauspieler eine Messe, als einziger, und parallel dazu steigert sich seine Aggressivität: er wundert sich, dass es so wenig Amokläufer gibt, und dass er am nächsten Tag einen Amokläufer spielen soll, bebildert diese unmerklichen Übergänge zwischen Kunst und Leben. Je näher er dem Stadtzentrum kommt, desto endzeitlicher werden die Phantasien und Tagträume des Schauspielers. Das "Urstromland" seiner Kindheit, wie er es nennt, wird immer unerreichbarer. Als Grundmotiv tritt immer deutlicher das des Abschieds zutage, ein Abschied von den gewohnten und liebgewonnenen Bildern des Lebens. Im Gefühl des Abschieds kann auch die Stadt noch einmal an einen poetischen Zauber erinnern:

    Er blickte auf zum Himmel, der über dem Platzrund, trotz der verschwundenen Sonne, immer noch hell war, während an den Horizonten die Schwärze der Gewitterbänke zunahm. Der Abendwind war ein Vorgewitterwind, mit starken Böen, und aus den Himmelhöhen schwirrten, wie von den Parks und Alleen der ganzen Stadt her, Schwärme von Lindenblüten, mit Kügelchen an den Stengeln, spiralten im Fallen um sich selber und stellten, indem sie zudem den Himmel verdüsterten, eine Aufeinanderfolge von auf dem Platz landenden Fallschirmgeschwadern vor. In dem nach den Böen wieder leeren und hellen Himmel formte sich über dem Platz, aus Bahnen von da noch taghellen Wolken, durchschossen von Kondensstreifen, ein firmamentweites Röntgenbild, Rippen, in die Kreuz und in die Quer, wie zerbrochen und fragmentiert das übrige Gerippe, die Röntgenaufnahme eines noch nie gesehenen Wesens. Dieser Himmel oben gehörte nicht zu der Erde darunter, oder umgekehrt. Dazu der Gedanke, er werde nie mehr zurückkehren, in sein Land, in Haus und Garten dort.

    Es sind in dem Text Handkes viele verschiedene Spuren angelegt, die zum Zielort, zum Treffen mit der Freundin in der nächtlichen Bar führen. Im Durchstreifen des Zentrums mehren sich die Motive aus einer Kriminalgeschichte. Der Schauspieler hat das Gefühl, nicht stehenbleiben zu dürfen, geschweige denn irgendwo einzukehren. Es geht ihm darum, heil anzukommen, und er wittert überall Gefahr. Niemand darf wissen, so spricht er es sich selbst vor, dass er "mit einem Diamanten in der Brust" unterwegs ist, und er macht sich schließlich klar: er befindet sich auf einer "geheimen Mission". Plötzlich sieht er ihm "Mörder und Gewalttätige" entgegenkommen, und einmal geht er sogar auf einen los, den er als einen solchen "Killer" erkennt. Wenn das Ziel in Sicht ist, so sagt er sich, ist man versucht, leichtsinnig zu werden.

    Es ist allerdings mit jeder Silbe klar, dass es sich hier nicht einfach um einen Stoff handelt, der mit den üblichen Mitteln von Spannung und Suspense arbeitet – es ist vielmehr ein existenzieller Krimi, ein Rückblick auf das Leben und die Frage, was jetzt noch kommt. Dieser "Große Fall" geht über die gewohnten Fragestellungen der Kommissare hinaus. Der Schauspieler ist dadurch charakterisiert, dass er sich versenken kann, dass er betrachten kann – zwischenmenschliche Beziehungen allerdings sind immer prekär. In den Stadtrandwohnungen sieht er die Nachbarn permanent Kriege führen, und er liebt die Frau, die er gleich wieder treffen wird und die ihn ihrerseits zu lieben scheint, durchaus nicht.

    Auf sämtlichen Rolltreppen stockten die Leute sofort, auch die, welche eben noch gelaufen waren, und ließen sich fahren. Immer wieder welche, die rannten, zu mehreren, zu vielen, und es war kein Sport. Ein Feuerwerk, und noch eins – Feuerwerke? Wirklich? Waren die Menschen zum Krieg verurteilt, bis ans Ende der Zeit? Nirgends Blicke in so offener Feindschaft wie die von Eltern auf ihre Kinder. Und umgekehrt? Nein. Indem er der Liebe zu der Frau bisher ausgewichen war, hatte er ihrer beider Heiterkeit bewahrt. Oder nicht? Welche Sprache war das doch, in der man dem Wort für "Schmerz" einen Hauchlaut zufügte, und es hieß "Welt"?

    Es ist, wie vieles in diesem Buch, schon in früheren Texten Handkes beschrieben worden: Auch wenn ein Paar anscheinend eins ist, genügt ein Wort, und es entsteht eine unüberbrückbare Distanz. Lange vor ihrem vereinbarten Treffen sieht er von außen in einem Café unverwartet diese Frau. Sie spricht mit einer Freundin, und er spürt intuitiv: Sie spricht über ihn, und dabei drückt sie eine Erwartungshaltung aus. Das setzt ihn unter Druck, so wie andere Erfahrungen auf seinem Weg.

    Die Mischung aus Krimielementen und solchen aus dem antiken Gesang, aus Entwicklungsroman und Gesellschaftsporträt wird gegen Ende, im Zentrum der Metropole, immer explosiver – bis, wie als eine Konsequenz daraus, die letzten Seiten des Buches ein Aussetzen der Sprache vorbereiten. Der letzte Satz des Buches – "Stattdessen der Große Fall" – hat kein Verb. Es fehlt das Zeitwort, also die gesamte Bewegung der Sprache. Der Auslöser für diesen Absturz ist offenkundig die Beziehung zu jener namenlosen Frau. Die Begegnung kann nicht mehr stattfinden. Doch das ist nur ein Aspekt dieses Gangs von oben hinab in die Unterwelt der Stadt, dieser Erkundung des Inneren.

    Es ist die alte Paradoxie der Literatur, dass die Erfahrung solch eines Absturzes der Sprache das Schreiben erst möglich macht. Der erste Satz des Buches, der den "Großen Fall" bereits voraussetzt, bereitet im selben Atemzug den letzten Satz vor, in dem der "Große Fall" den Leser förmlich überrumpelt. Die Sprache setzt sich frei – sie wäre sonst ein bloßes Kommunikationsmittel. Handke verdichtet in diesem Buch viele Motive seiner früheren Bücher bis hin zum Manierismus: Er wiederholt und variiert seinen spezifischen Formelvorrat. Er hält dem landläufigen Sprechen einen verstörend hohen Ton entgegen, der an etwas ganz anderes erinnert, an eine imaginäre poetische Einheit der Welt.

    Peter Handke: Der Große Fall. Erzählung.
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 278 Seiten, 24,90 Euro