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Die wilden Jahre sind vorbei

Unverblümten Sex, nackte Gewalt und feministische Töne: Das erwartet man von der französischen Skandalautorin Virginie Despentes. Seit der Verfilmung ihres Romans "Baise-moi", zu deutsch "Fick mich" ist sie auch außerhalb Frankreichs bekannt.

Von Christoph Vormweg | 31.10.2012
    Eine tiefenfrustrierte, motzige, alles andere als hübsche Erzählerin – das erscheint typisch bei Virginie Despentes. Doch ist Lucie kein Outlaw - wie die Protagonistinnen in ihrem Debütroman "Baise-moi", die mordend durchs Land zogen. Lucie dient der vermeintlich guten Seite. Für eine Detektei observiert sie pubertierende Bürgerstöchter wie die 15-jährige Valentine, die zu früh mit den falschen Jungs rummacht und auch schon mal zu harten Drogen greift. Dumm nur, dass sie ausgerechnet während der Observierung durch Lucie spurlos verschwindet. Erschwerend kommt noch hinzu, dass sich Valentine einen "elektronischen Ramadan" verordnet hat und ohne Handy und Laptop lebt.

    "Die Ausgangsidee für "Apokalypse Baby" war, einen "roman noir" zu schreiben, einen Krimi. Aber ich wollte nicht, dass es am Anfang einen Toten gibt. Auch habe ich die Regeln des Genres nicht immer eingehalten. Aber ich mag diese Art Literatur sehr. Sie ist lebendig, ich lese viel davon. Interessant war für mich, dass man als Ermittler in einer Stadt schnell die Orte und Milieus wechseln kann. Aber es spielte auch eine Rolle, dass ich nach Spanien gegangen bin und dort viel von Roberto Bolaño gelesen habe, der sehr viel mit dem Krimigenre flirtet. Roberto Bolaño war für mich eine der wichtigsten Entdeckungen in den letzten zehn Jahren. Das hat Einfluss auf meine Entscheidung gehabt, einen Kriminalroman zu schreiben, der ein wenig bizarr ist."

    Bizarr ist vor allem die Co-Ermittlerin, die Lucie für den Fall engagiert: die sogenannte Hyäne, eine Kampflesbe, die sogar muskelbepackte Männer in die Knie zwingt. Ihre Aggressivität und ihr sarkastischer Humor erinnern an frühere Roman-Heldinnen von Virginie Despentes. Dabei wird sie nicht nur aus der Perspektive von Lucie beschrieben. Die Hyäne bekommt, wie alle in den Fall verwickelten Hauptfiguren, auch ein eigenes Kapitel, geschrieben in der personalen Erzählperspektive.

    "Sich vorzustellen, was in den Köpfen anderer abläuft – das habe ich anfangs in meinen Romanen nicht gemacht. Ich habe auf einer anderen Energie begonnen. Aber nach und nach habe ich auch an so etwas Spaß gefunden. […] Sicher ist, dass ich mit 43 Jahren völlig anders schreibe als mit 23. Denn in der Zwischenzeit hat sich viel verändert: wie ich bin, was ich lese, wie ich schreibe. […] Ich bin nicht mehr die Person, die "Baise-moi" geschrieben hat - ohne mich jetzt davon lossagen zu wollen. Alles hat sich für mich verändert."

    Indirekt haben sich diese Veränderungen in Roman "Apokalypse Baby" niedergeschlagen. Denn die Suche nach der vermissten Pariser Bürgerstochter Valentine führt Lucie nach Barcelona, wo Virginie Despentes zuletzt etliche Jahre gelebt hat. Ihre Co-Ermittlerin, die Hyäne, führt sie in die dortige Lesbenszene ein. Zunächst ist das eine schockierende Erfahrung, vor allem beim Anblick einer Sexorgie unter Frauen. Doch die innere Abwehr wandelt sich nach und nach in Neugier. Denn Lucie lernt selbst eine Frau kennen, die ihr gefällt. Diese in überraschend leisen Tönen beschriebene tastende Liebesgeschichte steht im Gegensatz zum rasanten, sich immer weiter zuspitzenden Krimi-Plot. Die oft spätpubertären, grellen Dialoge des ungleichen Ermittlerpaars sind da manchmal gewöhnungsbedürftig. Doch überzeugt Virginie Despentes mit ihren eingeschobenen Porträts, die uns in ganz unterschiedliche soziale Milieus entführen. Zwar sind sie eher konventionell erzählt. Doch sezieren sie tabulos das Innenleben und die sexuellen Gelüste der Hauptfiguren: So von Valentines Mutter, einer Araberin, die ihre Schönheit kalt berechnend zum sozialen Aufstieg genutzt hat; oder von ihrem stolzen, gewaltbereiten Cousin Yacine, der sich in der Pariser Banlieue durchschlägt; oder von Claire, die sich nach der Implosion ihrer naiven Träume vom Familienglück beim Lesen verliebt: in Valentines Vater François, der sie im Gegenzug mit Fesselsex beglückt.

    "François ist nicht nur ein Bourgeois, sondern auch ein Schriftsteller, der keinen Erfolg hat. Ihm ist es zwar gelungen, seine Bücher zu veröffentlichen. Aber er hat nicht seine Leserschaft gefunden, […] obwohl er ernsthaft dafür gearbeitet hat. Ich finde, darin liegt zugleich etwas Pathetisches und Anrührendes."

    Wer unverblümte Direktheit mag, ist bei Virginie Despentes immer noch richtig. "Apokalypse Baby" ist mehr als ein Krimi, der einem den Sonntagnachmittag verkürzt. Für jeden Leser dürfte es überraschende Szenen geben. Gerade bei den Ausflügen in die Milieus jugendlicher Ausreißer. Mit einem Wort: Virginie Despentes stört uns auch mit 43 Jahren noch auf. Zwar hat ihre Radikalität, von der 2006 noch einmal ihr fulminanter Essay "King-Kong-Theorie" zeugte, nachgelassen. Dafür ist ihre Figuren-Zeichnung weitaus differenzierter. Sie stellt in "Apokalypse Baby" den Neuanfang einer für unmöglich gehaltenen Liebe zwischen zwei Frauen einer kaputten, erfolgsfixierten Gesellschaft mit ihren faulen Kompromissen gegenüber. Und dabei offenbart Virginie Despentes, die durch eine Vergewaltigung zur Schriftstellerin wurde, immer wieder ihr Gespür für das Wuchern von Gewalt und Gegengewalt.

    "Ich bin von Natur aus sehr angstbeladen. Wenn ich ein Buch beendet habe, fange ich sofort mit dem nächsten an. […] Ich kenne die Geschichten von Schreibblockaden und fürchte mich sehr davor, eines Tages nicht mehr schreiben zu können. […] Die Angst zu scheitern treibt mich an."



    Literaturhinweis: Virginie Despentes: Apokalypse Baby. Roman. Aus dem Französischen von Dorit Gesa Engelhardt und Barbara Heber-Schärer. Berlin Verlag, Berlin 2012.
    384 Seiten, 19 € 90 Euro.