Der schmale Durchgang am stark befahrenen Boulevard Soult im 12. Pariser Arrondissement ist leicht zu übersehen. Hinter baufälligen Garagen und Brachland taucht plötzlich eine stille Sackgasse auf: Villa Bel-Air. Parallel dazu verläuft die Petite Ceinture einen Meter über Straßenniveau. Es genügt, über den Zaun zu klettern, um in eine andere Welt einzutauchen. Eine Welt aus 35 Kilometer Geleisen und 29 Bahnhöfen rund um Paris, angelegt zwischen 1852 und 69, damals zwischen Stadt und Vorstadt. Zu Hochzeiten dampfte alle zehn Minuten ein Zug um Paris; er brauchte für eine volle Runde 90 Minuten. Auch hier, an der ehemaligen Station "Bel Air / Ceinture", machte er schnaufend Halt.
Heute kann man getrost auf den Geleisen laufen, ohne sich umzuschauen. Es kommt kein Zug mehr. Rostig der Schienenstrang, mannshoch der Fingerhut, efeuumrankt verrottete Signalanlagen, ausgeräubert elektrische Schaltkästen, Himbeer- und Hollundersträucher wuchern, Eidechsen huschen weg beim Herannahen seltener Besucher der Petite Ceinture. Frequenz etwa: ein Mensch pro Stunde pro Kilometer. An diesem Morgen kommt der Schienengänger aus Astrachan, Russland, ein Tartar, wie er sagt, Amidula mit Namen und erst seit zwei Tagen in Paris. Sein Französisch-Vokabular ist rasch aufgebraucht.
Ein guter Ort sei das, sagt er, ruhig, mit Graffiti. Die fehlen in der Tat nicht. Der nächste Bahnhof, Avenue de Vincennes geheißen, ist übersät davon. Immerhin steht das Gebäude noch, zugemauert. Schmiedeeisernes Ornament ist noch zu erahnen, eine überwucherte Treppe führt in die Tiefe, auf Straßenniveau, sechs, sieben Meter niedriger. Auch dieser Eingang: zugemauert. Mitunter rücken die Fassaden so dicht an die Trasse heran, dass man den Leuten in die Wohnung schauen kann. Dann wieder Werkstätten, Fabrikhinterhöfe. Im Brennessel-Dschungel ein ausgebranntes Autowrack. Eine schwarze Katze auf der Jagd. Plötzlich öffnet sich der Schienenstrang auf einen breiten Boulevard.
"Für Paris und die umliegenden Gemeinden - die damals noch nicht zu Paris gehörten - war das eine kleine Revolution. Da gab es plötzlich eine Eisenbahn, die rund um die Stadt und die nahen Vorstädte fuhr! 1900 wurde die Metro eingeweiht, sie war viel zentraler und kam den Bedürfnissen der Leute mehr entgegen, vor allem denen der Pariser, denn die Umlandgemeinden waren damals noch nicht so entwickelt. Die Metro entsprach also genau der Nachfrage, während die Petite Ceinture von einer Dampflok gezogen wurde. Außerdem fuhren Güterzüge auf der Strecke. Die Betreibergesellschaft ließ lieber Güter- als Personenzüge fahren, das brachte mehr Geld ein. Es verkehrten immer weniger Personenzüge. Manchmal musste man eine Stunde warten. Da kamen die Leute nicht mehr."
Jean-Emanuel Terrier, Vorsitzender des Vereins, der sich für die Wiederbelebung und den Schutz der Petite Ceinture einsetzt. Seit 15 Jahren schon. Das Konzept: eine Straßenbahn in einem Park. Schließlich sei die Bahnanlage stellenweise so breit, dass Zugverkehr u n d öffentliche Grünanlagen denkbar wären. Réseau Ferré de France will das auch, doch viele Anrainer machen sich Sorgen, sagt Terrier.
"Sie werden immer misstrauischer gegenüber Leuten, die direkt unter ihrem Fenster vorbei gehen. Es hat Einbrüche gegeben, das wissen wir. Die Spaziergänger werden eher weniger. (..) "Manche Fassaden sind wirklich ziemlich dicht an den Geleisen. Das Problem dabei: Die Leute, die so nahe dran wohnen, sagen: Wenn die Petite Ceinture wieder fährt, wird es bei uns ganz schön laut werden! Es ist sicher ein Fehler gewesen, so nah an den Schienen zu bauen. Obwohl die Anrainer vom Zugverkehr profitieren würden! Aber dieselben Leute sagen, sie wollen weder einen Park noch einen Spazierweg vor der Haustür. Sie wollen ihre Ruhe. Manche sagen uns: Das Beste wäre, wenn die Hausgemeinschaft ein Stück der Gleisanlagen kauft, dann hätten wir einen Garten nur für uns."
Was gegen einen Park spricht, sind die Tunnel innerhalb des Rings, der heute noch 23 Kilometer umfasst. Manche sind über 1000 Meter lang. Obdachlose haben sich dort eingerichtet. Terrier geht da ungern hin; wegen der Hunde. Aber Obdachlose wohnen nicht nur in den Tunneln.
"Vor ein paar Jahren haben wir einen Sonderzug fahren lassen, im Norden von Paris. Auf der Strecke fährt wirklich nichts mehr, und als wir uns näherten, war da eine regelrechte Wohnung mitten auf den Gleisen. Wir mussten aussteigen und alles abbauen, um vorbeizukommen. Das war schon speziell! Als sie zurückkamen, waren sie bestimmt nicht sehr glücklich darüber, dass wir ihre Möbel und Matratzen weggeschafft haben!"
Der Obdachlose, dem eine Brücke über dem Schienenstrang als Dach dient, hat sein Domizil am Bahndamm aufgeschlagen. Ein Matratzenlager nebst Tisch und Stuhl. Tauben fliegen auf, doch der Platz ist im Moment verlassen. Auf dem Gleisbett Dutzende leerer Spraydosen. Ein Hauptquartier der Sprayer, wie es scheint.
Es wird noch Jahre dauern, bis die Pariser Stadtverwaltung, die Umlandgemeinden, die SNCF und die Anlieger der Petite Ceinture sich auf ein Nutzungskonzept für die verwaiste Bahnstrecke geeinigt haben, sagt Jean-Emanuel Terrier. Sein Verein wird nicht müde, nach kleinen Lösungen zu suchen: Auf einer Teilstrecke im Süden soll ein historischer Zug fahren, am Wochenende, für Touristen. Terrier erinnert sich an die große Nachfrage beim Tag der offenen Tür vor ein paar Jahren. Man stehe in Kontakt mit einer Gemeinde, wo ein längst ausrangierter Zug nur darauf warte, wieder eingesetzt zu werden. Man brauche ihn nur nach Paris zu schaffen. Per Lastzug. Auch die Anwohner hätten nichts gegen die Idee. Solange der Zug morgens nicht zu früh fährt.
Heute kann man getrost auf den Geleisen laufen, ohne sich umzuschauen. Es kommt kein Zug mehr. Rostig der Schienenstrang, mannshoch der Fingerhut, efeuumrankt verrottete Signalanlagen, ausgeräubert elektrische Schaltkästen, Himbeer- und Hollundersträucher wuchern, Eidechsen huschen weg beim Herannahen seltener Besucher der Petite Ceinture. Frequenz etwa: ein Mensch pro Stunde pro Kilometer. An diesem Morgen kommt der Schienengänger aus Astrachan, Russland, ein Tartar, wie er sagt, Amidula mit Namen und erst seit zwei Tagen in Paris. Sein Französisch-Vokabular ist rasch aufgebraucht.
Ein guter Ort sei das, sagt er, ruhig, mit Graffiti. Die fehlen in der Tat nicht. Der nächste Bahnhof, Avenue de Vincennes geheißen, ist übersät davon. Immerhin steht das Gebäude noch, zugemauert. Schmiedeeisernes Ornament ist noch zu erahnen, eine überwucherte Treppe führt in die Tiefe, auf Straßenniveau, sechs, sieben Meter niedriger. Auch dieser Eingang: zugemauert. Mitunter rücken die Fassaden so dicht an die Trasse heran, dass man den Leuten in die Wohnung schauen kann. Dann wieder Werkstätten, Fabrikhinterhöfe. Im Brennessel-Dschungel ein ausgebranntes Autowrack. Eine schwarze Katze auf der Jagd. Plötzlich öffnet sich der Schienenstrang auf einen breiten Boulevard.
"Für Paris und die umliegenden Gemeinden - die damals noch nicht zu Paris gehörten - war das eine kleine Revolution. Da gab es plötzlich eine Eisenbahn, die rund um die Stadt und die nahen Vorstädte fuhr! 1900 wurde die Metro eingeweiht, sie war viel zentraler und kam den Bedürfnissen der Leute mehr entgegen, vor allem denen der Pariser, denn die Umlandgemeinden waren damals noch nicht so entwickelt. Die Metro entsprach also genau der Nachfrage, während die Petite Ceinture von einer Dampflok gezogen wurde. Außerdem fuhren Güterzüge auf der Strecke. Die Betreibergesellschaft ließ lieber Güter- als Personenzüge fahren, das brachte mehr Geld ein. Es verkehrten immer weniger Personenzüge. Manchmal musste man eine Stunde warten. Da kamen die Leute nicht mehr."
Jean-Emanuel Terrier, Vorsitzender des Vereins, der sich für die Wiederbelebung und den Schutz der Petite Ceinture einsetzt. Seit 15 Jahren schon. Das Konzept: eine Straßenbahn in einem Park. Schließlich sei die Bahnanlage stellenweise so breit, dass Zugverkehr u n d öffentliche Grünanlagen denkbar wären. Réseau Ferré de France will das auch, doch viele Anrainer machen sich Sorgen, sagt Terrier.
"Sie werden immer misstrauischer gegenüber Leuten, die direkt unter ihrem Fenster vorbei gehen. Es hat Einbrüche gegeben, das wissen wir. Die Spaziergänger werden eher weniger. (..) "Manche Fassaden sind wirklich ziemlich dicht an den Geleisen. Das Problem dabei: Die Leute, die so nahe dran wohnen, sagen: Wenn die Petite Ceinture wieder fährt, wird es bei uns ganz schön laut werden! Es ist sicher ein Fehler gewesen, so nah an den Schienen zu bauen. Obwohl die Anrainer vom Zugverkehr profitieren würden! Aber dieselben Leute sagen, sie wollen weder einen Park noch einen Spazierweg vor der Haustür. Sie wollen ihre Ruhe. Manche sagen uns: Das Beste wäre, wenn die Hausgemeinschaft ein Stück der Gleisanlagen kauft, dann hätten wir einen Garten nur für uns."
Was gegen einen Park spricht, sind die Tunnel innerhalb des Rings, der heute noch 23 Kilometer umfasst. Manche sind über 1000 Meter lang. Obdachlose haben sich dort eingerichtet. Terrier geht da ungern hin; wegen der Hunde. Aber Obdachlose wohnen nicht nur in den Tunneln.
"Vor ein paar Jahren haben wir einen Sonderzug fahren lassen, im Norden von Paris. Auf der Strecke fährt wirklich nichts mehr, und als wir uns näherten, war da eine regelrechte Wohnung mitten auf den Gleisen. Wir mussten aussteigen und alles abbauen, um vorbeizukommen. Das war schon speziell! Als sie zurückkamen, waren sie bestimmt nicht sehr glücklich darüber, dass wir ihre Möbel und Matratzen weggeschafft haben!"
Der Obdachlose, dem eine Brücke über dem Schienenstrang als Dach dient, hat sein Domizil am Bahndamm aufgeschlagen. Ein Matratzenlager nebst Tisch und Stuhl. Tauben fliegen auf, doch der Platz ist im Moment verlassen. Auf dem Gleisbett Dutzende leerer Spraydosen. Ein Hauptquartier der Sprayer, wie es scheint.
Es wird noch Jahre dauern, bis die Pariser Stadtverwaltung, die Umlandgemeinden, die SNCF und die Anlieger der Petite Ceinture sich auf ein Nutzungskonzept für die verwaiste Bahnstrecke geeinigt haben, sagt Jean-Emanuel Terrier. Sein Verein wird nicht müde, nach kleinen Lösungen zu suchen: Auf einer Teilstrecke im Süden soll ein historischer Zug fahren, am Wochenende, für Touristen. Terrier erinnert sich an die große Nachfrage beim Tag der offenen Tür vor ein paar Jahren. Man stehe in Kontakt mit einer Gemeinde, wo ein längst ausrangierter Zug nur darauf warte, wieder eingesetzt zu werden. Man brauche ihn nur nach Paris zu schaffen. Per Lastzug. Auch die Anwohner hätten nichts gegen die Idee. Solange der Zug morgens nicht zu früh fährt.