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Die Wirkmacht der Unabhängigen

In diesem Jahr sind viele Menschen auf die Straße gegangen. Zwei Werke, die sich mit dem politische Engagement seitens der Bürger befassen, sind zum einen die Dokumentation über Günter Grass' Wahlkampfreise für die SPD 1969 und ein Sammelband mit politischen Texten von Heinrich Böll.

Von Sabine Pamperrien |
    Günter Grass und Heinrich Böll wurden in den 1960er und 70er Jahren zu Gallionsfiguren des politischen Engagements gegen die CDU-geführte Regierung. Zwei Sammelbände erinnern nun an die politische Wirkmacht der späteren Literaturnobelpreisträger. Grass ging sogar auf Wahlkampftour für den SPD-Kanzlerkandidaten Willy Brandt.

    2Wie wäre es mit einem neuen, einem begabten Bundeskanzler, mit einem Staatsmann also, der dem Diktator Walter Ulbricht gewachsen ist.2''

    Der Schriftsteller fuhr zwischen März und September 1969 in einem VW-Campingbus 32.000 Kilometer durch die Bundesrepublik, hielt Reden, besuchte Betriebe, gab Interviews und diskutierte mit Wählern. Die Hochburgen der CDU waren sein liebstes Reiseziel. Tausende zahlende Bürger besuchten die Veranstaltungen. Mit der alten Regierung attackierte Grass auch deren Wähler. Der Ostpolitik galt sein Hauptinteresse.

    ''2Wir haben uns korrumpieren lassen. Wir haben es zugelassen, dass dieser Frieden in geistlosem Wohlstand erstickt wurde, während unsere Landsleute, die wir schamlos Brüder und Schwestern nennen, die Zeche bezahlen mussten.2''

    Der von Kai Schlüter herausgegebene Band über Grass Wahlkampftour dokumentiert Reden, Tagebuchnotizen und Augenzeugenberichte. Zudem wird Grass‘ Engagement politikwissenschaftlich eingeordnet. Das zweite Buch versammelt Schriften und Reden Heinrich Bölls über Literatur, Politik und Zeitgeschichte aus den Jahren 1952 bis zu seinem Tod 1985. Beide Textsammlungen machen die politische Stimmung in dieser Zeit wieder lebendig - und viele der Texte sind überraschend aktuell. In einer Analyse von 1970 kritisiert Friedhelm Drautzburg in dem Band zu Willy Brandts Wahlkampftour schon damals die falsche Gewichtung des Studentenprotests in der öffentlichen Wahrnehmung. Anarchistische Randgruppen seien in den Medien völlig überzeichnet worden, so der damalige SPD-Studentenführer, der als Grass-Fahrer fungierte. Und das wiederum schrecke sogar Arbeiter ab, eigentlich berechtigte Forderungen wie die nach Mitbestimmung mitzutragen. Er schreibt:

    Die Arbeiterübernahmen das Problem-verschleiernde Gerede mancher Presseorgane, die den Studentenprotest als solchen bejahen, aber alle Bedenken letzten Endes an den Formen aufhingen, in denen der Protest daherkommt. Es ist dem überdimensionierten Ernstnehmen von Einzelgrüppchen, dem Hochschaukeln blöder Aktiönchen durch eine daran interessierte Presse zu verdanken.

    Der Beitrag der Historikerin Daniela Münkel über die sozialdemokratische Wählerinitiative zeigt, dass Forderungen nach einem politischen Umbruch damals keinesfalls zwingend den Abschied von bürgerlichen Idealen bedeuteten. Es mag sogar ganz das Gegenteil der Fall sein. Nie zuvor, so die Historikerin, waren breite deutsche Bevölkerungsschichten derart politisiert:

    Die Endphase der 1960er und der Beginn der 70er Jahre wurden durch eine Politisierungswelle breiter Bevölkerungsschichten geprägt - auch jenseits von Studentenbewegung, außerparlamentarischer Opposition, Kommune 1 und Roter Armee Fraktion. Demokratie im Sinne einer aktiven Bürgergesellschaft war in der bundesrepublikanischen Bevölkerung über 20 Jahre nach Kriegsende offenbar angekommen.

    Vordergründig ging es zwar um Wahlwerbung für die SPD. Doch steckte hinter den politischen Aktivitäten der deutschen Intellektuellen für Willy Brandt weit mehr als der Wille, die bestehenden politischen Machtverhältnisse zu verändern. Träger der Wählerbewegung für die SPD wurde erstmals die Mittelschicht, die zuvor die SPD als traditionelle Arbeiterpartei gemieden hatte, so die Historikerin Daniela Münkel. Durch das Engagement von parteilich ungebundenen Intellektuellen gelang es, Bürger politisch zu mobilisieren. Die Wahlkampfreise von Günter Grass wurde ein großer Erfolg. Das Medienecho reichte bis ins Ausland. An vielen Orten von Grass Auftritten wurden spontan Ableger der Wählerinitiative gegründet. Willy Brandt wurde 1969 der erste sozialdemokratische Bundeskanzler. Die Texte von Heinrich Böll hingegen reichen weit zurück vor diesen Wahlkampf und weisen weit über ihn hinaus. Böll reflektiert unter zahlreichen verschiedenen Aspekten die Entwicklung des geistigen Klimas in der Bundesrepublik. Es geht um Gesinnung, die Rezeption von Karl Marx, politische Literatur, Israel, den Katholizismus und den Konservatismus. Der 650-seitige Band enthält zahlreiche Reden, die Böll bei politischen Großveranstaltungen hielt. Zur Notstandsgesetzgebung, die als einer der Auslöser der Studentenrevolte gilt, weil sie weitgehende Eingriffe in demokratische Grundrechte plante, sagte er 1968 auf einer Kundgebung:

    "Sie müssen sich verständlich machen, so artikulieren, dass die Gesellschaft, die sie verändern wollen, zum Gespräch gezwungen wird. Wenn Bauern aufmarschieren, symbolisch Minister an Galgen hängen und mit massiven Slogans für ihre Interessen demonstrieren, ist es noch nie zu Zusammenstößen mit der Polizei gekommen. Analysieren Sie bitte die unterschiedliche Reaktion auf Studenten- und Bauerndemonstrationen in Presse, Öffentlichkeit und Parlament, dann kommen Sie dieser Gesellschaft auf die Spur."

    Böll wurde zur moralischen Instanz. Leider fehlt dem Sammelband eine Einführung, die die Texte des Schriftstellers politikwissenschaftlich einordnet. Nun ist der Leser etwas auf sich gestellt. Bölls Betrachtungen sind allerdings auch ohne Hilfsmittel gut zu verstehen. Er bezieht sich auf die gesamte europäische Geistesgeschichte und bleibt dennoch ganz nah am politischen Alltag. Dem Schriftsteller geht es um die Heranbildung von demokratischem Bewusstsein. Durchaus auch des eigenen, wie er schreibt:

    Selbst religiöse Entscheidungen wie die des Gewissens werden zu politischen gestempelt. Wir werden gezwungen, von Politik zu leben - und das ist eine fragwürdige Kost, da gibt es, je nach den Erfordernissen der Taktik, an einem Tag Pralinen, am anderen eine Suppe aus Dörrgemüse. Unser Brot müssen wir selber backen und das Wort uns selbst bereiten.

    Dass diese beiden Bücher jetzt erscheinen, ist kein Zufall. Das Desinteresse der Bürger an Politik ist dramatisch. Grass stellt in einem 2011 für die Dokumentation geführten Interview fest, dass die schweigende Mehrheit ein Rückfall in alte Zeiten bis in die frühen 60er Jahre sei. Demokratie aber könne ohne politisch engagierte Bürger kaum überleben. Einzig lokale Phänomene wie Stuttgart 21 machten Mut, so Grass. Die spontanen Proteste in Stuttgart spannen den Bogen zu Böll. Der gilt als geistiger Vater der Bürgerbewegungen in Deutschland. Das Vorbild der 60er Jahre ist aktueller denn je. Denn viele der aktuellen Diskussionen um Politikverdrossenheit und Bürgerproteste wurden vor einem halben Jahrhundert schon einmal geführt. Von den beiden Vordenkern des bürgerschaftlichen Engagements in der Demokratie kann man immer noch viel lernen.

    Kai Schlüter (Hrsg.)
    Günter Grass auf Tour für Willy Brandt. Die legendäre Wahlkampfreise 1969. C. H. Links Verlag, 240 Seiten, 24,90 Euro
    ISBN: 978-3-861-53647-5


    Heinrich Böll!1
    Widerstand ist ein Freiheitsrecht. Schriften und Reden zu Literatur, Politik und Zeitgeschichte. Kiepenheuer & Witsch, 984 Seiten, 29,99 Euro
    ISBN: 978-3-462-04371-6