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Die Wirtschafts- und Alltagsgeschichte eines Naturprodukts

Wenn jemand "Stroh im Kopf" hat, dann ist das alles andere als ein Kompliment. Und auch im allgemeinen Bewusstsein ist das goldgelbe Naturprodukt für viele nur noch wertloser Abfall aus der Landwirtschaft, der gerade mal gut genug ist für die Stalleinstreu. Das war zumindest einst ganz anders: Zehntausenden Menschen hatte das Stroh und die Ver- und Bearbeitung eine Existenz geboten. Stroh war der Rohstoff für Seile und für Matten oder für ganze Dächer. Einer der größten strohverarbeitenden Standorte in Deutschland war ab 1700 der Ort Twistringen in Niedersachsen. Und dort hatte der ortsansässige Heimat- und Bürgerverein vor gut zehn Jahren auch nur "Stroh im Kopf". Das allerdings war als Kompliment gemeint, denn in Erinnerung an das Naturprodukt und den ehemals wichtigen Wirtschaftszweig wurde 1993 ein Förderverein gegründet zur Einrichtung eines Strohmuseums - nach Angaben der Gründer das einzige Strohmuseum in Deutschland.

Von Claudia Kalusky |
    Roggen war wegen des guten Bodens die Hauptanbaufrucht der Region. Für die Verwendbarkeit der Halme spielte die Art der Ernte und die Qualität des kräftigen und besonders langen Strohs eine wichtige Rolle.

    Die Halme mussten möglichst unbeschädigt sein: Das bedingte den Einsatz spezieller Maschinen, von denen einige erhaltene Stücke im Scheunenbereich des Museums zu sehen sind. Hier, unter der Holzdecke, hängt auch ein riesengroßer Strohhut, der einen Platz im Guinness - Buch der Rekorde gefunden hat, meint der Vorsitzende des Fördervereins Strohmuseum, Rudolf Kramer voller Stolz:

    Der große Hut, der hier hängt, hat einen Durchmesser von 5 Meter 50. Das haben Jugendgruppen gemacht, nach technischer Anleitung des Museums aus Strohstreifen, die 25 cm breit sind, die mit Alen, so genannten Rundnadeln, auf ein Drahtgestell per Hand aufgenäht wurden.

    Die Herstellung von Strohhüten, die bis nach Übersee geliefert wurden, war ein wichtiger Faktor der Twistringer Strohverarbeitung.
    Ab Mitte des 19. Jahrhunderts lebte ca. ein Drittel der 3000 Bewohner von der Strohflechterei, viele in Heimarbeit. Daneben gab es auch etwa 50 selbstständige Strohhutmacher, in deren Manufakturen über 150 Menschen tätig waren. Nach einer rein manuellen, sehr aufwändigen Tätigkeit wurden später die ersten fußbetriebenen Nähmaschinen eingesetzt. Noch bis 1970 wurden in dem niedersächsischen Ort Strohhüte gefertigt. Heute zeigen ehrenamtliche Mitarbeiterinnen des Museums die Herstellung solcher Hüte, mit Hilfe original erhaltener Nähmaschinen.

    Wenn man sich vorstellt, dass hier 40 Näherinnen zusammen gesessen haben an großen Nähtischen, dann war's ein fürchterlicher Krach. Aber es ist so, dass die Näherinnen trotzdem immer noch miteinander gesprochen haben und alles miteinander machten; besonders Montags gab es immer sehr viel zu erzählen. Da soll auch der so genannte Twistringer Sombrero erfunden worden sein, weil man dann vergessen hat, mal rechtzeitig Schluss zu machen.

    Neben den Hüten wurden damals auch viele Lampenschirme, Taschen oder Brotkörbe aus Stroh hergestellt. Und: Flaschenhülsen, so genannte Malotten, die die zerbrechliche Ware beim Transport schützen sollten.

    Es ging los um 1885: Zu Anfang nähte man um eine Flaschenform herum, die als Muster diente. Die erste Maschine dafür ist 1904 entwickelt worden. Ich öffne diesen Klapprahmen und lege das vorgeschnittene Stroh hier drauf, ziehe es etwas flach, knicke es ein und nähe.

    Im Strohmuseum Twistringen ist auch eine komplett ausgestattete Küche aus den 50er Jahren aufgebaut. Hier wurden damals auch Trinkhalme gefertigt, deren Verarbeitung den vollen Einsatz sämtlicher Familienmitglieder forderte, die die Halme mit selbst gebastelten Schneidegeräten stutzten. Häufig bauten die Heimarbeiter den Roggen selbst an und ernteten ihn bis in die 60er Jahre mit der Sense. Größere Betriebe benutzten so genannte Bindemäher. Über bremische Exportfirmen gelangten die Trinkhalme in Tüten aus Seidenpapier in die ganze Welt. 1935 betrug die Produktion in Twistringen rund 200 Millionen Halme: etwa 600.000 pro Tag.

    Im nächsten Raum des Museums werden Produkte präsentiert, die von den vier noch heute existierenden Firmen Twistringens hergestellt werden.

    Zum Beispiel Erosionsschutzmatten. Diese Matten dienen dazu, zum Beispiel Seitenwälle oder Böschungen abzudecken. Ein ganz modernes Produkt ist eine Dachbegrünungsmatte.

    Und nicht zuletzt werden in Twistringen auch ökologisch hochwertige Matratzen hergestellt: Garantiert mit Stroheinlage.