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Die wunderbaren Falschmünzer

Die Lesebegeisterung der Deutschen sinkt. Das behauptet, mindestens alle Vierteljahre, eine neue Studie und untermauert den Befund mit stets neuen Zahlen und mit immer drohenderem Unterton. Was wird aus Bildung, Kultur, Abendland? Jetzt hat die Bertelsmann Stiftung wieder einmal untersucht, wieviel die Deutschen lesen, und das Fazit, man ahnt es: Die Lesebegeisterung sinkt. Unter 2300 befragten Bundesbürgern gaben sich nur 19 Prozent als intensive Leser zu erkennen. 19 Prozent? Wir stutzen, holen den Taschenrechner und überschlagen: 19 Prozent von, sagen wir, 60 Millionen erwachsenen Deutschen, das macht immerhin 11 Millionen intensive Leser. Wäre das nicht zu schön, um wahr zu sein? Es ist zu schön, und es ist auch nicht wahr.

Martin Ebel |
    Wahr ist vielmehr, daß viele Millionen Deutsche Akten und Zeitungen lesen, Fernsehprogramme und Illustrierte, Gebrauchsanweisungen und Kontoauszüge, sich fachlich am Bildschirm, an Fotokopien und auch mal am Buch weiterbilden. Daß sie Buchstaben zu Wörtern, Wörter zu Sätzen und Sätze zu Aussagen verknüpfen und aus diesen einen Nutzwert ziehen. Aber LESEN, Lesen ist das nicht. An Lesen in diesem emphatischen Sinne haben sicher viele noch eine vage Erinnerung, an glühende Wangen und rote Ohren, Nicht-Aufhören-Können und am Ende noch einmal von Anfang loslegen, an Versinken, Ertrinken, Fortsegeln oder -Fliegen, an Flucht und Wiederkehr, daran, nach bestimmten Büchern nicht mehr ganz derselbe zu sein und die Welt, in der man etwas verwirrt sich wiederfindet, mit anderen Augen zu betrachten.

    Das verliert sich dann, und nur die vage Erinnerung bleibt. Machtvoll tritt der Ernst des Lebens dazwischen, die Erfordernisse des Alltags, der Gesellschaft und der Karriere, und fortan lesen sie Akten, Programmzeitschriften und Gebrauchsanweisungen. Und träumen vielleicht von dem Roman, der sie entführt, ganz weit weg, ganz weit zurück, ganz tief in sich hinein. Und dann haben sie Urlaub und wollen es einmal wieder versuchen.

    Lesen, ja, aber was? Den Bestsellern mißtraut unser Leser, meist mit Recht. Den Empfehlungen bestallter Profis, den Literaturkritikern, auch - nicht immer mit Recht, aber das ist ein anderes Thema. Von seinen Freunden hat er schon lange kein Buch mehr empfohlen bekommen, auch die lesen - nicht. Und er erinnert sich, verloren in der Flut der Neuerscheinungen, sehnsuchtsvoll an die Zeit der großen Romane, an Namen wie Honorè de Balzac und Fjodor Dostojewski. Vielleicht sollte er die mal hervornehmen. Aber, fragt er sich unschlüssig - taugen sie denn noch für ihn, hier und heute, taugt er, andersherum, für sie?

    Es käme auf einen Versuch an. Aber dann, vor dem Regal mit den "Klassikern", erschrickt unser Möchte-gern-Leser wieder: Zu viele große, zu viele gute Namen. Wo beginnen? Man bräuchte einen Führer. Aber keinen dieser Roman-Führer, die durch leblose Inhaltsangaben lebendige Bücher zu ersetzen vorgeben. Was unser potentieller Leser ja sucht, ist nicht Bildung zum Angeben, sondern - auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist: Leselust. Und zu der, das haben die Lüste so an sich, will man nicht verdonnert, sondern verlockt, man will verführt werden. Was unser Leser braucht, was wir alle brauchen, die wir Lesen können, aber nicht wissen, was Lesen sein kann: einen Roman-Verführer.

    Und wenn wir eine Trompete hätten, könnten wir jetzt hineinstoßen: Hier ist er, der Roman-Verführer. Rolf Vollmann hat ihn geschrieben und ihm genau diesen Untertitel gegeben, der Haupttitel lautet "Die wunderbaren Falschmünzer", erschienen ist er im Eichborn-Verlag, erst in zwei Bänden für zusammen 108 Mark, dann, als die erste Auflage gleich weg war, in einer einbändigen Ausgabe für nur 78 Mark. Ein seltener und nachahmenswerter Fall, daß ein Buch, wenn es ankommt, billiger wird.

    Noch ein Trompetensolo, wenn's gestattet ist: Solch ein Buch gab's noch nie und wird es wohl auch nicht noch einmal geben. Wer Vollmann kennt, den Tübinger Privatgelehrten und Autor eines schwärmerischen Jean Paul-Buches sowie vieler schöner Funkfeatures, den wird dieses Lob kaum wundern. Wer ihn nicht kennt und hört, daß hier auf 1000 Seiten 1000 Romane vorgestellt werden, der ist geneigt, sich mit einem "Nein danke" abzuwenden. Zu Unrecht: Er weiß nicht, was ihm entgeht. Wie könnte man ihn zu seinem Besten, zu Vollmanns Roman-Verführer verführen?

    Am besten so, wie Vollmann selbst: Der erzählt nämlich einfach, wie wundervoll, hinreißend, unwiderstehlich die großen Romane zwischen 1800 und 1930 sind (das ist der Zeitraum, den er behandelt), wie die Welt durch sie reicher, das Leben farbiger wird. So daß man sich fragen muß, wie man überhaupt leben konnte, ohne Henry James' >>Gesandten<<, Leo Tolstois>>Kosaken<<, Claríns>>Präsidentin <<, alles von Balzac und mindestens acht Romane von Emilè Zola gelesen zu haben. Und was das für ein Leben ist, das sich auf ein einziges, das unsrige, beschränkt.

    Von einem ist Rolf Vollmann überzeugt, unumstößlich. Die gelesene Welt ist der, in der wir alle - notgedrungen - leben, nicht nur ebenbürtig, sondern unendlich überlegen. Wir leben nur einmal, aber im Buche unendlich oft. So platt sagt Vollmann es nicht, er umschreibt es eher, tastet sich an diese eigentlich banale, wenn man sie ernst nimmt, aber unerhörte Wahrheit heran, und sein ganzes dickes Buch ist eigentlich eine Illustration dieser Wahrheit.

    "Die Welt der Romane ist natürlich eine Welt in dieser Welt", so Rolf Vollmann, "aber wenn sie nicht auch eine Gegenwelt wäre, eine Welt der anderen Möglichkeiten, gegen welche unsere Realität dann wieder kaum mehr als eine wenig lebenswerte und kaum nacherzählenswerte Variante ist, ja, was dann?"

    Tatsächlich schrumpft unser Leben, wenn wir es mit dem eines Raskolnikow, eines Julien Sorel, eines Leopold Bloom vergleichen, zu ziemlich kleiner Münze. Vollmanns Trost ist der, daß wir, wenn wir von Raskolnikow lesen, Raskolnikow sind - und Julien Sorel, und Leopold Bloom, und morgen vielleicht Orlando oder Effie Briest. Ganz leicht zynisch sagt Vollmann es mit den Worten eines vergessenen und wieder-entdeckten Romanciers, des Franzosen Emmanuel Bove: "Der wahre Moralist unter den Romanciers ist der, der wie Bove dem Leser sagt: Gräm dich nicht darüber, daß du nichts bist: Immerhin kannst du das lesen."

    Und deshalb kann dieser radikale Leser über den alten Einwand auch nur lächeln, der da lautet, der Leser versäume das Leben: "Der Leser versäumt nicht derart das Leben, wie die Nichtleser das gerne hätten", so Vollmann, "ja man fragt sich, ob nicht die Leser, ob also nicht wir Leser die eigentlich verständigen Bewohner der Welt sind, gleich nach den Romanciers."

    Selbst beim Gedanken an das Jenseits fällt Vollmann gleich ein Autor ein, Jean Paul, und sein unvollendeter Roman >>Der Komet <<: "Jean Paul schreibt einmal, er hoffe sehr, seinen Pudel, der eben verstorben war, im Himmel dann wiederzusehn. Wir Leser, reich durch ihn wie durch kaum einen andern, trauern um nichts als das Leben, das uns die Augen schließt, dann können wir nicht mehr lesen, und allein im Gelesenen hatten wir Heimat und Himmel; sollten wir aber in den Himmel kommen, dann muß uns Jean Paul seinen Kometen zu Ende erzählen, und was ihm da oben noch eingefallen ist."

    Was haben wir vom Lesen? Lust. Und wann ist ein Buch gut? Wenn es uns die verschafft: Das ist Vollmanns Credo, und er kann es nicht oft genug wiederholen. Nichts hält er von der Ansicht, aus Literatur solle man etwas lernen. Romane sind keine verkappten Sachbücher. Und auf den berühmt-berüchtigten Ausruf des obersten literarischen Quartettspielers, "Mich interessieren die Probleme eines spanischen Ziegenhirten nicht", würde er nur milde lächelnd einwenden, ein Buch sei dann groß, wenn es uns, für die Dauer der Lektüre wenigstens, zu einem spanischen Ziegenhirten macht. Oder zu einem Dubliner Annoncen-Akquisiteur. Oder einem Pariser Müßiggänger.

    Der Leser Vollmann ist das alles gewesen. Er spricht aus Erfahrung, und das macht ihn so überzeugend. Er schüchtert uns nicht mit Definitionen ein, sondern lockt uns mit Beispielen, er doziert nicht, sondern plaudert; in einer Sprache, die niemals ermüdet, die ohne Fremdwörter auskommt und ohne Autoritäten, und die alle Literaturgeschichten, alle Literaturwissenschaft auch, verdammt alt aussehen läßt.

    "Die wunderbaren Falschmünzer" können wir nämlich, wenn wir wollen, als ein tausendseitiges Hohnlachen über die Germanistik, die Anglistik, die Romanistik und ihre vertrockneten Verwandten lesen. Nichts haben sie begriffen, gibt Vollmann zu verstehen, von der Qualität eines Buches, nichts von seiner Verführungskraft, weil sie sie gar nicht zu begreifen suchen. Sie suchen nach Ordnung und Logik und zerren jeden Roman auf das Streckbrett einer Theorie, auf dem er aufschreit, statt im Kopf des Lesers zu erblühen. Vollmann erklärt: "Große Theorien über den Roman sind eigentlich immer nur möglich, wenn man ungefähr ein Viertel bis ein Drittel der Romane wegläßt, für die sie gelten sollen, und man kann darum gegen Theorien, je globaler sie sein wollen, immer nur alle die Romane ins Feld führen, die ihr zum Opfer gebracht worden sind. Theorien sind meistens auch nur das Spielzeug derer, die nicht gern lesen."

    Also hinweg mit ihnen, und weg mit den Definitionen. Vollmann definiert nicht mal, was ein Roman ist, er versucht's einmal zum Schein und landet schließlich bei der lustigen Aussage: "Romane sind genau das, was hier zum Lesen empfohlen wird." Weg auch mit dem Fortschrittsgedanken, der die Literatur wie die Mechanik behandelt und den einzelnen Roman als Stufe einer Entwicklungstreppe. Es gibt auch keinen sogenannten "Stand, hinter den kein Autor mehr zurückfallen kann". Kein Autor, da ist Vollmann fast autoritär, "macht Epoche", er macht eine Welt, seine Welt, und das reicht voll und ganz. "Ein gewisser vornehmer Ton verlangt seit einiger Zeit für bedeutungsvolle Wertungen das Wort wichtig: ein wichtiger Roman also, statt, wie unsere Kronzeugin Modeste sagen würde" - das ist die Titelheldin von Balzacs Roman >>Modeste Mignon <<, die uns im Verlaufe von Vollmanns Romanverführer immer wieder begegnet - "ein herzaufwühlender und seelenverheerender Roman. Wichtig in diesem Sinne meint dann eine Wertung in einem bestimmten Zusammenhang, und zwar eine Wertung, die einordnet: " Wichtig ist ein Buch dann für eine bestimmte Epoche, für ein bestimmtes Genre, für eine bestimmte Nationalliteratur, für einen bestimmten Autor, für eine bestimmte Entwicklung - und jedenfalls für den Leser, wenn er was auf theoretische Begriffe gebracht haben will. Dagegen habe ich hier nur Leser im Sinn, die lesen wollen, sonst nichts, und ich ordne nicht ein (wenigstens nicht absichtlich), und schon gar nicht historisch; meine Idee ist geradezu, daß alle lesbaren Romane - eben einfach lesbar, oder sozusagen gleichzeitig sind: so daß sie also schön oder weniger schön sind, aber eigentlich niemals wichtig oder unwichtig."

    Und schön ist ein Roman, das dürfen wir nochmal wiederholen, wenn er uns gefällt. Wobei ein Mißverständnis ausgeräumt werden muß, das sich leicht aufdrängt: Leselust hat wenig zu tun mit dem "Sich-Reinziehen" eines Verbrauchsbuches, dem Ex-und-Hopp-Konsum, von dem nichts zurückbleibt als verlorene Zeit und das schale Gefühl, die hätte man besser anders verbracht. Vollmann taugt nicht zum Guru der Spaß-Generation, der er Literatur als neuen Thrill verkaufen will (obwohl es schwer fällt, sich einen Werbekalauer für diese zu verkneifen: "Vollmann bringt's voll, Mann!"). Mindere Literatur, die Marlitt etwa und Karl May, grenzt er ziemlich streng aus, weit strenger als die Literaturwissenschaft, die früher arrogant auf dem Hochkamm wandelte und heute, weil sie nicht mehr begründen kann, was Qualität ist, gar nicht mehr danach sucht. Irgendwo hat Vollmann auch eine sehr schöne - nicht Definition, sondern Beobachtung zur Trivialliteratur.

    Am Beispiel von Anne Radcliffes Schauerromanen beklagt er, daß in ihnen das Grauen, an dem wir eine so seltsame Lust verspüren, hinterher immer aufgeklärt wird: "Man könnte auf die Idee kommen, daß genau das Nichtwahrhaben dieser viel tieferen Lust es ist, das hier wie sonst auch den trivialen Roman eigentlich vom ernsthaften Roman unterscheidet. Ich möchte gern weitergehen und meinen, daß also der triviale Roman nichts als ein bestimmtes Publikum vor Augen hat (und also nicht die Wahrheit), in diesem Falle also ein Publikum, das sich nur ein ganz kleines bißchen gruseln will vor dem, was es dann zum Glück doch nicht in sich habe." Und weiter: "Romanciers des Trivialen sehen statt auf die Wahrheit nur auf ein Publikum, das vermutlich wirklich nicht die Wahrheit, sondern nur Wahrheiten mag, die ihm, aus welchen Gründen immer, schmeicheln."

    Der intelligente Leser mag Schmeicheleien auch, aber die Romane, die ihm gefallen, schmeicheln seiner Erkenntnis, nicht seiner Beschränktheit. Intelligent, und hier schließt sich der Kreis, intelligent wird man aber gerade durch große Bücher. Ganz geschenkt bekommt der Leser die Intelligenz - wie das Vergnügen - aber nicht. Er muß auch etwas von sich geben. Was, das erklärt Vollmann mit einem Zitat eines seiner Lieblingsautoren, Somerset Maugham: "Wenn der Leser nicht bereit ist, von sich etwas zu geben, kann ihm der Roman nicht das Beste geben, was er zu geben hat. Und wenn er dazu nicht imstande ist, sollte er ihn gar nicht lesen."

    Dieser Satz bringt einen nicht viel weiter, zugegeben, aber - ist nicht sonnenklar, was gemeint ist? So geht es einem immer mit Vollmann: Er liefert keine Begriffe, lieber häuft er Beispiel auf Beispiel. Er gibt Anschauung, wo der tote Buchstabe einer Regel sowieso versagt. Wer wissen will, was ein guter Roman ist, muß verfolgen, wie Vollmann gute Romane beschreibt - die meisten der 1000 behandelten Romane findet er lesenswert, manche wundervoll und hinreißend, andere nicht gar so gut, und bei manchen weiß er's gar nicht so genau. Meist erzählt er den Inhalt, gibt etwas zur Entstehungsgeschichte dazu und macht dann meist eine ungemein kluge, treffende, verblüffende Bemerkung. Gern schweift er auch ab - zu den Lebensschicksalen der Autoren, oft so romanesk wie die ihrer Figuren, oder zu allgemeinen Fragen - darf man Romane kürzen? Darf man beim Lesen langweilige Passagen überspringen? Was ist "jugendliches", was "erwachsenes" Lesen? Ein paar dieser treffenden Bemerkungen möchte ich zitieren. Über Friedrich Gottlieb Klopstock: "Klopstock war, als er jung war, das große Genie seiner Zeit; aber dann hat er eigentlich alles falsch gemacht - aber auch dazu gehörte Größe, nur haben wir nichts von ihr, es ist ein Jammer mit Klopstock."

    Über Christoph Martin Wieland: "Jeder wirklich gute Leser wird an ihn geraten, wird sich begeistern, wird beklagen, wie so große Sachen untergehen können, und wird es schließlich begreifen."

    Über Victor Hugos Roman >>Die Elenden <<: "Einen solchen Roman kann es nur ein einziges Mal geben; wer ihn nicht liest, erspart sich vieles, er ist aber auch selber schuld."

    Über Balzacs esoterische Spinnereien: "Die Löcher in den Köpfen der Großen, die man liebt, sind ja nun wirklich was anderes als die Leere in den Köpfen sonst."

    Balzac liebt er wirklich, vielleicht am meisten von allen, nicht zuletzt, weil er uns so viele Romane geschenkt hat. Großen Romanciers, schreibt Vollmann, gelingt nicht jedes Werk, aber dann gehen sie unverdrossen an das nächste, und der Leser hat immer was davon, weil er eben nicht das Perfekte wieder und wieder lesen möchte, sondern immer etwas Neues. Sehr viel weniger liebt Vollmann Gustave Flaubert, der mit jedem Satz kämpft, bis er makellos ist, aber eine Folge von perfekten Sätzen machen noch keinen Roman. So leidet seine "Education sentimentale", die jeder lobt, unter einer gewissen Leblosigkeit, die sich dann im >>Bouvard et Pécuchet <<, Flauberts unvollendeten letzten Roman, wie Mehltau über das Buch legt. Überhaupt ist es nicht so, daß Vollmann nur lobt und liebt und schwärmt. Durchaus nicht! Er hat seine Vorlieben, wie gesagt, die Großproduzenten und guten Vielschreiber, darunter etliche bei uns ganz unbekannte, wie den Spanier Pérez Galdós und den Portugiesen Eca de Queirós, er vergöttert Jane Austen und Henry James; er liebt Stendhal und Somerset Maugham, Stanislaw Witkiewicz und André Gide; er hat seine geliebten Schmerzenskinder, darunter Heinrich Mann und Wilhelm Raabe. Und er hat eine Marotte, die beim Lesen immer lästiger wird: Immer wenn Raabe auftaucht, und Vollmann behandelt alle seine Bücher, es sind schrecklich viele, immer wenn Raabe also auftaucht, wird "mein Freund Werner Fuld" herbeizitiert, der ein Raabe-Buch geschrieben hat. Es ist ein zum Glück einmaliger Fall von Product Placement, stört aber sehr, als Raabe stirbt und Fuld verschwindet, steht ein "endlich!" in meinem Exemplar. Vollmann hat also seine Lese-Affären, mit Karl Gutzkow etwa und Friedrich Spielhagen. Er hat auch seine starken Abneigungen. Jeremias Gotthelf etwa ruft er als Grabspruch nach: "1854. Gotthelf versammelt sich zu seinen Ättis und Müettis auf den ewigen schweizerischen Weidegründen."

    Auch Hans Henny Jahnn, Theodor Storm oder Gustav Freytag verabscheut er ziemlich. Und Thomas Mann, der zahlriche Seitenhiebe einstecken muß. Was ihn an ihm stört: Daß Mann den Leser ständig drauf stoßen muß, wie gut das alles gemacht ist. "Aufputzen durch Stil" nennt Vollmann das, für den die höchste Kunst gerade darin besteht, daß man sie nicht merkt. Auch Musil kommt nicht gut weg: ">>Der Mann ohne Eigenschaften << ist tatsächlich der ideale Roman für die, die im Grunde Romane gar nicht gern lesen."

    Klug, fair und bedenkenswert wie alles ist, was er anläßlich von >>Narziß und Goldmund<< über Herrmann Hesse sagt: "Hesse schreibt wirklich keine gute Prosa, er schreibt umständlich, geziert, feierlich, betulich (niemals eitel, das ist wahr), und seine Seele ist voll von Botschaften, und sein Kopf voller Gedanken, die noch schlechter gedacht sind als seine Botschaften gefühlt. Aber sowohl hier im " Narziß" als auch im benachbarten>>Steppenwolf << gibt es dann Passagen (sie haben immer schon angefangen, wenn man sie bemerkt), in denen eine merkwürdige, meist eine erotische Phantasie plötzlich ganz ungehemmt und sehr genau ausdrückt, wie ihr zumute ist. Die Sprache bekommt dann mit einem Male einen Ton, der, so sehr man sich wehren mag, ins Herz geht; man möchte das gar nicht gern, denn alles bleibt wirr und unklar, aber es ist dann auch eine so betörende Ehrlichkeit mit im Spiel, und so kann man fast gar nicht anders als für ein Weilchen diesem Klang sich öffnen."

    Eine etwas umweghafte Art, zum Kern vorzustoßen, aber ist sie nicht unendlich anschaulicher und ertragreicher als alle Philologie?

    Den größten Schocker freilich hält Vollmann für Franz Kafka-Verehrer bereit. Ihre Zahl deckt sich zwar nahezu mit der der professionellen Leser, aber Vollmann ist das egal, er gehört jedenfalls nicht dazu. Kafkas Sätze sind von einer verblüffenden Vollkommenheit, gibt er zu, aber sie ermüden den Leser auch. Und je genauer er liest, "desto schneller wird er dieses Wesen leid, diesen traurigen Tiefsinn, dieses leere Kreisen im syntaktischen Nichts, dieses bodenlose Verlorengehn in keiner Welt. Schwer zu sagen, wer wir damals waren, als wir das mochten; genießen Sie jetzt den Anblick, wenn Dichter von ihren Sockeln fallen, und bedenken Sie vergnügt, was wir alles haben dulden müssen von denen, die uns mit Kafka die Welt erklären wollten. Mit jedem Dichter, den wir vom Sockel holen, auf den die Ausleger ihn gestellt haben, wird die Welt ein bißchen größer und heller."

    Dichter, meint Vollmann damit auch, gehören auf überhaupt keinen Sockel. Sie gehören in unsere Gesellschaft, und wir in ihre - eine Gesellschaft guter Freunde.

    Der Leser, den Vollmann mit seinem "Roman-Verführer" immer im Auge hat, ist auch ein guter Freund, eine gute Freundin, der er ein Buch, nein, Hunderte empfiehlt. Eine Buchempfehlung ist ja das wunderbarste Geschenk, das sich denken läßt: Weil in diesem Geschenk Welt und Zeit enthalten sind. Welt - das haben wir schon gesehen, ganz am Anfang. Und Zeit auch: Denn beim "richtigen" Lesen der "richtigen" Bücher wird keine Zeit verloren, gar totgeschlagen, wie wir das vorhin, beim Trivialen, hatten, sondern Zeit gewonnen, findet Vollmann: "Wenn wir ins Lesen geraten sind, haben wir keinen Mangel an Zeit mehr: der Autor, der uns ins Lesen gebracht hat, und uns dabei hält, schafft für uns genau das, was er uns wegzunehmen scheint... Er schafft Zeit für uns."

    Rolf Vollmann wird die neun Jahre, die er mit den gut tausend Romanen verbracht hat, die er für die "Wunderbaren Falschmünzer" gelesen hat, nicht als verlorene Zeit betrachten, sondern, da bin ich sicher, als die reichste seines Lebens. Und wer sich Rolf Vollmanns Romanverführer holt - noch billiger wird er nicht mehr -, der wird nach der Lektüre nicht das Gefühl verlorener, sondern gefundener Zeit haben. Und die Aussicht auf viel mehr. Denn er kann anschließend in die Bücherei oder Buchhandlung gehen und George Eliots >>Middlemarch<< holen. Oder den>>Gesandten<< von Henry James. Oder Sachen, von denen er bisher nicht mal wußte, daß es sie gibt. Von Multatuli oder Dmitri Mamin-Ssibirjak. Von Israel Zangwill oder Pio Baroja. Von George Meredith und Willa Cather. Lauter geschenkte Zeit. Lauter geschenkte Welten.