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"Die zehn Gebote" von Johann Kresnik

Auf der Heimfahrt im Zug und beim Durchblättern all der eilfertig hingeäußerten Meinungen, die seit Beginn des so genannten "Bremer Theaterskandals" (und in, zugegeben, nachrichtenarmer Zeit) allüberall die Blätter füllten, wächst vor allem die Wut – über die chronische Fahrlässigkeit auf allen Seiten der Medienschlacht; über die geckenhafte Eitelkeit gerade der kleineren Geister im Kulturbetrieb; über die Bereitschaft, zu Gunsten eines populistischen Gemetzels jede ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Anlass des Spektakels hintan zu stellen, ja möglichst ganz zu vermeiden, wenn’s gerade geschmäcklerisch in den Kram passt. So markiert der "Fall Bremen" den aktuellen Tiefstpunkt des kulturellen Diskurses – weit unterhalb noch der kulturpolitischen Debatte.

Von Michael Laages |
    Lauter Blinde räsonierten hier über die Farbe. Wovon außer von eigenen Vorurteilen etwa wusste der ehedem ja ernst zu nehmende Autor Hans Christoph Buch zu berichten, den (vermutlich absichtsvoll, weil als ex-linker Renegat gegen den unbelehrbaren Alt-Kommunisten Kresnik positioniert) die "Welt" als Meinungsbildner ins Spiel brachte; was der bravere Rolf Schneider, der ihm antwortete? Worauf basierte gar das Urteil der hannoverschen Landesbischöfin Margot Käßmann? Deren Autorität hätte den Fall befrieden müssen – und nicht befeuern dürfen, indem sie mit einstimmte in das Bild-Gezeter über angeblich verletzte "Würde des Raumes". Sie alle und all die Stimmen drum herum hatten nichts gelesen und nichts gesehen vom Stück, und sie gaben das zuweilen auch noch zu im blanken Größenwahn eigener Sinnstifterei – trotzdem nämlich wussten sie doch immer schon alles: über das Theater, das mit derlei Skandaltauglichkeit bloß spekuliert (und darum, so der bekannte Frankfurter Theater-Hin-Richter Gerhard Stadelmaier, eigentlich abgeschafft gehört); über den Regisseur natürlich, den ewigen Schweinkramanstifter und Verhohnepiepler Johann Kresnik - und, schlimmer noch, über den Schauspieler Günter Kaufmann, der doch gerade, sozusagen pünktlich zum Probenbeginn, spektakulär frei gekommen war aus dem Knast, in dem er wegen eines Mordes saß, den er wohl nicht begangen hat.

    Unterschwellig schwang speziell das ja immer mit am Boulevard: dass da (pfui Teufel!) ein Knacki herum klettert am Altar; und dann auch noch mit bloßem Oberkörper! Aber umgekehrt wird ein Ereignis draus – für den speziell, der diesen Günter Kaufmann zuvor und zuletzt als Mitglied des Gefangenen-Ensembles "AufBruch" hinter den Mauern und Gittern von Tegel sah; und ihn nun wie wiedergeboren erlebt.

    Vielleicht aber ist nun speziell mit ihm, mit dem Schauspieler Günter Kaufmann, die Rückkehr "zur Sache" in diesem verfahrenen Fall ja doch noch möglich. Denn auch Kresnik und der Texte-Sammler Christoph Klimke bauen auf ihn, auf den Sohn amerikanischer Besatzer, der schon in Fassbinders Filmen zum "deutschen Neger" wurde – und zum Fremden an sich. Fremd und auf der Flucht stürzt und stolpert er hier nun direkt aus einem brennenden Film-Auto auf den Altar der Gesellschaft, wie Kresnik sie zeigt – und wird als "agnus dei", als Opfer-Lamm Gottes, zum Objekt des offenen Hasses:

    Doch so sehr sie ihn und seinesgleichen hassen, so süchtig ersehnen sie ihn auch als Katalysator all der verdrängten Wünsche und Sehnsüchte, die niemand eigentlich sich eingestehen mag; so fordert "der Fremde" aber auch die Fähigkeit der Welt zum Befolgen göttlicher Gebote heraus.

    Längst aber hat der Mensch sich selbst als Maß aller Dinge vergöttert in Kresnik schöner neuer Welt, Reichtum und Besitz und Kapital gehen ihm über alles; dafür erniedrigt er seinesgleichen wo immer das nötig ist. Eines der im Vorfeld so streitbar umraunten Kresnik-Bilder gehört denn auch zu den stärksten - mehrere ältere Frauen leisten darin nackt hinter großen alten Nähmaschinen Frondienst wie für die Nike-Modefabriken irgendwo in der dritten Billiglohnwelt; drei Party-Zicken räsonieren dazu über den alltäglichen Geldwert dieser Form ökonomischer Unterdrückung. Und IKEA ist auch teurer geworden, seit die Schweden nicht mehr in der DDR produzieren lassen können.

    Wie zu erwarten war, geht es grob und polemisch zu im gedanklichen Gefüge der Gebote - und nur wo Klimke und Kresnik sich etwa der so radikalen wie schmerzbewussten Poesie des Dramatikers Bernard-Marie Koltes bedienen, gewinnt die Beschwörung jene Höhe, die das Thema verdient. Daneben wird ziemlich viel Papier verhandelt – und ziemlich viel gepredigt: gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, gegen Ausbeutung und Kinderarbeit, gegen die Gefühlskälte der entmenschten Welt. Beinahe so, liebe Bischöfin Käßmann, als wären wir auf dem Kirchentag.

    Szenisch dagegen ist bildmächtige Kresnik auf der Höhe, auch was die "Würde des Raumes" betrifft – in den eher kleinen und asketisch kahlen Raum der Friedenskirche hinein hat ihm Martin Klumpp außer dem Altar verschiebbare Podeste und Rampen gebaut, auf denen es sogar ungewohnt statuarisch zugeht; würdig geradezu – trotz Nähmaschinen und Küchenherden. Und zur Erlösung, so ein religionskundiger Besucher, kämen "Die zehn Gebote" ohnehin erst in der Musik – zwei edle Stimmen lässt der Musik-Monteur Serge Weber diese Passion durchziehen, mit Musik von Verdi bis Mahler und Strauss:

    Kein Skandal also, nirgends. Zwei einsame Spruchband-Halter rücken sogar freundlich zur Seite, als zu Beginn das Publikum in die Kirche strömt – sehr nett und irgendwie bremisch ist dieser Protest. Sicher ist da auch keine von Kresniks bedeutendsten Arbeiten in Bremen zu sehen – aber eine, die ernst zu nehmen wäre. Aber wer will das schon, wenn im Vorfeld auch der laute, blöde, ahnungslose Streit genügt.