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Die Zukunft der Sozial- und Geisteswissenschaften

Darf Stammzellenforschung sein oder nicht ? Und wenn ja, in welchem Umfang? Wie halten wir es mit der Gentechnik ? Nicht nur bei Antworten auf solche Fragen sind die Sozial- und Geisteswissenschaften gefordert. Inwieweit diese Disziplinen hier bereits Einfluss nehmen, mit welchen Inhalten sie dies tun, und welche Rolle die Geistes- und Sozialwissenschaften hier in Zukunft spielen werden, ist eine Fragestellung eines EU-Forschungsprojektes.

Von Thomas Wagner |
    Ein frischer Wind weht durch die Baumwipfel im Innenhof der Uni Konstanz. Ansonsten: Wohltuende Stille - genau der Ort, an den sich Studierende gerne mit ein paar Büchern unterm Arm zurückziehen, um sich in das Thema einer Hausarbeit einzulesen.

    "Genau die Bezeichnung ‚brotlose Kunst' habe ich zu hören bekommen, als ich mich entschieden habe, Soziologie zu studieren. Ich habe nämlich zuerst so etwas ähnliches wie Informatik studiert, was mir dann aber nicht gefiel. Die Arbeit schöpfte irgendwie nicht so ganz meine persönlichen Talente aus, wie ich fand. Die war mir zu einseitig."

    Von seinem Soziologie-Studium lässt sich Raimondo Vantegor nicht abbringen - und das, obwohl er weiß, dass die Berufsaussichten nicht allzu rosig sind.

    "Das ist eine schwierige Frage, was ich gerne einmal damit machen würde. Das weiß ich so genau noch nicht. Also ich tendiere im Moment, was meine Interessen anbelangt, ziemlich dazu, gerne einmal etwas künstlerisches zu machen. Aber ich denke einfach, dass Kenntnisse in Soziologie für jeden Menschen recht nützlich sind und dass man daraus für jeden beruf nützliche Aspekte ziehen kann."

    Diesen Satz kann Professor Nico Stehr vorbehaltlos unterschreiben. Stehr arbeitet auf der gegenüberliegenden Seite des Bodensees, an der neu gegründeten privaten Zeppelin-University in Friedrichshafen. Dort ist auf deutscher Seite das EU-Forschungsprojekt "Zukunft der Geistes- und Sozialwissenschaften" angesiedelt. Dass Geistes- und Sozialwissenschaften in High-Tech-Zeiten eine Berechtigung, ja auch eine Zukunft haben , davon ist der Sozialwissenschaftler und Politologe überzeugt.

    "Ich glaube auch, dass das Interesse der Europäischen Kommission an einem Projekt dieser Art ein Ausdruck der Erkenntnis ist, dass die Arbeit der Geistes- und Sozialwissenschaften in der Art der Gesellschaft, in der wir leben, immer wichtiger wird. Das ist eine Gesellschaft, die zerbrechlicher ist. Es ist eine Gesellschaft, die komplexer ist. Es ist eine Gesellschaft, die zunehmend Schwierigkeiten hat, mit den wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnissen, insbesondere bei den Natur- und den Technikwissenschaften, umzugehen. Heute ist das Problem nicht mehr so sehr, dass wir zu wenig wissen, sondern zunehmend, dass wir zu viel wissen."

    Stichwort Wissens- und Informationsgesellschaft: Nicht nur, dass ständig neue Informationen und neues Wissen produziert wird. In atemberaubender Geschwindigkeit - dem Internet sei dank - erfolgt auch der Austausch dieser Inhalte. Das Problem ist nur: Der einzelne kommt damit häufig nicht mehr zurecht. Um zwischen wesentlichem und unwesentlichem unterscheiden zu können, sind, so Professor Nico Stehr, zunehmend die Geistes- und Sozialwissenschaften gefragt:

    "Genau das ist eine Problematik, mit denen die Geistes- und Sozialwissenschaften umgehen. Also Ethik-Kommissionen sind zum Beispiel eine Reaktion auf die Überproduktion von wissenschaftlichen Erkenntnissen oder zumindest von wissenschaftlichen Erkenntnissen, von denen man nicht überzeugt ist, dass sie unmittelbar und begrenzt angewendet werden sollen."

    Darf Stammzellenforschung sein oder nicht ? Und wenn ja, in welchem Umfang? Wie halten wir es mit der Gentechnik ? Nicht nur bei Antworten auf solche Fragen sind die Sozial- und Geisteswissenschaften gefordert. Inwieweit diese Disziplinen hier bereits Einfluss nehmen, mit welchen Inhalten sie dies tun, und welche Rolle die Geistes- und Sozialwissenschaften hier in Zukunft spielen werden, ist eine Fragestellung des EU-Forschungsprojektes. Ein anderes sehr konkretes Beispiel ist die Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaften in Zusammenhang mit einem weltweit wirkenden Phänomen: Dem globalen Klimawandel. Professor Nico Stehr:

    "In der Klimaforschung sollte es nicht nur um die Frage gehen, wie groß die durchschnittliche globale Temperatur, wie groß der globale Temperaturanstieg in den kommenden Jahrzehnten sein wird. Sondern immer wichtiger wird die Frage, wie sich die Gesellschaften, wie sich Regionen, wie sich der einzelne an die zu erwartenden Klimaveränderungen anpasst. Und dies ist eine Frage: Wo wird gesiedelt ? Wie sieht die Ökonomie aus ? Wie sieht der Verkehr aus ? Wie sehen die Bauvorschriften und viele Dinge mehr...Und diese eminent wichtige und bedeutende Frage der Zukunft, die unter der Rubrik ‚Anpassung' werden können, sind sozialwissenschaftliche Fragen."

    In vielen anderen Bereichen ist die Rolle der so genannten ‚Buchwissenschaften'
    nicht so offenkundig. Das liegt nach Ansicht von Professor Stehr daran, dass der Nutzen wissenschaftlicher Erkenntnisse häufig nach dem Modell der Instrumentalität beurteilt wird.

    "Wissenschaftliche Erkenntnisse sind Handwerkszeug, technisches Wissen, das Entlastung zur Folge hat, wenn es in einem bestimmten Anwendungskontext verwendet wird. Die Anwendung geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissens ist in der Regel folgt nicht diesem Modell der Instrumentalität, sondern einem Modell, das ich das ‚Fähigkeitsmodell' nenne."

    Nach diesem Modell ist der Nutzen von Geistes- und Sozialwissenschaften eher indirekt erkennbar. Denn sie wirken vor allem auf das Bewusstsein und das Selbstverständnis des Menschen. Professor Stehr geht nach diesem Modell davon aus, dass der Nutzen der Geistes- und Sozialwissenschaften zwar groß ist, sich aber ungleich schwerer messen lässt als beispielsweise die Einflüsse naturwissenschaftlicher Ergebnisse.

    "Es gibt keine Patente auf den Kategorischen Imperativ, wie es zum Beispiel Patente gibt für Medizinpräparate oder Transistoren. Also die Wirkungen der Geistes- und Sozialwissenschaften ist sehr schwer festzumachen, sehr schwer zu verfolgen, weil geistes- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse im Lauf ihrer Verwendung sich verändern. Sie wirken indirekt. Aber die Akteure, die diese Erkenntnisse verwenden, transportiert etwa durch die Medien, durch die Kirche, transportiert das Erziehungswesen, im Verlauf dieses Transportes werden die Erkenntnisse verändert, transformiert. Und deshalb lassen sie sich nur schwer überhaupt zurückverfolgen zu denen, die ursprünglich diese Ideen produziert haben und für die Produktion dieser Ideen verantwortlich sind."

    Bei der Erforschung des Stellenwertes der Geisteswissenschaften stößt Professor Nico Stehr auf erhebliche Unterschiede in den verschiedenen europäischen Ländern.

    "Ich glaube, es lässt sich wahrscheinlich schon jetzt intuitiv unterstellen, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften beispielsweise in angelsächsischen Ländern eine weniger große Bedeutung haben als beispielsweise in Mitteleuropa, Italien oder Frankreich oder in den osteuropäischen Ländern, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften in den skandinavischen Ländern vielleicht eine weniger bedeutende Rolle haben als beispielsweise in Mitteleuropa."

    Und noch einem Phänomen wollen die beteiligten Forscher auf den Grund gehen: Dass nämlich Geistes- und Sozialwissenschaften vor allem in Ländern mit exportorientierten Volkswirtschaften in den vergangenen Jahren enorm an Bedeutung gewonnen haben. Große Konzerne auch in Deutschland wollen mit Partnern in Osteuropa, vor allem aber in Asien ins Geschäft kommen. Da reichen der ökonomisch geschliffene Sachverstand und Spitzenkenntnisse in Technik- und Naturwissenschaften längst nicht mehr aus. Wer sich nicht mit den kulturellen Gepflogenheiten der Partnerländern auseinandersetzt, mit den Sitten und Gebräuchen dort, der wird kaum zum Erfolg kommen. Deshalb suchen solche Unternehmen zunehmend Manager und Ingenieure mit einer zusätzlichen kulturwissenschaftlichen oder soziologischen Ausbildung - ein Trend, der, so Professor Nico Stehr von der Zeppelin-University in Friedrichshafen, aus seiner Sicht gar nicht so schlecht ist:

    "Also ich bin fest davon überzeugt, dass es den Ingenieuren und Naturwissenschaftlern nichts schaden würde, wenn sie ihrem Grundstudium oder in einer anderen Phase ihres Studiums sich mit bestimmten geistes- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen vertraut machen. Das würden ihnen sicher und auch der Gesellschaft in Zukunft helfen."