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Die Zukunft vor Augen

Unbelastet vom ideologischen Erbe der sowjetischen Vergangenheit, von altem Blockdenken und alten Feindbildern, entdecken die jungen Leute in Odessa ihre Stadt für sich und schlagen Brücken ins Ausland. Sie sprechen Ukrainisch, Russisch, Englisch. Sie reisen nach Moskau, Paris und London - und kehren immer wieder nach Odessa zurück. Die Verbundeheit mit der Heimat ist groß, empfindet auch die junge Jura-Absolventin Galja.

Von Robert Baag |
    Mittagspause in der Nationalakademie für Recht, am Stadtrand von Odessa. Einzeln, paarweise, manchmal auch in kleinen Gruppen verlassen die Studierenden Übungsräume und Hörsäle – manche packen Schoko-Riegel aus, vergleichen ihre Notizen oder eilen hinaus auf den Campus und setzen sich dort in den Schatten der Kastanien und Buchen. Es ist schon frühsommerlich warm.

    Galja ist 22, schmal, mittelgroß, und hat ein ansteckendes, fröhliches Lachen. Sie geht mittags oft die paar Schritte nach Hause – einmal um die Ecke in das Wohnheim, das zur Akademie gehört. Ein nüchterner, lang gezogener Plattenbau – schmucklos, aber praktisch, findet Galja.

    "Also, so wie wir hier untergebracht sind, darüber kann sich, glaub’ ich, keiner beklagen", meint sie. Umgerechnet 10 Euro Miete muss sie bezahlen. Ihr Gehalt als Jung-Assistentin betrage umgerechnet 60 Euro. Vor kurzem noch, als Studentin, war ihr Stipendium nur halb so hoch. Galja ist zufrieden. Aus dem kleinen Transistorradio auf dem Bücherbord tönt leise ukrainische Popmusik, ihr Lieblingssender.

    Und doch: Auch in der Ukraine lassen sich mit 50 Euro netto pro Monat keine großen Sprünge machen. Galja muss sich deshalb nebenher noch etwas dazuverdienen:

    " Na, klar doch! – Aber das ist auch richtig so. Alles andere wäre doch wie: Ein Gehalt kriegen – und ruhig darauf sitzen bleiben. So was wäre doch dumm! - Unser Alltag heute drängt uns doch einfach, sich immer mehr zu wünschen. Und wenn man sich irgendwo etwas dazu verdienen kann – na, warum denn nicht? – Ich zum Beispiel arbeite als Tutorin, gebe jüngeren Studenten Nachhilfe –Jede Form von Arbeit ist zu begrüßen, nur: legal muss sie sein, der Gesellschaft schaden darf sie nicht! "

    Galjas Studienkollegin Katja Morozova schaut kurz ins Zimmer. - Die Zeiten hätten sich zum Glück wirklich geändert, pflichtet sie Galja bei: "Noch vor ein paar Jahren", so erzählt sie, "kam man meist nur über Beziehungen an einen Job." Heute aber wüssten die meisten Chefs: Nur wer gut sei in seinem Fach und klug, der könne einer Firma wirklich Nutzen bringen –zunehmend sähen dies übrigens auch die Behörden ein. Denn dort seien gut ausgebildete Fachleute genauso bitter nötig. Juristinnen zum Beispiel - so wie sie. Das habe sie schon irgendwie geahnt, als sie sich nach der Schule für dieses Fach entschied - Galjas schwarze Augen blitzen schelmisch:

    " Also, ich hab damals einfach nüchtern meine Chancen kalkuliert: Naturwissenschaften? Nö, das hätte ich wohl kaum geschafft – aber, entschuldigen Sie bitte den Ausdruck, weil ich halt, wie man bei uns in Odessa so sagt, eine gut geölte Zunge habe, eben zu reden verstehe, – na, da war’s für mich zu den Rechtswissenschaften gar nicht mehr weit."

    Galja nimmt ihre große Umhängetasche, packt rasch noch ein Buch hinein und steckt die neue Sonnenbrille dazu. - An diesem Nachmittag hat sie frei.

    " Weshalb man gerade mich hier an der Akademie aufgenommen hat? Hm, weiß ich gar nicht. Ehrlich. Das werden wohl nur die Professoren wissen. Aber - na, gut: Ich glaube, ich hab es mir verdient! Ich habe doch gut und viel gelernt. Ich wollte diese Ausbildung. Heute kann ich mich im Spiegel stolz ansehen und fühle mich – was meine Allgemeinbildung angeht – in jeder Gesellschaft sicher. Religion, Philosophie,. Soziologie, Kultur – alles kriegen wir hier mit. Komplexe müssen wir nicht haben. "

    Der Hafen von Odessa: Galja ist oft hier, wenn sie ein bisschen frische Luft und einen freien Blick bis zum Horizont braucht. Die modische, dunkle Sonnenbrille steht ihr gut. Versonnen reckt sie die Nase in den Wind. Nein, sagt Galja, Angst vor der Zukunft hat sie nicht. Obwohl ja nun wirklich niemand wisse, wie Odessa in fünf oder zehn Jahren aussehen wird und welchen Kurs die ganze Ukraine nimmt. Sie kaut gemächlich auf einem Grashalm herum.

    " Hin zu Europa? - Mir ist die Ukraine am nächsten. Ich lebe doch hier, in der Ukraine. Klar muss es irgendwann mal darüber hinaus- und weitergehen. "

    Nach dem Umschwung der vergangenen Monate wünscht Galja sich jetzt aber eine Atempause:

    " Was sicher nicht geht: Zack! Und ab morgen sind wir irgendwie oder irgendwo etwas anderes, sprechen von jetzt auf gleich ne völlig andere Sprache, kriegen ganz andere Gehälter und kaufen völlig andere Waren. "
    Das sei alles doch ein bisschen schnell gegangen, meint Galja. Auf dem Weg hin zur Demokratie seien gar nicht alle mitgekommen.

    " Um es dahin zu schaffen, müssen wir uns erst mal auf der moralischen Ebene vorwärtsbewegen. Würde man dies jetzt überstürzt machen, würden das die meisten Menschen hier als Revolution empfinden. Darauf sind sie aber nicht vorbereitet. Und das - ist überhaupt nicht erstaunlich! "