Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv


Die zweite Geschichte des Nationalsozialismus

Auch Jahrzehnte nach dem Holocaust ist die Bewältigung mit der deutschen Vergangenheit noch nicht beendet. In einem weiteren Buch zu diesem Kapitel der Geschichte werden die Schritte Überwindung, Deutung und Erinnerung thematisiert.

Von Volker Ullrich | 03.08.2009
    Unser Land hält sich zu Recht einiges auf das zugute, was mit dem etwas unglücklichen Wort "Vergangenheitsbewältigung" bezeichnet wird. Gemeint ist damit jene Kultur der kritischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Massenverbrechen, die die Gesellschaft der Bundesrepublik nachhaltig geprägt hat, ja gewissermaßen zu ihrer Staatsräson geworden ist. Dass sich diese Auseinandersetzung keineswegs problemlos vollzog, sondern von vielen Widersprüchen und Widerständen begleitet war, das belegt ein Sammelband, der unter dem Titel "Der Nationalsozialismus - die zweite Geschichte" erschienen ist. In ihrer Einführung erläutern die drei Herausgeber, die Politikwissenschaftler und Historiker Peter Reichel, Harald Schmid und Peter Steinbach, was sie darunter verstanden wissen wollen.

    "Wir haben vor einigen Jahren den Vorschlag gemacht, neutral von einer 'zweiten Geschichte' des Nationalsozialismus zu sprechen. Damit sollte deutlich gemacht werden, dass dessen Nachgeschichte zugleich Loslösung von Vergangenheit, aber auch Integration der Geschichte in das Nachkriegsbewusstsein bedeutete. Diese Nachgeschichte ist ein Vielfaches länger als die zwölf Jahre des 'Dritten Reiches' und steht zu diesem in einem dialektischen Verhältnis der Aufhebung."

    Dreierlei ist in dem Begriff der "Aufhebung" beschlossen: Erstens die politische, justizielle und kulturelle Überwindung der Hitler-Diktatur; zweitens ihre kritisch-verstehende Deutung, Einordnung und Bewertung und drittens die öffentliche Erinnerung an sie und deren verpflichtende Fortschreibung auch für kommende Generationen. Denn, wie bereits Werner Maihofer, der FDP-Abgeordnete und Bielefelder Strafrechtsprofessor während der vierten Verjährungsdebatte über NS-Verbrechen im deutschen Bundestag im Jahr 1979 bemerkt hat:

    "Über Mord wächst irgendwann Gras, und zwar im Regelfall schon nach einer Generation. Über Auschwitz aber wächst kein Gras, noch nicht einmal in 100 Generationen."

    Unter den drei Aspekten "Überwindung - Deutung - Erinnerung" präsentiert der Sammelband ein breites Spektrum an Themen. Peter Reichel geht in seinem Beitrag "Der Nationalsozialismus vor Gericht" der justiziellen Aufarbeitung des begangenen Unrechts nach - von den Nürnberger Prozessen der unmittelbaren Nachkriegszeit über den Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 bis zu den großen Verjährungsdebatten der 60er- und 70er-Jahre. Eindrucksvoll verweist er auf ein Grundproblem: wie bislang präzedenzlose Verbrechen mit den Mitteln des Rechtsstaats sanktioniert werden konnten, ohne dass neues Unrecht entstand. Dennoch spricht er von einem "alles in allem respektablen Ergebnis".

    "Die westdeutsche Gesellschaft hat sich oft widerstrebend und widerstreitend ihrer Vergangenheit zugewandt. Aber sie hat es doch immer wieder getan, tun müssen, angestoßen von außen und von innen."

    Claudia Fröhlich erinnert daran, wie mühsam der Wandel der politischen Kultur in der Bundesrepublik vom Obrigkeitsstaat zu einer liberalen, bürgernahen Demokratie vonstatten ging. Nur im harmonisierenden Rückblick erscheine als gradlinige Erfolgsgeschichte, was erst in scharfen Auseinandersetzungen gerade über die Zeit des Nationalsozialismus durchgesetzt werden musste. Bereits im September 1951 verlangte der FDP-Bundestagsabgeordnete und Ritterkreuzträger Erich Mende im Bundestag:

    "Sieben Jahre (nach der Kapitulation) scheint doch nun Gelegenheit zu sein, einen Schlussstrich zu ziehen und den Blick nach vorn zu richten."

    Die Forderung nach einem Schlussstrich hat die Geschichte der Bundesrepublik von Anfang an begleitet, doch hat sie sich, wie man diesem Band entnehmen kann, auf paradoxe Weise immer wieder ins Gegenteil verkehrt. Denn mit wachsendem zeitlichen Abstand hat die Beschäftigung mit den zwölf Jahren des "Dritten Reiches" nicht etwa ab-, sondern eher noch zugenommen. Christoph Cornelißen zeigt in seinem luziden Essay "Erforschung und Erinnerung", dass die Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus über Jahrzehnte auf vertrackte Weise mit den biografischen Erfahrungen derjenigen Historiker verknüpft geblieben ist, die die Zeit zwischen 1933 und 1945 noch selbst erlebt hatten, und sei es auch nur als Pimpfe oder HJ-Mitglieder. Deutlich wird, welch weiter Weg zurückgelegt werden musste, bevor die Verbrechen des Nationalsozialismus, vor allem der Mord an den europäischen Juden und der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, in allen ihren grauenvollen Dimensionen erkannt und erforscht wurden - und wie lange es gedauert hat bis Kenntnisse darüber im öffentlichen Bewusstsein verankert werden konnten. Dieser Befund wird in den Aufsätzen des zweiten Teils bestätigt, die sich der Repräsentanz des Themas in Literatur und Theater, Film und Fernsehen, in der bildenden Kunst, Architektur und Fotografie, in Mahnmalen und Gedenkstätten widmen. Fast alle Beiträge unterstreichen die Zäsur von Anfang der 60er-Jahre, die im Zeichen einer Öffnung und Liberalisierung der politischen Kultur stand. Das dokumentarische Theater etwa wandte sich verstärkt der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zu - Rolf Hochhuths Stück "Der Stellvertreter" von 1963 über die Haltung Papst Pius' des Zwölften zur Judenvernichtung war dafür typisch. Das Fernsehen setzte mit der seit Oktober 1960 gesendeten vierzehnteiligen Serie "Das Dritte Reich" ein Zeichen. Über diese Dokumentation schreibt Knut
    Hickethier:

    "Bis heute kann sie als Schlüsselproduktion für die Thematisierung der NS-Zeit im bundesdeutschen Fernsehen angesehen werden. Denn trotz einiger Vorläufer war sie es letztlich, die den Einstieg in eine ausführliche televisuelle Darstellung der NS-Zeit einläutete."

    Noch bedeutungsvoller war die Ausstrahlung des amerikanischen Vierteilers "Holocaust" im bundesdeutschen Fernsehen 1979, der das Menschheitsverbrechen exemplarisch anhand der Leidensgeschichte einer jüdischen Familie erzählt. Diese Dramaturgie schuf die Voraussetzung für eine intensive Identifikation mit den Opfern und eine Distanzierung von den Tätern. Nicht wenige der Autoren des Bandes sehen in der Resonanz auf diesen Film den entscheidenden Durchbruch in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit.

    Zwei Einwände drängen sich nach der Lektüre des Kompendiums auf. Zum einen wird der Anspruch, den Umgang beider deutscher Staaten mit der NS-Herrschaft zu thematisieren, keineswegs in allen Beiträgen eingelöst. Zumeist fungiert die DDR, wenn sie überhaupt erwähnt wird, nur als negative Kontrastfolie zur Bundesrepublik, und tatsächlich war ja auch der als Staatsdoktrin proklamierte "Antifaschismus" einer Auseinandersetzung eher hinderlich als förderlich. Zum anderen wird die Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der deutsch-deutschen Vereinigung 1989/90 - immerhin inzwischen 20 Jahre - insgesamt recht kursorisch behandelt. Dabei bleiben wichtige Fragen unbeantwortet, etwa: Was bedeutet es, dass die Generation derer, die das "Dritte Reich" noch erlebt und erlitten haben, nun allmählich ausstirbt, die NS-Diktatur also aus der Zeitgenossenschaft entschwindet? Oder: Wie ist der Umstand zu bewerten, dass in den letzten Jahren ein Perspektivenwechsel stattgefunden hat - von den Opfern der Deutschen hin zu den Deutschen als Opfer? Wird dadurch die Kultur der kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, eine der großen Errungenschaften der alten Bundesrepublik, in Frage gestellt? Diese Einwände können jedoch den Wert der Publikation nicht mindern. So informativ und facettenreich, wie es hier geschieht, ist die komplexe Nachgeschichte des Nationalsozialismus bislang nicht dargestellt worden.

    Rezensiert von Volker Ullrich
    Der Nationalsozialismus - die zweite Geschichte
    Herausgegeben von Peter Reichel, Harald Schmid und Peter Steinbach, Verlag C.H. Beck, München 2009, 29,90 Euro.