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Die zweite Karriere

Mit Annette Friese hätten bis vor wenigen Tagen sicherlich viele Mensche gerne den Platz getauscht. Sie war Event-Chefin in der Kommunikationsabteilung eines großen Energiekonzerns in Nordrhein-Westfalen. In gut zehn Jahren hatte sie es mit viel Einsatz ziemlich weit nach oben geschafft. Einen solchen Job zu kündigen, und das auch noch in einer derart katastrophalen Arbeitsmarktlage, erscheint vielen unvorstellbar. Dazu suchen zu viele, auch Akademiker, verzweifelt nach einem Job oder müssen sich von einer befristeten Stelle zur anderen hangeln. Doch allein die Gewissheit einen sicheren Arbeitsplatz zu haben, machte Annette Friese auch nicht glücklich. Deswegen traf die studierte Geschichtswissenschaftlerin eine folgendschwere Entscheidung. Sie kündigte ihre Stelle, und zwar ohne Rückkehr-Klausel in den alten Job. Die 35-jährige tauscht den festen Boden unter ihren Füßen gegen schwankende Bootsplanken ein und lebt fortan auf hoher See. Mit einem Leben im Jet-Set hat dieses neue Lebenskonzept jedoch so gar nichts zu tun.

Von Nora Hertel |
    Alles was Annette Friese in Zukunft bei sich haben wird, passt in diese Tasche. Die seriösen Kostüme und Hosenanzüge, die eleganten hochhackigen Schuhe - all das wird sie in ihrem neuen Leben nicht mehr brauchen. Ihre Freundinnen freuen sich über die Leihgaben, alles andere wandert in Tüten und Kisten, die sie unterstellt. In ihrem neuen Leben muss die 35-jährige keine Manager mehr mit Präsentationen beeindrucken, sondern sich gegen die Naturgewalten behaupten. Und davon will sie auch leben:

    " Es gibt ja nun mal Leute, die Boote besitzen und die nicht selber segeln wollen, die engagieren dann eine Crew , je nachdem wie groß das Boot ist mit Skipper und Deckhands. Oder es gibt Leute, die segeln zwar selber aber wollen keine großen Entfernungen segeln. Dann wird ein Überführungstörn gemacht und dafür wird dann auch eine Crew angeheuert. Und das kann man eben beruflich tun. "

    Eine zweite Karriere will sich die ehemalige PR-Fach-Frau sich aufbauen. Darauf bereitet sie sich vor, seit der Entschluss auszuwandern vor ein paar Monaten endgültig fiel:

    " Ich segle schon seit vielen Jahren und habe jetzt angefangen, die entsprechenden Lizenzen zu erwerben. Und am Ende soll dann das Ergebnis sein, dass ich wirklich auch eigenverantwortlich ein Boot führen kann. Die Segelszene ist recht groß, die Konkurrenz wird auch groß sein, aber ich habe mir das jetzt in den Kopf gesetzt und ich werde versuchen, es bis dahin zu bringen. "

    Wie die Arbeitsmarktlage auf den Meeren dieser Welt sein wird, weiß Annette Friese jetzt noch nicht genau. Bis jetzt gibt es nur eine Vision vom neuen Leben und ein erstes Engagement bei einer Segelschule im Mittelmeer. Das Traumziel ist die Karibik. An solchen Orten erhofft sie sich ein Leben mit weniger Bürokratie und Hierarchien. Ihre Arbeit soll künftig nicht nur aus E-Mails, Telefonaten und Meetings bestehen, sondern handfest sein und greifbare Ergebnisse zeigen:

    " Was ich so toll finde ist – das Leben in der Natur, draußen, das ich wieder Dinge mit meinen Händen machen kann. Ich beschäftige mich gerne mit den Dingen, die auf dem Boot sind. Ich repariere solche Sachen gerne. Ich liebe es, dass ich ein Boot mit der Kraft des Windes von A nach B bewegen kann. "

    Nicht jeder hat das Privileg, das Unbehagen, dass das im Leben noch nicht alles gewesen sein kann, so ausleben zu können. Im Gesprächszimmer der Ärztin und Psychotherapeutin Ursula Tirier sitzen immer wieder Frauen und Männer, die nach dem Sinn ihrer Arbeit und ihres Daseins suchen. Dass die Zweifelnden gerade Menschen in gehobeneren Positionen sind, die viel arbeiten müssen, ist für Frau Tirier ein Klassiker:

    " Es ist immer wieder so, dass die Menschen dann schildern, dass sie das Phänomen Freiheit und Offenheit und Flexibilität zu wenig leben konnten. Dass sie das Gefühl hatten, so wie ein Hamster im Käfig: Ich drehe mich, ich drehe mich immer mehr. Und das Gefühl hatten, ich fühle mich so fremdbestimmt. Das fängt oft schon beim Aussehen an. Ich muss mich so und so immer kleiden. Als Frau: Ich muss mich so und so immer schminken. Das sind Menschen, die müssen in ihrem beruflichen Leben Aussagen machen, Konzeptionen entwickeln, von denen sie sagen, das hat mit meinem Weltbild nicht mehr so viel zu tun. "

    Manchmal bleibt als Möglichkeit nur der Ausstieg. Ursula Tirier hat einen Arzt in leitender Position dabei begleitet, den Medizinerjob an den Nagel zu hängen und sich eine Existenz als Künstler aufzubauen. Auch ein Manager stieg unter ihrer Anleitung aus und machte sich selbstständig. Aber nicht immer muss die Veränderung so drastisch sein. Der Leitsatz "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" ist nicht die Maxime, die die Essener Therapeutin ihren Klienten nahe bringen will:

    " Und dann schauen wir genau hin, wo gibt es Anteile, wo sie sich fremdbestimmt fühlen, wo sie sich ändern können. Das heißt auch mal Gespräche mit Vorgesetzten zu führen, mit Mitarbeitern um zu kucken: Wo übernehme ich vielleicht Verantwortung, die nicht unbedingt die meine ist. Dann ist mir wichtig das Suchen. Dass diese Menschen nach Nischen suchen, nach Lebensbereichen. Dass sie sagen, das ist jetzt ein Tag, an dem ich mal ganz etwas anderes mache um den Kontakt zu einem etwas anderen Leben zu bekommen. "

    Ob der Ausstieg aus dem bürgerlichen Arbeitsleben für Annette Friese das Richtige ist, das wird sich in den kommenden Monaten und Jahren herausstellen. Dass der neue Lebensentwurf scheitern könnte, hat sie als Möglichkeit einkalkuliert. Deswegen werden ihre vielen Bücher auch nicht verkauft, sondern nur bei Freunden untergestellt:

    " Ich habe Angst davor, dass ich entdecke, dass diese Idee nicht zu mir passt und ich mir dann was neues überlegen muss. Ich mache mir Gedanken darüber, ob ich das alles zu sehr romantisiert habe und ob die Realität dann doch eine andere ist, aber das werde ich dann sehen und mir etwas anderes überlegen. "