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Die zweite Liebesüberraschung

Die ganze Mechanik der Liebesgefühle hat kein Theaterdichter so schön ausgearbeitet wie der französische Rokoko-Dichter Marivaux. Sein Stück "La seconde surprise de l'amour" wurde nun im modernen Théâtre des Amandiers in der Pariser Vorstadt Nanterre aufgeführt, einer Spielstätte, die sich vor allem um Aufführungen zeitgenössischer Texte verdient gemacht hat. Luc Bondy inszenierte den zeitlosen Marivaux.

Von Eberhard Spreng |
    Was für eine reizende Nachbarschaft ! Die Marquise trauert um den frühen Verlust ihres Ehemannes, der Chevalier um den Verlust einer untreuen Geliebten. Beide habe ihr eigenes Haus, aber sie teilen sich einen gemeinsamen Garten, wo man sich treffen und über die größten Verlustschmerzen hinweghelfen kann. Aber beide haben auch je einen Bediensteten, die smarte Lisette und den einfältigen Lubin und die haben in ihrem urmenschlichen Liebesinstinkt sofort erkannt, dass die beiden Herrschaften für einander viel mehr empfinden als reine Freundschaft. Würde der Chevalier seine Reisepläne aufgeben, dann könnten auch die beiden Diener ein Paar werden. Weil sie aber viel zu schnell für sicher halten, was die kapriziösen Herzen ihrer Herren noch nicht wahr haben wollen, weil sie also schon von deren Liebe reden, während die sich noch zieren, verkompliziert sich die Angelegenheit bis aufs Äußerste und droht zwei ganze Akte lang zu scheitern, vor allem für die emotional aufgelöste Marquise.

    Weil der Stolz und die Sorge um den Ruf den Chevalier und die Marquise immer wieder entzweien, kann sich ein Graf Hoffnung machen, die Marquise zu ehelichen und auch der verarmte Philosoph Hortensius hofft, ihr verbunden zu bleiben, was eine dauerhafte Lösung für seine materiellen Nöte wäre. Der vorzügliche Pascal Bongard spielt diesen Gelehrten, der mit Bündeln von Büchern in einem Einkaufsagen herumfährt wie ein Penner mit seinen Habseligkeiten. Dieser ewige Student, ein typischer Vertreter des neuen intellektuellen Prekariats hält für die trauernde Marquise Lesestunden, in denn er die Ratio preist und die Sinne verdammt.

    Beim Rokoko-Dichter Marivaux weiß man im Voraus, wie der Kampf ausgeht. Die Vernunft hat keine Chance, das Chaos der Gefühle zu ordnen. Bei ihrer ersten Begegnung stehen die beiden Liebesabenteurer - Clothilde Hesme und Micha Lescot spielen sie als Menschen von Heute - verschämt nebeneinander wie an einer Bushaltestelle, stupsen sich dann neckisch wie Jungendliche, weil sie wirkliche Berührung noch scheuen und ziehen sich dann wieder in ihre kleinen schwarzen Häuschen zurück. Karl-Ernst Herrmann hat diese an die Enden eines langen Laufstegs aufgebaut, der fast über die ganze Breite der Bühne im Mehrzwecksaal der Théâtre des Amandiers geht. Trauerflor umweht zuerst das Häuschen der Marquise, ein schwarzer Tüll, in dem man sich verfangen kann. Aber jedes Mal, wenn der Stolz der Einsamen, der bitter-kapriziöse Spaß an der eigenen Trauer vom verliebten Herzen überwältigt wird, schieben sich die beiden Häuschen unmerklich aufeinander zu. Das Bühnenbild wird so zum Subtext, zum Zeichen für das Unaussprechliche.

    22 Jahre liegen zwischen dieser "Zweiten Liebeüberraschung" und Luc-Bondys Marivaux-Inszenierung vom "Triumph der Liebe" an der Schaubühne. Auch da hatte die Ratio gegen die Sinne gekämpft, litt ein alternder weltabgewandter Philosoph erst an entflammten und dann am gebrochenen Herzen. Auch hier kleidete Moidele Bickel die Schauspieler ein, schuf Karl-Ernst Herrmann ein gewaltiges barockes Gartendekor inklusive eines hüfthohen Bassins, in dem die stolze Vernunft baden ging.

    Die ungleich größere Opulenz der szenischen Zeichen in der damaligen Arbeit ist nicht nur mit dem größeren dramaturgischen Reichtum des damaligen Stückes zu erklären und auch nicht allein mit dem da noch üppigen Etat für Theater und ihre Bühnenbilder. Fast eine Generation später setzt Bondy mit Marivaux nur noch auf Schauspieler in einfachen, fast heutigen Kostümen, begnügt sich in zwei kurzen Stunden mit einem Grundton, einer Bühnenbild-Metapher. Hier sprechen nicht Bilder sondern ausschließlich Akteure. Der "Triumph der Liebe" endete dramatisch, die "zweite Liebesüberraschung" in einem traurigen Happy-End. Eine Doppelhochzeit steht an, "Allons, de la joie"! "Nun los, freut Euch" ruft Diener Lubin, aber Freude kommt nicht mehr auf. Die Liebe, diese letzte Insel des Wahnsinns inmitten einer zu Tode rationalisierten Welt, hat nunmehr nur noch melancholische Bewohner.