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Die Zweitsprache ist das Problem

Nach Erkenntnissen des Mannheimer Soziologen Professor Hartmut Esser haben gute Kenntnisse der Muttersprache keinen siginifikanten Einfluss auf die Erfolgschancen von Migrantenkindern in der Schule und dem späterem Arbeitsleben. Es gelte deshalb, zunächst die Deutschkenntnisse zu fördern, die das eigentliche Problem der Kinder sei, betont Esser.

Moderation: Christoph Schmitz |
    Nach Erkenntnissen des Mannheimer Soziologen Professor Hartmut Esser haben gute Kenntnisse der Muttersprache keinen siginifikanten Einfluss auf die Erfolgschancen von Migrantenkindern in der Schule und dem späterem Arbeitsleben. Es gelte deshalb, zunächst die Deutschkenntnisse zu fördern, die das eigentliche Problem der Kinder sei, betont Esser.

    Christoph Schmitz: Das neue Schuljahr hat in Nordrhein-Westfalen wieder begonnen, in den nächsten Wochen ziehen andere Bundesländer nach. Und in manchen Klassen sitzen dann Kinder, von denen mitunter mehr als die Hälfte aus Migrantenfamilien kommt. Eingebürgert oder nicht, deutschkundig oder weniger, bilingual oder auch nur mit einem Mix aus Mutter- und Landessprache ausgestattet. Dass Sprache zentraler Faktor für Bildung und Zukunftschance ist, ist bekannt. Hartmut Esser von der Universität Mannheim forscht seit Jahren rund um den Globus, unter welchen Bedingungen Menschen ihre zweite Sprache erfolgreich erwerben und sich zugleich ihre Muttersprache erhalten - und ob es eine Verbindung zwischen Beherrschung der Muttersprache und der zweiten Sprache gibt. In diesem Herbst wird es Hamburg einen Kongress zum Streitfall Bilingualität geben. Herr Esser, warum überhaupt Streitfall Bilingualität?

    Hartmut Esser: Also warum Streitfall. Ich habe vor zwei Jahren rausgefunden, es gibt so gut wie keine nachweisbaren empirischen Zusammenhänge zwischen muttersprachlicher Kompetenz und irgendwelchen Schulerfolgen oder auf dem Arbeitsmarkt. Und das war entgegen mancher ganz apodiktischer Äußerungen in Gutachten vorher, worauf auch dann bestimmte Programme gemacht worden sind. Also das stand in dem Süssmuth-Gutachten drin mit den entsprechenden Schlussfolgerungen, dann gibt es ein Bund-Länder-Kommissionsprojekt seit 2006, glaube ich, ziemlich umfangreich und teuer. Und das war auch mit Gutachten versehen, wo das ganz anders drin stand.

    Schmitz: Herr Esser, wie stand das da drin? Also welche Thesen waren in diesen Gutachten formuliert worden?

    Esser: Also der zentrale Satz, über den ich damals gestolpert war, stand: Es gibt einen straffen Zusammenhang zwischen Muttersprachkompetenz und dem Erwerb der Zweitsprache und anderen kognitiven Leistungen.

    Schmitz: Also ein positiver Zusammenhang in dem Sinne, dass man ...

    Esser: Ein straffer. Und zwar international wäre das belegt mit allen möglichen Studien usw. Und da ich Wissenschaftler bin, habe ich gesagt, okay, das steht hier, jetzt gucke ich mir mal die Studien an. Und dann habe ich mir die Studien angesehen, und da kam was anderes raus. Es gibt alles andere als eindeutige Belege.

    Schmitz: Herr Esser, nur noch mal, um das zu verdeutlichen: Ein straffer Zusammenhang zwischen der muttersprachlichen Kompetenz, die Voraussetzung angeblich sein soll, um auch die Fremdsprache, also die zweite Sprache, in dem Fall Deutsch, erlernen und beherrschen zu können, woraus man dann schlussfolgernd sagte: Wir müssen auch die Muttersprache unserer Migrantenkinder im Unterricht stärken.

    Esser: Richtig, so war das.

    Schmitz: Nun, Sie haben also rund um den Globus, wie gesagt, geforscht, in Großbritannien, Australien, Israel, USA und Kanada, also in den klassischen Einwandererländern. Was genau haben Sie denn da nun herausgefunden, was dem widerspricht, was in Deutschland als These verkündet wurde?

    Esser: Also in Deutschland gibt es praktisch keine Untersuchungen dazu. Ich habe mir die Studien USA/Kanada angesehen, und da kam das eben raus. Was international verbreitet ist, sind die Bedingungen für den L2-Erwerb, also den Zweitspracherwerb. Das ist was anderes. Aber wir reden ja jetzt über diese Erstsprachkompetenzen, und da kam eben für die Studien USA und Kanada raus, dass es halt eben sehr umstritten ist, entweder schwache Effekte oder gar keine. Und dazu gibt es auch sogenannte Metaanalysen, die also verschiedene Analysen zusammengetragen haben und beispielsweise eine Zahl: Die hatten 350 Studien, und von denen sind in einer Metaanalyse nur noch 11 übrig geblieben, die überhaupt brauchbar waren. Und das ist das Problem: Man hat eigentlich gar keine brauchbaren Studien zu dem Ganzen gehabt, international nicht. Und auf dem Hintergrund ist trotzdem die Vorstellung entstanden, das sei ein straffer Zusammenhang. Ich habe immer gefragt, gebt mir die Studie oder die Ergebnisse, die ich übersehen habe - die kenne ich bis heute nicht.

    Schmitz: Das heißt, da muss es ja sozusagen ideologische Interessen geben, warum man diesen Zusammenhang unbedingt sehen will.

    Esser: Ja.

    Schmitz: Wie erklären Sie sich das?

    Esser: Ich glaube noch nicht mal ideologisch, sondern es sind ganz klare "vested interests", also materielle Interessen hätte ich fast gesagt.

    Schmitz: Das heißt?

    Esser: Ja, ich meine, es gibt natürlich Geld dafür, dass man das macht. Die Programme, da sind ja Leute mit beschäftigt. Ich meine, es gibt ganze Verbände, die auf dieser Grundlage arbeiten usw. Es gibt ganze erziehungswissenschaftliche Fakultäten, die damit beschäftigt sind. Also mir ist das kein Geheimnis, warum man sozusagen aufgeregt ist. Aber das kann natürlich kein Grund sein. Und mittlerweile ist die Argumentation auch ein bisschen anders. Man sagt, okay, das stimmt zwar vielleicht, dass das eine wackelige empirische Grundlage hat, aber die Muttersprache ist ein Wert an sich, und das ist eine politische Entscheidung. Und da sage ich, das kann natürlich sein, aber ihr habt vorher das anders versucht zu begründen. Und diese andere Begründung mit den Wirkungen, die lässt sich nicht halten.

    Schmitz: Welche Forderungen an das deutsche Bildungs- und Integrationswesen oder Politik ergeben sich denn aus Ihren Erkenntnissen? Also kommt es jetzt darauf an, dass man die frühkindlichen, vorschulischen Deutschkenntnisse verbessert?

    Esser: Also ich würde zwei Vorstellungen entwickeln, nach dem, was man weiß, auch über den Zweitspracherwerb. Das Erste ist in der Tat, was Sie sagen. Es scheint so zu sein, dass in der frühen Kindheit, also bis sechs, sieben oder so, im Grunde alles ganz mühelos möglich ist, wenn nur der Kontakt zu beiden Sprachen oder noch mehr Sprachen in einem ganz zwanglosen Zusammenhang möglich ist. Und das allerdings auch dann möglicherweise flankiert von Unterstützung muttersprachlicher Kompetenz, und das kann man ja auch tun in dem Alter, warum eigentlich nicht. Und dann später eigentlich, alles, was jetzt versucht wird verhältnismäßig effizienzlos, dass man das, was man in die muttersprachliche Förderung reingesteckt hat oder in diese multikulturelle Erziehung, dass man das konsequent in die L2-Förderung reinsteckt.

    Schmitz: L2-Förderung heißt?

    Esser: L2 ist Zweitsprache, also deutschsprachliche Förderung. Also wenn es Probleme gibt, das dann nicht irgendwie zu versuchen zu reparieren durch diese muttersprachlichen Programme, sondern gleich dann auch da zu reparieren, was nötig ist. Und das ist die Zweitsprache im Wesentlichen. Das Problem der Ausländerkinder hierzulande, wie übrigens auf der ganzen Welt, ist nicht die Muttersprache, sondern es ist die Zweitsprache. Das ist das Problem.