Freitag, 19. April 2024

Archiv


Die zynischen Seiten des Lebens

Jonathan Coes "Klassentreffen" ist ein ungeheuer reicher, vielschichtiger und vieldeutiger Roman. Coe setzt in dem Buch die Geschichte seines Romans "Erste Riten" fort. Es geht um Politik und Privatleben, um die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen in England zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Von Martin Ebel | 16.07.2006
    Jonathan Coes Roman beginnt auf den Kalkklippen von Etretat, an einem der inspirierendsten Plätze Frankreichs. Bevor der Leser aber in den vollen Genuss des "Klassentreffens" kommt, muss er seinerseits zwei Klippen umschiffen. Der Roman hat einen Vorgänger, und er selbst kommt erst einmal nicht vom Fleck. Beide Klippen sind indes als gut überwindbar: die zweite durch flottes Weiterlesen, die erste durch den Anhang des Romans. Diesen, und das ist ein dringender Rat, sollte man zuallererst lesen. Denn darin fast der Autor auf drei Seiten zusammen, was im vorangehenden Roman geschehen ist. Der trägt den Titel "Erste Riten" und erschien bei uns vor vier Jahren. "Klassentreffen" ist also das, was man in der Filmbranche ein "Sequel" nennt, ein "Nachdreher", allerdings im Unterschied zu diesen nicht aus rein kommerzieller, sondern aus innerer Notwendigkeit entstanden.

    "Erste Riten" macht uns mit ein paar Teenagern bekannt, die in den 70er Jahren die King Williams School in Birmingham besuchen. Es ist für England eine Zeit des Niedergangs, ganze Industriezweige brechen zusammen, die Gewerkschaften legen mit immer neuen Streikwellen das öffentliche Leben lahm, die IRA verübt Terroranschläge, und am Horizont zeichnet sich der Wahlsieg Margaret Thatchers ab. Im Mittelpunkt von "Erste Riten" steht Benjamin Trotter; er ist der begabteste Junge im Freundeskreis, Mitherausgeber der Schülerzeitung und nach Meinung aller ein künftiger großer Dichter. Auch alle anderen - Sean Harding, Doug Anderton, Philip Chase und die Mädchen Emily und Claire - erwarten für sich selbst viel vom Leben.

    Was ist aus diesen Erwartungen geworden? Das ist der Stoff des neuen Romans "Klassentreffen". Auch in ihm geht es um Politik und Privatleben, um die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen in England. Wird nun im 21. Jahrhundert angekommen, der Premier heißt Tony Blair, aber seine Politik ist immer noch die von Maggie Thatcher. Der öffentliche Sektor wird abgebaut, der private gefördert; Arbeitsplätze verschwinden, eine neue Klasse bereichert sich hemmungslos.

    "Mein erster Eindruck ...","

    sagt Claire, die nach einigen Jahren in Italien nach Birmingham zurückkehrt und die der Autor mithilfe dieses Zeitsprungs als Zeugin der Veränderung einsetzt,

    ""mein erster Eindruck ist, dass es in dieser Stadt eine große Anzahl von Menschen gibt, die nicht mehr arbeiten, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sie etwas produzieren oder verkaufen. Das gilt offenbar als ziemlich altmodisch. Stattdessen treffen sich die Leute, und sie reden. Und wenn sie sich nicht persönlich treffen und reden, reden sie meist in ihre Handys, und meist reden sie hinein, um irgendein neues Treffen zu vereinbaren. Ich wüsste wirklich brennend gern, worüber sie reden, wenn sie sich schließlich treffen."

    Natürlich verschweigt uns der Autor das nicht, sondern lässt uns an etlichen dieser Gespräche teilnehmen, in dem es um "Freisetzung" - also um Arbeitsplatzabbau -, um Verlagerung ganzer Standorte und um Gewinnmaximierung geht. Wie ein Remake der großen Schlachten der 70er erscheint das Ringen um die Rover-Fabrik in Longbridge, von BMW erst gekauft, dann abgestoßen - ein authentischer Vorgang, den Coe wie vieles aus der Aktualität geschickt in die Handlung integriert. Die Politik erweist sich meist als ziemlich hilflos; steht sie in der Opposition, versucht sie das Wasser des Protestes der Betroffenen auf ihre Mühlen zu lenken; ist sie an der Regierung, eiert sie herum.

    Exemplarisch für diesen Politikertypus steht Paul Trotter. Der jüngere Bruder Benjamin. Pauls, im ersten Roman eine unangenehme und unsympathische Nebenfigur, steigt im "Klassentreffen" zu zentraler Bedeutung auf. Er sitzt für Tony Blairs New Labour im Unterhaus, ein Hinterbänkler mit enormem Aufstiegswillen. Dass es ihm an allem gebricht, was eine politische Persönlichkeit ausmacht - Charme und Charisma, Grundsätze und Werte, Intelligenz und Humor -, irritiert ihn nicht im geringsten, und es stellt auch kein wesentliches Hindernis dar. Denn für all dies gibt ihm Jonathan Coe den perfekten Ersatz: eine Medienberaterin. Die heißt Malvina, ist jung, hübsch und brillant, wird von Benjamin schüchtern geliebt, von Paul aber zu seiner Geliebten gemacht. Malvina, gerade dem Hörsaal entwachsen, erklärt ihm, wie Politik funktioniert:

    "'Wenn ich dich richtig verstehe', sagte Paul, 'bist du also der Meinung, dass der politische Diskurs ein Schlachtfeld geworden ist, auf dem die Politiker und Journalisten täglich miteinander um die Bedeutung von Wörtern kämpfen.'
    'Ja - denn die Politiker achten inzwischen höllisch darauf, was sie sagen, und deshalb sind die politischen Aussagen so schwammig geworden, dass Journalisten die Aufgabe haben, eine Bedeutung in die Worte hineinzukonstruieren, die ihnen geliefert werden. Wichtig ist nicht mehr, was Leute wie du sagen, sondern wie es interpretiert wird.'
    Paul nickte langsam, er sah ihr unablässig in die Augen.
    'Ironie ist angesagt', versicherte sie ihm. 'Ziemlich in. Und darum brauchst du gar nicht mehr klar zu sagen, was du meinst. Du brauchst das, was du sagst, nicht einmal mehr wirklich zu meinen. Das ist das Schöne daran.'
    Für eine Weile saß Paul schweigend und reglos da, gebannt von ihren Worten, ihrer Gewissheit, ihrer Ruhe. Von ihrer Jugend. Dann sagte er: 'Malvina, willst du für mich arbeiten?'"

    Malvina will, aber es entpuppt sich als ein knüppelhartes Stück Arbeit. Denn Paul stolpert zielsicher in jedes Fettnäpfchen, und Jonathan Coe stellt ihm erstens genügend hin und weiß die Fehltritte seines Helden zweitens mit der nötigen Schadenfreude zu inszenieren. In eine Comedy-Show eingeladen, gelingt dem Politiker kein einziger Witz, dafür aber, im Telefonat mit einem Zeitungsjournalisten die völlige deplatzierte Bemerkung, er freue sich über die Schließung des Longbridge-Werkes. Malvina hat alle Hände voll zu tun, "Missverständnisse" solcher Art wieder gerade zu rücken. Überaus tölpelhaft geraten Pauls Versuche, sich den Medien als Politiker zum Anfassen anzudienen. So sucht er die Nähe zu Doug Anderton, seinen ehemaligen Mitschüler, jetzt ein einflussreicher politischer Kommentator.

    "'Aber als Schüler haben wir einander gehasst', sagte Doug und wies damit geschickt auf die einzige Schwachstelle von Pauls Vorschlag hin.
    'Aber nicht doch', sagte Paul frappiert und runzelte die Stirn. 'War das echt so?'
    'Natürlich war das so. Na, schön - im Grunde hat dich jeder gehasst. Das musst du doch noch wissen.'
    'Wirklich? Warum?'
    'Weil dich alle für einen miesen, kleinen, rechten Furz gehalten haben.'
    'Ach, so - aber das war ja nichts Persönliches. Das heißt doch, dass wir trotzdem Freunde sein können, zumal nach zwanzig Jahren, oder?'
    Doug kratzte sich am Kopf. Er war ziemlich verdutzt, welche Richtung das Gespräch nahm. 'Paul, du bist mit den Jahren nicht weniger seltsam geworden. Was meinst du mit 'Freunde'? Wie könnten wir je Freunde sein? Worauf sollte diese Freundschaft denn beruhen?'
    'Tja...' Paul hatte sich längst eine Antwort auf diese Frage überlegt. 'Malvina dachte - nur als Beispiel -, dass wir ja beide Kinder im gleichen Alter haben, und die könnten wir doch mal zusammenbringen und schauen, ob sie miteinander spielen.'
    'Damit ich dich richtig verstehe", sagte Doug, "deine Medienberaterin schlägt vor, dass unsere Kinder miteinander spielen? Das ist wirklich das Absurdeste, was ich je gehört habe.'"

    Dennoch lässt sich Doug darauf ein, in einer Mischung aus Ekel, Faszination und Verblüffung über soviel Chuzpe und Naivität. Außerdem hofft er - soweit ist er selbst Medienprofi - darauf, dass Paul in irgendetwas hineingeraten wird, einen Skandal, eine Affäre, und dann sozusagen in der ersten Reihe zu sitzen. Allerdings wird Doug vorher selbst aus dieser Reihe abgezogen; sein Chefredakteur versetzt ihn in den Kulturteil, wo er künftig Literaturkritiken schreiben muss - was Jonathan Coe Anlass gibt, die ungeheure Verachtung, die die vermeintlich wichtigen Abteilungen der Zeitung dem Kulturteil entgegenbringen, auszumalen. Sie wird nur noch übertroffen von der Verachtung, die der Literaturredakteur selbst seinem neuen Arbeitsplatz entgegenbringt:

    "'Die Buchseiten werden von ungefähr zehn Leuten gelesen, und acht davon schreiben selbst.'"

    Coe ist Engländer, und - warum auch immer, aber es ist so - die englischen Autoren sitzen nun einmal näher an den Quellen des Humors als andere. Coe hat für diesen Roman einen besonders großen Schluck daraus genommen, denn nahezu alles - von der Charakterlosigkeit der Politiker über die Skrupellosigkeit der Wirtschaftsführer bis hin zur Kultur- und Niveaulosigkeit der Chefredakteure - ist satirisch-humoristisch grundiert. Humor wiederum siedelt nahe am Mitgefühl. Und dieses darf sogar der "miese, kleine, rechte Furz", der Paul letztlich geblieben ist, beanspruchen. Dass er Malvinas Liebe gewinnt, mag vielleicht anfangs das Gerechtigkeitsempfinden des Lesers empören - man gönnte sie doch, wenn schon, viel eher dem scheuen, aber charakterlich untadeligen und so schrecklich leidenden Benjamin. Aber wo gibt es schon Gerechtigkeit? In der Liebe zuallerletzt, und also muss sich auch die Literatur nicht daran halten. Beeindrucken wird den Leser immerhin die Konsequenz, mit der Paul sich für Malvina entscheidet, obwohl es ihn erst einmal seine politische Karriere kosten wird. Damit es nicht gar zu rührselig wird, zeigt uns Jonathan Coe seinen Helden am Ende des Buches vor der Unterhaus-Abstimmung über den Irak-Krieg. Wem soll er folgen? Seinem Parteivorsitzenden und Premierminister oder der Mehrheit der Bevölkerung, also auch seinen Wählern? Was soll jemand tun, der keine eigene Meinung hat und keine Grundsätze, aus denen er eine solche entwickeln kann? "Folge der Stimme deines Herzens", rät ihm Malvina. Das tut er, aber anders, als der Rat gemeint ist.

    "Obwohl die Debatte immer leidenschaftlicher geführt wurde, begannen Pauls Gedanken abzuschweifen. Er dachte über Malvina nach, und er dachte über die Formalitäten einer Trennung von Susan nach, und er dachte an das verlotterte Hotel am Regent's Park und den unverschämt glotzenden jungen Typen hinter der Rezeption. Und dann kam ihm plötzlich ein anderer Gedanke. Eigentlich hatte er schon seit Tagen im Schatten anderer Gedanken auf seinen Auftritt gewartet, doch an diesem Abend marschierte er dreist nach ganz vorn und stellte sich in den Mittelpunkt. Es war ein verwerflicher Gedanke, aber er ließ sich trotzdem nicht mehr unterdrücken. Paul dachte: Wenn wir gegen den Irak Krieg führen, wird Mark dorthin geschickt, und wir können wieder in seiner Wohnung sein.
    Und nichts wünschte er sich sehnlicher."

    Mark ist Kriegsreporter und sein Schwager, in dessen Londoner Wohnung Paul und Malvina sich immer heimlich getroffen haben. Zieht England nicht in den Krieg, bleibt Mark in London und blockiert das Liebesnest.

    "An dem Abend stimmten 121 Labour-Abgeordnete gegen die Regierung und für den Zusatzantrag der Kriegsgegner. Doch Paul gehörte nicht dazu. Er war der Stimme seines Herzens gefolgt, und als Antwort pochte es wild, als er durch die verlassenen Strassen nach Hause ging."

    Ist das zynisch? Wenn ja, dann liegt der Zynismus in der Sache, nicht beim Autor. Der sieht eine Sache immer von verschiedenen Seiten, und Jonathan Coe erfüllt diese genuine Aufgabe des Romanciers bis zum Übersoll. Immer wieder wechselt er den Standpunkt und die Perspektive, den Stil und das Genre, lässt das Romanpersonal sich gegenseitig beleuchten, streut Briefe und E-Mails, Zeitungsartikel, ja sogar Gedichte in den Erzählfluss ein. Relativierung und Perspektivierung ist - anders als die Ironie für den modernen Politiker - für den Romancier kein Mittel der Vernebelung, sondern der Schlüssel zur Wahrheit, und die kann in der Literatur nur bedeuten: Reichtum, Vielschichtigkeit, Vieldeutigkeit.

    Jonathan Coes "Klassentreffen" ist solch ein ungeheuer reicher, vielschichtiger und vieldeutiger Roman. Er wartet unentwegt mit neuen Figuren, neuen Motiven, neuen Aspekten auf, verliert sie aus den Augen, holt sie, wenn wir sie schon vergessen haben, wieder herbei und präsentiert sie in neuem Licht. Dass unter dem Reichtum die Geschlossenheit leidet, ist kein wirklicher Einwand. Daniel Kehlmann, der Autor des Erfolgsromans "Die Vermessung der Welt", hat kürzlich in einem Aufsatz zwei Romantypen unterschieden - den locker gefügten, an Einfällen überquellenden, quasi weitmaschig gestrickten Typus, wie ihn etwa Rabelais oder Henry Fielding schrieben, und den konsequent auf vollkommene funktionale Integration aller Elemente gearbeitete Typus à la "Madame Bovary". Puristen lassen heute nur den zweiten Typus gelten; die Hedonisten und Epikuräer unter den Lesern aber lieben den ersten, lustvolleren Typ, zu dem Coes "Klassentreffen" zweifellos gehört. Er treibt, bildlich gesprochen, nicht wie ein starres Floss über das Meer der Ereignisse, sondern schmiegt sich den Wellen anmutig an wie ein Netz, das hier und da immer neue Gipfel und Täler nachformt. Und in das Netz gehen die prächtigsten Fische.

    Wer wird etwa Anstoß daran nehmen, dass kurz vor Schluss mit dem Anglo-Pakistani Munir eine Figur auftaucht, von der wir bis dahin nichts ahnten? Wenn dieser Munir, durchaus ein aufgeklärter Mann, vorübergehend Mitbewohner des orientierungslosen Benjamin, mit diesem zusammen die TV-Serie "Sex and the City" anschaut und in spielerischer Verzweiflung den "Clash of Civilizations" verkörpert:

    "'Schalt das aus', sagte er. 'Diese Serie ist eine Schande.'
    'Ach, komm schon', sagte Benjamin. 'Das ist doch nur eine eskapistische Komödie.'
    'Nein, ich finde das unglaublich', beharrte Munir. 'Diese Frauen sitzen in einem Restaurant und unterhalten sich vor anderen Menschen darüber, wie sie ihre Männer oral befriedigen, als ginge es um Strickmuster oder Kochrezepte. Wie sollen diese Frauen Achtung vor sich selbst und ihrem Körper empfinden? Was ist mit einer Gesellschaft los, in der so etwas gesendet werden darf?' Er ging zum Fernseher und zeigte auf den Bildschirm, auf dem eine der Protagonistinnen soeben ihre Technik anhand des Halses einer Weinflasche demonstrierte. 'Das ist das heutige Amerika. Ein Land mit völlig degenerierten Menschen. Ist es da ein Wunder, wenn der Rest der Welt nur noch Verachtung dafür übrig hat? Es ist ein Land, dessen Taten nicht seinen Worten entsprechen - und diese Heuchelei findet vor aller Augen statt. Es ist ein Land, das Religion und Moral predigt, dessen Frauen sich aber wie Huren benehmen. Es spuckt der muslimischen Welt ins Gesicht und verheert in seinem Hunger nach dem Öl, das es für seine benzinfressenden Autos braucht, den Mittleren Osten und wundert sich dann auch noch, dass es einen Menschen wie Osama bin Laden mitsamt seinen Ansichten und Glaubenssätzen gibt. Und mit einem solchen Land - mit einer solchen Nation sollen wir laut unserem Premierminister den Schulterschluss üben. Mit einer Nation von Cowboys und Callgirls!'"

    Dass tiefer Ernst in Komik umschlägt, wenn man die Sache von innen und zugleich quasi von der Seite betrachtet, ist wahrlich keine neue Erkenntnis; aber Jonathan Coe gewinnt ihr immer neue Wirkungen ab. Der vielleicht größte Knalleffekt des Romans - genau genommen: beider Romane - hat mit diesem Kippverfahren zu tun. Konkret: mit Benjamin Trotters Bekehrung zum Glauben und einer Badehose.

    Die Geschichte kann, wenn man sie nacherzählt, nur verlieren, aber trotzdem sei es versucht: Als Dreizehnjähriger, also noch im ersten Roman "Erste Riten", hatte Benjamin einmal seine Badehose vergessen und fürchtete, zur Strafe am Schwimmunterricht nackt teilnehmen zu müssen. Nichts Schlimmeres denkbar für einen Dreizehnjährigen, der sich seines Körpers schämt! In seiner Angst bittet Benjamin Gott um Hilfe und gelobt, dafür an ihn zu glauben. Wirklich entdeckt er in einem leeren Spind eine Badehose, ist gerettet und fortan gläubig. Er heiratet seine Schulkameradin Emily, eine vor allem auf dem gemeinsamen Glauben gegründete Lebensgemeinschaft. Im zweiten Roman "Klassentreffen" entdeckt er nun per Zufall und nach 30 Jahren, wie die Badehose in den Spind kam. Ein älterer homosexueller Dichter hatte sie vor seiner Schullesung dort hingelegt, um sich eines kompromittierenden Stücks zu entledigen. Benjamin findet die Beschreibung des Vorgangs in den Memoiren des Dichters. Und ist erschüttert.

    "Die Bitterkeit, die er beim Gedanken an seine Leichtgläubigkeit empfand, überwältigte Benjamin so sehr, dass er den Kopf schüttelte. 'Der Odem Gottes! Der Odem Gottes, so habe ich es genannt. Irgendein abgewrackter, enttäuschter alter Mann, der sich nach seinem letzten Debakel ein Beutestück grapscht und es so schnell wie möglich wieder wegwirft. Der Odem Gottes... Was für ein Reinfall. Ein echter Witz.'"

    Es ist ein Witz, ein grandioser Witz. Aber Benjamin findet es überhaupt nicht lustig. Sein Leben, seine Ehe, seine Existenz seien auf diesem Glauben gegründet, und jetzt ist diese Gewissheit dahin:

    "'Ich habe geglaubt, es wäre ein Wunder', sagte Benjamin. 'Aber es gibt keine Wunder. Nur alle möglichen Zufallsketten, die einander auf sinnlose Art kreuzen. Alles nur Chaos', fuhr er fort, 'Chaos und Zufall. Das ist alles.'"

    Benjamins Erschütterung ist selbst schon wieder komisch, ebenso wie die Konsequenzen, die er daraus zieht: Er trennt sich von seiner Frau, gibt sich eine Weile der Verzweiflung und dem Alkohol hin, bis er sich in einem französischen Kloster wieder etwas stabilisieren kann. Letztlich ist auch diese abrupte Lebenswende ein weiterer Beleg dafür, dass es nicht auf die Ereignisse ankommt, sondern auf den Sinn, den wir ihm geben: So wie Benjamin das Auftauchen der Badehose als göttlichen Eingriff deuten wollte, so entschließt er sich jetzt für die entgegengesetzte, nihilistische Interpretation. Genauso logisch wäre es ja gewesen, das Auftauchen des alten Dichterlüstlings als besonders raffinierten Einfall eines freundlichen Helfergottes zu begreifen.

    Was uns Jonathan Coe damit sagen will: Wir sind zwar nicht Herren unseres Schicksals, aber doch seines Interpretation. Und das ist ja auch schon etwas.

    Allerdings erweist sich das Leben doch immer als der stärkere Ironiker - indem es etwa zu dem unschlagbaren Mittel greift, uns genau das zu geben, was wir uns immer gewünscht haben. Emily bekommt den Kirchenvorstand, Claire erfährt endlich die Wahrheit über den Tod ihrer Schwester, und Benjamin findet seinen Jugendschwarm Cicely wieder, nach dem er sich jahrzehntelang verzehrt hat - durchaus auf Kosten seiner realen Ehe, denn auch die Wege der Gutmenschen sind von Leichen gesäumt. Die doppelte Ironie dabei: Cicely ist eine mittlerweile an Multipler Sklerose erkrankt, unleidlich und unerträglich; sie sitzt im Rollstuhl, kommandiert Benjamin herum - und er ist glücklich. Vergessen das Ringen um sein literarisch-musikalisches Opus Magnum, das man sich als Übergipfelung von "Ulysses", "Zettels Traum", Wagner und Stockhausen vorstellen muss und natürlich über eine gigantische Materialsammlung nicht hinauskommt. Vergessen auch die moralisch-religiöse Privatmythologie, die sich um eine Badehose rankte.

    Des Lebensrätsels Lösung - der Masochismus? Aber Benjamin ist ja nur eine Figur in diesem Spiel, das den Namen trägt "Von den Träumen der Jugend zum Realismus des reifen Alters". Am Schluss dreht der Autor das Rad des Lebens noch mal weiter und lässt uns in die Zukunft blicken. Philip Chase und Lois Trotter, die Schwester Benjamins und Pauls, treffen sich zufällig in Berlin. Sie haben ihre Kinder Patrick und Sophie dabei, und diese finden sichtlich Gefallen aneinander.

    "Beide wollten in diesem Moment nichts anderes vom Leben als die Möglichkeit, die Fehler ihrer Eltern zu wiederholen, und das in einer Welt, die noch nicht genau wusste, ob sie ihnen diesen Luxus gönnen sollte oder nicht."

    Wenn sie sich entschieden hat, dann muss Jonathan Coe es uns in seinem nächsten Roman erzählen. Unbedingt.