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Dienst fern der Heimat

Das Recht, in Russland den Dienst an der Waffe zu verweigern, ist schon in der Verfassung von 1993 verbrieft. Doch die Verabschiedung des Zivildienstgesetzes war eine schwierige Geburt: erst vor knapp zwei Jahren trat es in Kraft. Seitdem können nun auch russische junge Männer den Dienst an der Waffe verweigern. Doch nur wenige machen bislang von dieser Möglichkeit Gebrauch. Christoph Kersting berichtet aus St. Petersburg.

    Neun Uhr morgens in einem Altenheim am Stadtrand von St. Petersburg. Dienstbeginn für Stanislav Gasarja. Etwa 20 Heimbewohner warten an diesem Morgen darauf, gewaschen, gefüttert oder richtig gelagert zu werden. Doch Stas, wie ihn alle im Heim nennen, ist kein ausgebildeter Pfleger. Der 21-Jährige macht seinen Zivildienst in dem Altenpflegeheim.

    "Ich bin Zeuge Jehovas, und darum stellt sich mir nicht die Frage: Armee oder Zivildienst. Ich habe mich sofort für den Zivi entschieden, weil ich wegen meiner inneren Überzeugung einfach nicht in der Armee dienen kann. Ich will nicht kämpfen und mit einer Waffe rumlaufen und lernen Leute umzubringen, deshalb mache ich das hier."

    Stanislaw und seine beiden Zivi-Kollegen sind echte Pioniere. Denn erst seit Januar 2004 gibt es in Russland die gesetzliche Möglichkeit, den Dienst an der Waffe zu verweigern. Bislang entscheiden sich jedoch nur wenige Wehrpflichtige für den Alternativen Zivildienst, der in Russland kurz AGS genannt wird. In der Fünf-Millionen-Metropole St. Petersburg etwa sind Stas und seine Freunde bislang die einzigen so genannten Alternavschiki.

    Laut der russischen Agentur für Arbeit und Beschäftigung gibt es in ganz Russland nur rund 500 Zivildienstleistende, ein Großteil davon arbeitet in sozialen Einrichtungen, aber auch in Fabriken und beim Straßenbau kommen die Wehrdienstverweigerer zum Einsatz. Vor allem die Länge des Dienstes schreckt viele ab: Dreieinhalb Jahre dauert der russische AGS, deutlich länger also als der zweijährige Armeedienst. Jens Siegert vom Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung nennt weitere mögliche Gründe für die niedrigen Zahlen:

    "Das Zweite ist, dass der Dienst Heimat fern abgeleistet werden soll, also nicht in der Region, aus der der Zivildienstleistende stammt. Und das Dritte ist, dass ohne den Zivildienstleistenden zu fragen er in militärischen Einrichtungen, zwar zu nicht militärischer Tätigkeit, also zum Beispiel als Sanitäter, oder als Mechaniker, ohne Waffe, aber schon durchaus in Militäreinrichtungen Dienst tun soll. Und das Vierte ist, dass eine Gewissensprüfung stattfindet, bevor ein Antragsteller anerkannt wird. Es ist recht analog dessen, was in Deutschland bis Mitte der 80er Jahre der Fall war."

    Auch Stas und seine Zivi-Kollegen wurden nicht gefragt, ob sie so weit weg von zuhause ihren Dienst tun wollen. Die Heimatstadt der drei, Maikop, liegt immerhin 2000 Kilometer entfernt im Süden Russlands. Vor allem in sozialen Einrichtungen arbeiten die Alternativschiki für einen Hungerlohn, gerade mal 120 Euro zahlt die Stadt Petersburg ihren drei Zivis. Natürlich sind die Umstände, unter denen die jungen Russen ihren Dienst verrichten, nicht gerade einfach, findet auch Stanislav.

    "Dafür geht es hier nicht ganz so streng zu wie beim Militär. Wir können uns hier ziemlich frei bewegen, wenn man zum Beispiel in die Stadt gehen will oder Freunde treffen. So eine Freiheit gibt es in der Armee ganz einfach nicht."

    Denn der Armeedienst ist gefürchtet und berüchtigt für seine Schikanen und die Brutalität der Vorgesetzten. Jedes Jahr sterben nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen mehrere Hundert Rekruten unter ungeklärten Umständen. Wer das nötige Geld aufbringen kann, besticht deshalb Ärzte, um an ein gefälschtes Attest zu kommen – in Russland schon seit Jahren gängige Praxis. Umso verwunderlicher, dass der Zivildienst nicht mehr Anklang findet – zumal soziale Einrichtungen wie das Petersburger Altenheim großen Bedarf an zusätzlichen Pflegekräften hätten, wie der Arzt Juri Bogradovski erklärt:

    "Als es darum ging: Brauchen wir die Zivis oder nicht, haben wir nicht nein gesagt. Da geht es ja um Pflegedienst, also um schlecht bezahlte, bei uns nicht sonderlich angesehene Arbeit. Und da hatten wir auch Engpässe, da haben wir die drei natürlich gerne genommen. Und unser Direktor sagt, vielleicht kommen sogar noch zwei oder drei. Das hilft uns auf jeden Fall. Die ersten drei Wochen haben wir sie angelernt, wie man füttert, die alten Leute im Bett lagert. Und die drei haben das immer gut mit gemacht, das sind gute Jungs."

    Menschenrechtsorganisationen wie die Koalition für einen Alternativen Zivildienst drängen auf eine Änderung des repressiven Zivildienst-Gesetzes. Ein Lichtblick: 2008 will die Staatsduma den Armee-Dienst um die Hälfte auf ein Jahr verkürzen. Damit würde automatisch auch der Zivildienst deutlich kürzer: statt dreieinhalb Jahre 21 Monate. Außerdem soll der Dienst dann auch in der Heimatregion möglich sein. Ohne solch grundlegende Änderungen wird der Alternative Zivildienst in Russland wohl auch in Zukunft keine echte Alternative sein.