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"Dies ist ein freies Land"

Die Einheimischen nennen es "den Käfig". Grund: Elektrischer Maschendraht umschließt "North West Point" - ein Flüchtlingslager auf der Weihnachtsinsel vor Australien. Zwar ist es da, gewollt wird es aber von fast keinem.

Von Andreas Stummer |
    Am Bootssteg in der Flying Fish Cove, einer flachen, halbmondförmigen Bucht auf der Nordseite der Weihnachtsinsel. Eingerahmt von zwei dicht bewachse-nen, steil abfallenden Klippen ist der kleine Hafen mit Pier, Rampe und Lade-kran die einzige Anlegestelle auf dem felsigen Eiland.

    Tauchlehrer Mark Kathrein ist wütend. Eigentlich wollte er mit einer Handvoll Touristen zum Schnorcheln auf's Riff hinaus. Er hatte gerade Tauchanzüge und -masken verteilt und der Gruppe erklärt, wo sie vor der Insel die größten Korallenbänke mit den exotischsten Fischen finden. Doch dann tönte das Alarmsignal: "Flüchtlingsboot in Sicht, Hafen gesperrt". Mark sitzt – wieder einmal – auf dem Trockenen.

    Ein Offizier der Navy hat Mark verboten nach draußen zu fahren, die türkisfarbene See vor dem Eiland ist wieder einmal Sperrgebiet. Ein Patrouillenboot der australischen Marine lotst einen kaum seetüchtigen Fischkutter mit 80 Flüchtlingen an Bord Richtung Weihnachtsinsel. Schon den dritten diese Woche.

    "Dies ist ein freies Land – ich verstehe nicht, warum wir nicht ablegen dürfen. Die Asylbewerber beißen nicht. Auf dem Festland würde das nicht passieren. Stellen sie sich vor, jemand würde Melbourne einfach absperren – die Leute würden durchdrehen."

    Dichter Regenwald mit seltenen Vogelarten, eine atemberaubende Unterwasserwelt und die berühmten roten Krabben, die einmal im Jahr quer über die Insel wandern: Die Weihnachtsinsel war 130 Quadratkilometer unberührtes Naturparadies, eine "Fluchtlaube" für Aussteiger – bis, 2008, das Internierungslager für Bootsflüchtlinge gebaut wurde. Gegen den Willen der Einheimischen. Seitdem, klagt Fischer Matt Roachford, sei die Insel nunmehr die Deponie für Australiens Asylproblem.

    "Anfangs lebt man damit, aber es ist kein Ende in Sicht. Wir haben es satt, dass Canberra über unseren Kopf hinweg entscheidet. Asylbewerber sollten auf dem Festland untergebracht werden. Die Regierung hat wegen der Flüchtlinge viel um die Ohren, aber man sollte nicht vergessen: Wir leben hier auf der Weihnachtsinsel."

    400 Millionen Euro hat das hochmoderne North West Point-Internierungslager neben einer alten Phosphatmine gekostet. Die Einheimischen nennen es "den Käfig", denn alles im Camp ist hinter Maschen- oder elektrischem Draht. Die Unterkünfte, der Sportplatz, die Kantine, die Überwachungskameras – sogar jede Lampe. Geplant für 2500 Flüchtlinge, sitzen – nach einem Umbau - heute dort mehr als 3000. Cafébesitzer Don O'Donnell nennt die Flüchtlinge "mensch-liches Strandgut". Angeschwemmt aus Afghanistan, Irak, Iran und Sri Lanka.

    "Jeder auf der Insel hat seine eigene Meinung. Wir haben Mitgefühl mit den Flüchtlingen. Aber sie versuchen nicht durch die Vorder- sondern durch die Hintertür nach Australien zu kommen. Mit Hilfe von Menschenschleppern – und das muss aufhören."

    Revolte im Auffanglager. Die Ungewissheit, das monatelange Warten auf einen Asylbescheid, Frust und Verzweiflung der Flüchtlinge entladen sich immer öfter in sinnloser Gewalt. Barracken brennen, Zäune werden niedergetrampelt. Erst Tränengas und Gummigeschosse der Polizei beenden den Protest. Ein paar Flüchtlinge sind in den Urwald hinter dem Lager geflohen. Sozialarbeiterin Charlene Thompson fürchtet, dass die Weihnachtsinsel bald nicht mehr sicher ist. Nicht für die Einheimischen und nicht für die Flüchtlinge.

    "Ein Internierungslager ist genau dasselbe wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Wer länger als drei Monate dort festsitzt fühlt sich wie ein Verbrecher hinter Gittern. Und darunter leiden nicht nur die körperliche und geistige Verfassung der Lagerinsassen, sondern auch ihr seelisches Wohlbefinden."

    Auf der Weihnachtsinsel leben heute dreimal mehr Flüchtlinge als Einhei-mische. Dazu hunderte Gastarbeiter, Aufseher, Bürokraten und Übersetzer, die das Internierungslager verwalten. Die Kläranlage und der Inselarzt sind überfordert, Viele Touristen bleiben weg. Strom ist knapp und die Kosten für Benzin und Lebensmittel steigen und steigen.

    "Das Leben auf der Insel wird immer schwieriger. Kaum jemand kann mehr das Dach über seinem Kopf bezahlen. Die Regierung muss neuen Wohnraum finanzieren. Denn wir möchten nicht, dass unsere eigenen Leute hier auf der Weihnachtsinsel auf der Straße sitzen, nur weil sie sich ihre Miete nicht mehr leisten können."

    Taxifahrer Gordon Haye ist einer von vielen Einheimischen, die sich fragen, warum sie sich kein Haus für ihre Familie mehr leisten können, die Flüchtlinge im Internierungslager aber freie Unterkunft, Verpflegung und Kleidung bekämen. Unten am Hafen hat jemand ein Schild aus Pappkarton aufgestellt. Darauf steht in roten Großbuchstaben: "Auf der Weihnachtsinsel ist kein Platz mehr – vor allem nicht für Australier."