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Dies ist kein Liebeslied

Er legt das moderne Liebesleben nicht auf die Couch, sondern verwandelt es in ein surreales Setting mit grellen Farben: Mit seinem Debütroman "Das Vogelzimmer" sorgte der 28-jährige Chris Killen in England für Furore. Gefeiert wird vor allem sein Mut, einmal eine andere Liebesgeschichte zu erzählen. Diese Woche ist die deutsch Übersetzung seines Romans erschienen.

Von Annette Brüggemann | 30.04.2009
    Vögel haben es Chris Killen angetan, vor allem schräge Vögel. Sie flattern nicht nur durch seinen Debütroman "Das Vogelzimmer", auch Chris Killens Website zieren fünf knallig bunte Artgenossen, hinter denen sich Kurzbeschreibungen seiner Romanfiguren verbergen. Nur ein Vogel ist nicht bunt, sondern grau und verlinkt mit Infos zu ihm selbst, darunter seine MySpace-Seite, sowie sein inzwischen preisgekrönter Blog.

    Chris Killen gehört zu den modernen Autoren mit Selfmanagement; und er hat ein modernes Buch geschrieben: ein Buch so surreal wie ein David-Lynch-Film, eine tiefschwarze Komödie über die Tücken der Liebe, wenn Selbstzweifel zum Selbstläufer werden und realer Sex, als wäre er ein Relikt aus der Steinzeit, unmöglich wird.

    Man könnte meinen: ein profanes Thema in einer Gesellschaft, die von jungen, kritischen Stimmen längst als "oversexed und underfucked" diagnostiziert wurde, weil marktorientierte Bilder für Sexiness in den letzten Jahren in den Vordergrund gerückt sind; und weil uns diese Bilder suggerieren: Du kannst alles haben, sofort, du musst es nur wollen. Und wenn dich dein Gegenüber nicht mehr anmacht - probier's mit was Neuem!

    Diese verführerische Matrix hat in der jungen Generation Verunsicherung und Orientierungslosigkeit produziert. Kurzum: Bilder sind schön anzusehen, aber nun mal nicht greifbar. Sie können ziemlich einsam machen.

    Doch das ist es nicht, was Chris Killen in erster Linie interessiert. Er leuchtet tief hinein in die Psyche seines Protagonisten Will: ein Langzeit-Single mit Beziehungsschaden. Die Hoffnung zu lieben und geliebt zu werden, hat er längst an den Nagel gehängt. Und wie könnte es anders sein: Genau dann landet ein zahmes Vöglein in seinem Schoss.

    Ich saß im Klub an einem Tisch und schaffte es nicht einmal, das Etikett von meiner Flasche Alcopop zu pulen. Ich tanzte nicht. Ich wusste nicht, warum ich in den Klub gegangen war. Und dann tauchte ein Mädchen auf. Sie sei versetzt worden, sagte sie. Klingt nach einer Lüge, ich weiß. Vermutlich war es eine. Sie log. Sie kam zu mir, fragte mich, ob ich allein sei, und setzte sich. (Ja, vielleicht log sie. Doch in dem Moment klang es ziemlich überzeugend, vor allem, weil wir beide hackevoll waren.) Und ich kam zwangsläufig zu folgendem Ergebnis: Sie hat beschlossen, mich zu mögen, und deshalb muss ich jetzt beschließen, sie auch zu mögen. Also saß ich da, blinzelte sie an und bemühte mich, sie zu mögen. Das war nicht schwierig. Sie ist sehr hübsch. Sie hat schwarzes Haar (knapp schulterlang), schwarze Augen und milchweiße Haut. Sie hat schiefe Zähne und die schmalen Finger einer Pianistin. Sie zieht sich gut an. Sie hat Selbstvertrauen. Sie ist klug.

    Alice heißt sie wie "Alice im Wunderland", die hinter den Spiegeln lebt. Dorthin zu gelangen, zurück zur Unschuld, das wäre das Geheimrezept der Liebesgöttin Venus, nicht nur für Will. Doch die Tür zum Paradies ist verriegelt. "Zu schön, um wahr zu sein", lautet der verfängliche, unausgesprochene Satz des Romans, der sämtliche, perfide Selbstzerstörungsmechanismen ins Rollen bringt - während der Autor zwischen den Zeilen ein ironisches Lächeln ausbreitet und seine Figuren am Haken baumeln lässt.
    Will hat einen Freund, der so heißt wie er: Will, der Konzeptkünstler. Er ist sein Antipode in allem, was dazu gehört. Während Will sich arbeits- und mittellos durchs Leben schlägt und sich vor lauter Komplexen beinah in Luft auflöst, ist Will, der Künstler, ein kreativer Egomane, der aus seinem Lotterleben Kohle macht. Er hat die Vögel ins Spiel gebracht: Zaunkönige, Rotkehlchen und Wellensittiche auf Bildern verewigt. Zu jedem Gemälde gehören Kopfhörer, durch die man den Soundtrack eines Hardcore-Pornos in Endlosschleife hören kann. Auch das unterscheidet Will und Will: während der eine ein hoffnungsloser Romantiker ist, liebt der andere Frauenkörper in inszenierter Porno-Totale. Zur Faszination von Alice, die bei einem gemeinsamen Essen ihren allzu lieben Will - ohne es zu merken - in die Verzweiflung stürzt; während der Künstlerstar am Tisch zur Höchstform aufläuft.

    Ich werde ein Mädchen dafür bezahlen, eine Beziehung mit mir zu führen, und dann mache ich Schluss mit ihr und dokumentiere die Sache in einer Ausstellung. Ich werde alles aufzeichnen, auf Video und Tonband. Bis ins letzte Detail. Für Besucher der Galerie dürfte die Sache echt ungemütlich werden, und sie werden sich fragen, wie viel sie sich von dem Zeug anschauen dürfen. Und dann...

    Der Kellner unterbricht ihn mit der Frage, ob alle zufrieden seien. Er nennt Will Seniore. Er nennt Alice Signiorina. "Magnifico", antwortet Will. "Einfach magnifico." Ich verkünde, auf Toilette zu müssen. In der Toilette schließe ich mich in einer Kabine ein und hole mein Handy heraus. Ich tippe eine Nachricht: Nichts ist los. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Ich verspreche, dass ich alles tun werde, um wieder ins Lot zu kommen. Tut mir leid. Ich lösche die Nachricht und beginne von vorn: Wenn du Will so super findest, warum gehst du dann heute Abend nicht mit zu ihm? Es ist aus. Ist doch alles lächerlich. Und noch einmal von vorn: Wenn du dies im Restaurant liest und mich noch liebst, dann stups mich 3 x mit dem Fuß an.

    Ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Also ziehe ich ab und sehe zu, wie das Wasser in die leere Kloschüssel schießt und strudelt. Als ich zurückkomme, reden sie gerade über vegetarische Ernährung.


    Der panisch liebende Will hat die Filmspule "Eifersucht" eingelegt und kann sie nicht mehr stoppen. Mit ihm gerät der Roman aus allen Fugen. Die Chronologie ist aufgehoben. Die Figuren bluffen um die Wette. Und auch Chris Killen - traue niemandem in diesem Roman - führt uns an der Nase herum. Wer eigentlich wer ist - das bleibt die große Quizfrage.

    Da Will von Alice weiß, dass sie einmal beim Sex gefilmt worden ist, verwandelt er sich vom zärtlichen Liebhaber in einen zombiehaften Pornojunkie, der tagein tagaus das Netz nach ihrem Homevideo durchforstet; bis sie es eines Tages erfährt und ihn zur Rede stellt - auf der anderen Seite nur hilfloses Schweigen.

    Und dann gibt es da noch Helen, die eigentlich Clair heißt und als Schauspielerin arbeitet. Vielmehr räkelt sie sich nackt vor laufenden Kameras. Und das macht sie auch für Künstler-Will. Für ihn lässt sie sich ihre blonden Haare schwarz färben, sieht plötzlich genauso aus wie Alice und verdient mehr Geld, als je erträumt. Und so verwandelt sich die Pornodarstellerin Helen oder Clair oder Alice - wer weiß das am Ende des Romans schon so genau - zum Joker im Spiel der Liebe. Vor ihr liegt eine unbestimmte Zukunft und der schöne Reigen beginnt von vorn.

    Sie holt ihr Handy heraus, schaut darauf und hat keine Lust, jemanden anzurufen. Sie steckt es wieder ein. Zu Fuß würde sie ungefähr eine halbe Stunde bis zum Haus ihrer Mum brauchen. Zu Fuß würde sie ungefähr sechs Tage bis zum Bauernhof mit den Schafen brauchen. Irgendetwas kribbelt in ihrem Magen: Ein Gefühl, dass das Glück zum Greifen nah ist, dass sie endlich einmal Glück haben wird. Die Luft riecht nach Lagerfeuer, das gelöscht wurde, und man hört, wie eine Katze von einem Zaun fällt. Die Dinge stehen leuchtend und sichtbar am Himmel. Sie tritt auf die Straße, schlägt, ohne zu zögern, eine bestimmte Richtung ein und läuft los.

    Ist sie es, die eines Nachts Will in einer Diskothek in den Schoss flattert? Und ist der vermeintlich liebe Will nicht auch ein bisschen der verruchte Künstler-Will und umgekehrt? Chris Killen streift alle Tasten auf der Klaviatur seines Romans - mit japanischer Präzision und britischem Humor. Mit seinem Roman "Das Vogelzimmer" ist ihm ein übermütiges und messerscharfes Debüt gelungen. Es legt unser modernes Liebesleben nicht auf die Couch, sondern verwandelt es in ein surreales Setting mit grellen Farben: in ein Vogelzimmer, in dem eine Vielzahl von Identitäten hausen, als wären sie die "Monster Family" aus der gleichnamigen amerikanischen TV-Serie. Und als würden sie sich - frei von Illusionen und mit einem hämischen Grinsen - tief in die Augen blicken: "Na, Darling, liebst du mich?"

    Chris Killen: Das Vogelzimmer
    Aus dem Englischen von Henning Ahrens
    Kiepenheuer & Witsch Verlag, 176 Seiten, 7,95 Euro