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"Diese Haltung hinter der Bildung hat mich interessiert"

In der Bildung gelte heute die Devise: Lernen Sie viele Sprachen, aber haben Sie nichts zu sagen, meint Erwin Wagenhofer. In seinem neuen Dokumentarfilm "Alphabet" kritisiert er das Bildungssystem. Menschen könnten darin ihr Potenzial kaum noch entfalten.

Mit Hartwig Tegeler |
    Hartwig Tegeler: Erwin Wagenhofer, zwei Personen sind direkt hängen geblieben beim Schauen Ihres Films. Das ist einmal der chinesische Junge, hochbegabt, dessen Augen wie tot waren. Und viel später im Film, der damalige Personalvorstand der Telekom, der von einer umfassenden Depression in vielen großen Unternehmen redet, die er kennt. Und ich habe mich gefragt: Wie hängt das zusammen?

    Erwin Wagenhofer: Hmmh! Gute Frage. Das jetzige sogenannte Bildungssystem, das wir haben, dient ja vor allem einem Zweck, einem einzigen, und zwar der Ausbildung. Die Chinesen sind aus dem Grund, a) in dem Film und b) in aller Munde, weil sie wirtschaftlich sehr erfolgreich sind, und in dieser wirtschaftlich industriell geteilten Welt gehen sie auch die Bildung an. Also, mit demselben Zugang praktisch, den sie zur Wirtschaft haben. Und wenn man jetzt den Zusammenhang versucht herzustellen zwischen einem elfjährigen Chinesen in Wuan, glaube ich, war das, und einem Toppersonalmanager, der bei vier großen deutschen Brands gearbeitet hat, dann ist es ein simpler, nämlich der, dass eben der chinesische Junge irgendwann vor einem Personalchef - wenn auch nur symbolisch - stehen wird und sagt, das und das habe ich gelernt. Und jetzt würde ich gerne in Ihren Konzern eintreten.

    Tegeler: Mit dem gleichen Gesichtsausdruck noch?

    Wagenhofer: Das ist die Frage, ob dann diese Form des Wissens überhaupt noch gebraucht wird. Das ist ja - glaube ich - einer der Sündenfälle des Bildungssystems, dass wir, die die Menschen jetzt ausbilden, glauben, ihnen ein Wissen mitgeben zu müssen, dass sie dann in 20, 30 Jahren vielleicht noch brauchen werden. Also, jeder von uns, wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere, was ich alles gelernt habe, was ich nie mehr außerhalb der Schule gebraucht habe. Kein einziges Mal mehr.

    Tegeler: Sie haben einen chinesischen Bildungsexperten da, von der Universität von Bejing, und der sagt, was wir hier machen, ist der Wahnsinn, um es mal sehr verkürzt zu sagen.

    Wagenhofer: Ja, logisch. Das ist das extremste Konkurrenzdenken in der Schule dort eingekehrt. Was immer man von Konkurrenz hält, aber jemanden zu übertrumpfen, das ist ja jemand zu besiegen auch, das ist der Sinn der Konkurrenz, bedarf ja ganz anderer Fähigkeiten als erkennen. Als Lernen. Das werden ja völlig andere Dinge in unserem Gehirn, in unserem Körper angesprochen. Und wenn wir jetzt dieses Konkurrenzdenken einführen in die Schule, und spätestens mit dem Notensystem machen wir das, dann stacheln wir ja bei den Leuten ganz etwas Anderes. Da werden ja ganz anderen Zentren aktiviert, als wenn wir jetzt gemeinsam was lernen wollen, uns austauschen wollen. Und das Ergebnis dessen sind dann all die Verwerfungen, die teilweise auch schon die anderen Filme aufgezeigt haben. Das hängt ja zusammen.

    Ich habe eben Schüsselerlebnisse gehabt, wo ganz speziell im Finanzsektor bestausgebildetste Menschen hinter dieser Krise stecken. Das sind ja alles Akademiker und Doktoren, die in Frankfurt arbeiten oder City of London. Und das Perfide an dem ist, dass sie viele Leute noch nicht durchblicken. Als Pisa kam, war ja ein Riesenaufruhr in Deutschland, in Österreich und in anderen europäischen Ländern. Was ist jetzt? Unsere Kinder sind so schlecht. Und so weiter und so fort. Und es hat lange gebraucht, bis wir überhaupt erfahren haben und mitbekommen haben, was Pisa da ist. Das ist ein Ranking-System, das ist eine Testindustrie, da steckt ein Riesenwirtschaftsmodell dahinter. Und alle waren in diesem Aufruhr und meinten, da muss was geschehen, da muss Geld her, die Kinder muss man Nachhilfe in Lesen, oder wo sie schwach sind und so weiter und so fort. Aber, was wir uns überhaupt nicht fragen, und das sollte doch eigentlich hinter der Bildung stehen, und diese Haltung hinter der Bildung hat mich interessiert. Ich bin ja kein Bildungsexperte. Sondern die Haltung dahinter. Was wollen wir denn überhaupt.

    Tegeler: Nachdem man "Alphabet", ihren neuen Film gesehen hat, Erwin Wagenhofer: Ist es so, Bildung verhindert sozusagen die Entfaltung des kreativen Potenzials. Ist das in aller Verkürzung der erste Aspekt von Diagnose unseres Bildungssystems?

    Wagenhofer: Ganz wenige dürfen ihr Potenzial schon entfalten. Aber die wenigsten eben. Und wenn wir jetzt Herausforderungen haben, die auf uns zukommen - ich will das Wort Probleme ganz bewusst vermeiden -, dann werden wir die als Individualisten nicht mehr lösen können. Jetzt kommend die Firmen schon darauf, wenn die Zusammenarbeit in einem Team nicht funktioniert, dann gibt es ein Problem. Aber das System macht aus uns Individualisten. Indem es separiert, indem es bewertet. Das Bewerten heißt, Sie sind gut, ich bin schlecht; Sie sind vielleicht kurz aufgewertet, aber ich bin frustriert. Wenn das über Jahre geht, werde ich irgendwann so frustriert, dass ich sage, aus mir wird sowieso nichts mehr. Obwohl in mir genau Talente stecken, die vielleicht gerade in dem Moment nicht abgeprüft wurden, oder gerade nicht gefragt sind.

    Also, die Bildung, also im Ideal, humboldtsche Bildung oder universitäre Bildung, das gibt es ja heute kaum mehr. Da ging es ja wirklich darum, deswegen heißt es ja "Bildung", sich ein Bild von der Welt machen zu können. Was ist jetzt, und okay, ich schau mir das an, und dann erfahre ich das, und dann die Sprachen, damit ich das Original lesen kann und so. Das ist ja heute überhaupt nicht gefragt. Heute ist angesagt: Lernen Sie viele Sprachen, aber haben Sie nichts zu sagen. Das ist übrigens alles nicht von mir. Das können Sie bei Hunderten, bei Tausenden von Reformpädagoginnen und Reformpädagogen nachlesen. Es geht darum, wenn Sie eine Nachrichtensendung anschauen, oder eine Tageszeitung aufblättern, blättern Sie über die ersten Seiten und wird fast ausschließlich immer von Problemen gesprochen. Und all diese Probleme, die hier besprochen werden, und auch die Zeitungen und auch die Nachrichtensendungen werden von Menschen gemacht, die eigentlich dieses Bildungssystem durchlaufen haben, sprich, es ist ein selbst gemachtes Ding.

    Das sind Fehlentwicklungen, die durch Fehlhaltungen, die hinter der Bildung entstanden sind. Es geht mir um die Haltung hinter der Bildung. Bildung ist was Tolles, das hat uns weit gebracht, Aufklärung, das wissen wir alles. Aber wir haben teilweise eben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Und es geht eben nicht darum, dass alle Kinder über den gleichen Kamm geschert werden, nur das gilt, sondern es gibt Vielfalt und nicht Einfalt.

    Tegeler: Erwin Wagenhofer, in den drei Filmen Ihrer Trilogie sind Sie dem formalen Prinzip treu geblieben, dass Sie Menschen vor die Kamera setzen und sie sagen lassen, was sie über das Thema denken, eine Art von Statement von sich geben. Warum haben Sie jetzt auch im dritten Teil der Trilogie wieder das formale Prinzip gewählt?

    Wagenhofer: Ich spür und weiß um die Verwerfungen in diesen drei Bereichen. In Wirklichkeit sind es gar keine Dokumentarfilme, es sind Filmessays, es sind Skizzen, ich skizziere hier eine Aktion, hier eine Person und hier einen Ablauf und versuche so ein Gesamtbild. Dass am Ende ein Gesamtbild übrig bleibt. Und bei diesen drei Filmen, die hätten fiktional nie diese Wirkung entfalten können. Nicht nur wegen dieser leeren Augen, von denen Sie sprachen, sondern ... eventuell bringt man das mit einem Schauspieler, mit einem sehr guten Schauspieler bringt man schon einen leeren Gesichtsausdruck auch hin, ja, aber die Leute würden dann das Kino verlassen und würden sagen, na ja, war ja Gott sei Dank ja nur ein Film, ja.

    Das sind so Dinge, rein vom Filmemacherischen, mit denen ich viel arbeite, und wo ich mir große Gedanken mache, wie kann man diese beiden - Fiktion und Nonfiktion - ineinander mehr verschmelzen, um andere Emotionen auslösen zu können. Man kann, das ist auch so eine Bildungssache, man kann Dinge kognitiv verstehen, und man kann Dinge emotional verstehen. Und wenn das zu einer Resonanz kommt, das heißt, das beides miteinander schwingt, dann ist auch das Schöpfen so leicht. Kreativität entsteht dazu.

    Tegeler: Wenn ich Sie frage, was ich in "Alphabet" lernen soll, ist das eine zu direktive Frage?

    Wagenhofer: Was ich eigentlich gern hätte als Wunsch - das habe ich mir lange überlegt -, weil ich schon in den 80ern, als die Umweltbewegung hochkam, und wo ich ein junger Mann war, gesagt habe, okay, das war immer mit meinen Freunden, wo ich viele Diskussionen hatte, wo ich gesagt habe, Freunde, die Flüsse reinigen, das ist alles möglich, das ist nicht die Schwierigkeit, und das ist in der Zwischenzeit auch passiert, aber die Köpfe reinigen von dieser geistigen Nahrung, die vielleicht nicht so gut war über all die Jahre, wo wir das alles aufgesaugt haben, die zu Mangelerscheinungen und zu Fehlhaltungen geführt hat, die hat mich interessiert.

    Was ich aber wollte von Anfang an, ich wollte, dass die Leute mit einem Mut machenden Schluss rausgehen. Oder mit dem Gefühl, es liegt an uns. Wer, wenn nicht wir. Wir können das ändern. Der Mensch ist so ein großes Ding, hat so unglaubliche Energien und Talente und Gaben, dass er das natürlich auch verändern kann. Und wenn es irgendwie gelingt oder irgendwie gelungen ist, weil der Film ist ja schon fertig, dass die eine oder der andere diesen Gedanken mit rausnimmt, auch diese Leichtigkeit, dass es eben in einer Wüste selbst blühen kann, und wir nicht immer diese Bildungswüste haben müssen, dann bin ich mehr als zufrieden.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.