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"Diese Prozesse sind Geschichtsunterricht für die Jugendlichen"

Mit den Ermittlungen gegen rund 90 ehemalige KZ-Aufseher werde an die Verbrechen erinnert, die diese Menschen begangen hätten, sagt die selbst als "Nazijägerin" bekannt gewordene Publizistin Beate Klarsfeld. Sie kämen allerdings "in letzter Minute". Die mutmaßlichen Täter würden vermutlich während des Verfahrens sterben.

Beate Klarsfeld im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | 08.04.2013
    Doris Schäfer-Noske: Die Vorermittlungen gegen mutmaßliche NS-Täter sollen ausgeweitet werden. Es werde nicht nur gegen 50 Aufseher in Auschwitz-Birkenau ermittelt, sondern auch gegen Aufseher in anderen Vernichtungslagern, sagte der Leiter der zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Kurt Schrimm, heute Morgen im Deutschlandfunk. Er gehe davon aus, dass insgesamt gegen 80 bis 90 Personen ermittelt werde. Die Ermittlungen stünden aber noch am Anfang. Den KZ-Aufsehern wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen.

    O-Ton Kurt Schrimm: "Wir gehen davon aus, dass die Angehörigen des sogenannten Wachbataillons im Wechsel eingesetzt waren, also nicht immer an der gleichen Stelle, nicht immer nur an der Rampe, nicht immer nur auf den Wachtürmen, nicht immer nur an der äußeren Postenkette, sondern dass die Tätigkeit gewechselt hat. Es hing auch davon ab, wie viele neue Häftlinge ins Lager gebracht wurden. Manchmal wurde das ganze Bataillon oder die ganze Kompanie gebraucht. Da gibt es zwischenzeitlich Erkenntnisse, die uns weiterhelfen, wenn wir also wissen, der Mann war an diesem und jenem Tag tatsächlich in Auschwitz-Birkenau. Wir wissen heute weitgehend, was an diesen Tagen geschah. Und wenn wir dann nachweisen können, er war im Dienst, dann wird es relativ kritisch für ihn."

    Schäfer-Noske: Soweit Kurt Schrimm, Leiter der zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Die Publizistin Beate Klarsfeld ist durch ihr Engagement für die Aufklärung von NS-Verbrechen bekannt geworden. Frau Klarsfeld, wie beurteilen Sie denn diesen Vorstoß, der zum Ziel hat, ehemalige KZ-Aufseher doch noch zu verurteilen?

    Beate Klarsfeld: Noch zu verurteilen, das ist hingestellt. Aber immerhin der Bevölkerung mitzuteilen, dass sie - ich meine, wenn man jetzt ihre Namen nennt, müssen sie ja noch leben. Selbst wenn sie 80 oder 90 sind und wahrscheinlich auch schon ziemlich in einem schlechten Gesundheitszustand. Aber zumindest die Nachricht ist durchgekommen an die Opfer, Ludwigsburg ist damit beschäftigt, diese Täter zu erfassen, und sie können auch eines Tages vielleicht verurteilt werden. Ob das dazu kommt, weiß ich nicht, aber zumindest man wird wissen, was sie getan haben, in welchem Lager sie waren.

    Schäfer-Noske: Aber grundsätzlich ist es ein Vorstoß, den Sie begrüßen?

    Klarsfeld: Auf jeden Fall! Das war ja auch schon so, wie das Wiesenthal-Center das gesagt hat - die hatten ja das eingeleitet: Bis zum letzten, glaube ich, Augenblick kann man die NS-Verbrecher noch verfolgen. Das ist gut! Ich meine, vor allem für die Opfer ist das natürlich sehr, sehr befriedigend, dass sie wissen, man hat die Täter nicht vergessen und die deutsche Justiz ist heute noch beschäftigt, sie vor Gericht zu stellen.

    Schäfer-Noske: Gibt es denn durch den Demjanjuk-Prozess tatsächlich eine neue Lage, die Hoffnung macht, dass die Verfolgung doch noch gelingen könnte?

    Klarsfeld: Beim Demjanjuk-Prozess hat man gesehen: Es gab keine Augenzeugen, es gab keine Dokumente, nur die Tatsache, dass er an dem und dem Zeitpunkt in Sobibor war, seine Ausweiskarte. Aber diese Prozesse sind schwer zu führen. Ich meine, wir, mein Mann und ich und unsere Gruppe, die Söhne und Töchter der deportierten Juden aus Frankreich, als wir damals uns mit dem Kölner Prozess beschäftigten, das heißt mit all den Verantwortlichen, die in Frankreich tätig waren für die Deportation von 76.000 Juden aus Frankreich, hatten wir Hunderte, Hunderte von Dokumenten. Lischka, Hagen, Heinrichsohn, die haben alle Dokumente unterzeichnet. Wir hatten Augenzeugen natürlich auch, aber die sind verurteilt worden wegen Beihilfe zum Mord aufgrund der Dokumente, die sie unterzeichnet haben. Und das ist ja nicht im Fall von diesen NS-Verbrechern, die in einem Vernichtungslager tätig waren. Die haben ja nie etwas unterschrieben.

    Schäfer-Noske: Sehen Sie denn da die Gefahr, dass sich Deutschland blamieren könnte, wenn es nicht mehr zur Verurteilung kommen sollte, weil die Beweise zum Beispiel nicht ausreichen?

    Klarsfeld: Das ist ja schon erklärt worden, dass man jetzt versucht - das war ja auch der Fall von Demjanjuk: Man verurteilte ihn eben, weil er zu dem Zeitpunkt in Sobibor war, wo Juden vergast wurden oder an die Gaskammern geführt wurden. Da natürlich er Wachmann war, ist es ganz klar: Das war sein Arbeitsfeld. Aber die Prozesse können natürlich, ich meine, werden schon eingestellt werden aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes des Täters.

    Schäfer-Noske: Wie erklären Sie sich denn, dass man nicht früher versucht hat, diese KZ-Aufseher vor Gericht zu bringen?

    Klarsfeld: Ich sagte ja: in den 60er-, 70er-Jahren, als Serge und ich und unsere Gruppe damit beschäftigt war, den Prozess gegen Lischka, Hagen und Heinrichsohn zu führen, auch gegen zwei Hauptverantwortliche, die in Belgien Juden deportiert haben - einer war Senatspräsident in Schleswig-Holstein, Kurt Asche war Kriminalkommissar in Hamburg, er war am jüdischen Referat in Belgien tätig -, das ist ein Spiegelbild von der deutschen politischen Gesellschaft. Damals wollte man diese Prozesse nicht haben. Und heute versucht man es noch in letzter Minute und leider Gottes hat man da nur noch Täter, es gibt keine Augenzeugen, es gibt keine Dokumente gegen sie. Also das ist natürlich die Gefahr. Außerdem sind sie in einem sehr, sehr schlechten Gesundheitszustand sind. Wahrscheinlich werden sie während des Verfahrens sowieso sterben. Das ist das eben. Ob sie sich blamiert, die deutsche Justiz, weiß ich nicht, aber zumindest ist es eine gute Initiative, dass man noch mal auf diese Männer zurückgreift, und dass man noch daran erinnert, welche Verbrechen sie begangen haben. Diese Prozesse sind Geschichtsunterricht für die Jugendlichen. Also werden jetzt diese NS-Verbrecher wahrscheinlich in den Zeitungen veröffentlicht werden, sein Name und wo er lebt, was er getan hat, in welchem Lager er war. Ich meine, man kann nicht viel über ihn sagen, es gibt ja keine Augenzeugen und auch keine Dokumente. Aber zumindest ist es für die Jugendlichen sehr wichtig zu sehen: Wohl ein alter Mann, aber was hat er in seiner Jugend getan, er hat dort und dort in diesem Lager die Juden ermordet oder gefoltert. Und das ist das Wichtigste. Lassen wir das mal so stehen: Das ist ein Geschichtsunterricht für die Jugendlichen.

    Schäfer-Noske: Das war die Publizistin Beate Klarsfeld zu den Vorermittlungen gegen mutmaßliche NS-Täter.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.