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"Dieser Roman hat mich auch emotional mitgenommen"

In acht Kapiteln zwischen Amsterdam, New York und Worthing erzählt Evelyn Grill die Familiengeschichte einer jüdisch-christliche Familie, die während des 2. Weltkriegs auseinandergerissen wird. Über allem schwebt das mysteriöse Antwerpener Testament.

Evelyn Grill im Gespräch mit Lerke von Saalfeld | 01.04.2011
    Lerke von Sallfeld: Evelyn Grill, der Leser ist gewohnt, von Ihnen bitterböse Satiren zu lesen, mit Personen, die nicht selten kurios und auch bizarr grundiert sind. Jetzt haben Sie in Ihrem jüngsten Roman einen ganz anderen Ton angeschlagen. Es ist ein weit verzweigter Familienroman, der zurückreicht bis in die dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts mit dem Titel "Das Antwerpener Testament". Man könnte fast sagen, klingt wie ein Krimi-Titel; es ist aber etwas ganz anderes.

    Evelyn Grill: Ja, es ist ein Familienroman, aber es ist eigentlich auch fast ein Krimi, wie es so viele Familiengeschichten in sich haben, die ja manchmal auch als Krimi zu lesen sind. Das Antwerpener Testament ist ein Damoklesschwert, das über einer Familie hängt und das eine Ehe zerstört und ich finde, es ist ein passender Titel.

    von Sallfeld: Es beginnt mit der Beerdigung 1983 der Henriette Stanley. Sie ist Belgierin, heiratet auf Vermittlung ihres Reeder-Bruders einen englischen Reeder, damit Geld zu Geld, Unternehmen zu Unternehmen kommt. Sie ist diejenige, die diese ganzen Gerüchte über das Antwerpener Testament in die Welt setzt, um ihre Tochter Ann zu unterdrücken und Sie lassen gleich bei der Beerdigung die ganze Personage auftreten.

    Evelyn Grill: Ich habe versucht, in diesem ersten Kapitel ein Tableau vorzustellen, damit der Leser neugierig wird auf diese Familie, auf die Weiterentwicklung, und ich hoffte auch, dass es spannend genug wird, um diese Rätsel, die ich andeute, in der weiteren Lektüre zu enträtseln.

    von Sallfeld: Sie lassen sich ja sehr, sehr lange Zeit, bis endlich geklärt wird, was in diesem Antwerpener Testament steht. Das wollen wir jetzt hier auch gar nicht verraten.
    Ist das für Sie der Spannungsbogen, oder ist der Spannungsbogen nicht doch ein anderer? Ich dachte eher, der Spannungsbogen wäre der, wie sich die Liebe zwischen Ann - der Tochter dieser verstorbenen Belgierin und Ulrich, der männlichen Hauptfigur - in diesem Roman entwickelt und zum Schluss auch scheitert.

    Evelyn Grill: Das ist natürlich ein ganz wesentlicher Spannungsbogen, denn es handelt sich hier um eine ursprünglich große Liebe, und es hat mich interessiert, wie eine so große Liebe in einer so unglücklichen Ehe enden kann - also einer Ehe, die praktisch beider Leben am Ende zerstört.

    Das hing natürlich auch mit dem Antwerpener Testament zusammen, denn die Mutter der Engländerin Ann hat ihre Tochter immer damit bedroht, dass sie enterbt würde und dann ganz bitterarm dastünde, wenn sie einen Deutschen heiratete. Das Ehepaar konnte sich davon nie erholen. Darüber hinaus war diese Mutter sehr bigott, sehr katholisch-fromm. Als Belgierin lebte sie in England in der Diaspora - aber die sind ja bekannterweise besonders bigott - und hatte ihr eine Keuschheitslehre vermittelt, wie sie damals auch noch gang und gäbe war. Das war mit ein Grund, dass diese Ehe nicht besonders glücklich war, weil diese beiden, als sie sich in Deutschland kennenlernten, eigentlich nicht davon sprachen, wie sie ihre Ehe gestalten wollten. Sie lebten in einer Illusion, in einer ganz hehren, altmodischen Liebe, die ich auch anhand von altmodischen Liebesbriefen dokumentiere.

    von Sallfeld: Die Tochter versucht nun, diese Mutter von außen zu sehen - und zwar ganz wörtlich: Sie betrachtet sie durch ein Fenster, als sie nach Hause kommt, und in dieser Schilderung - die ich als eine von vielen Stellen in diesem Roman ganz glänzend gelungen finde; und ich fände deswegen auch schön, wenn Sie sie lesen - wird deutlich, unter welchem Druck diese Tochter steht und welche Macht diese besitzergreifende Mutter hat.

    Evelyn Grill: "Hier saß die Frau, der sie alles verdankte. Ohne sie wäre sie nicht am Leben, ohne sie wäre sie nicht zu der geworden, die sie heute war. Sie war dankbar. Sie war bereit, ihren Dank abzustatten. Nein, die Mutter brauchte keine Angst zu haben vor der Undankbarkeit ihrer Tochter. Es war unmöglich, sie zu verlassen. Sie würde Ulrich schreiben, er müsste sie verstehen, er war so feinfühlig. Plötzlich erhob sich die Mutter, ihr Gesicht erschien Ann gramerfüllt, sogar Tränenspuren glaubte sie auf ihren Wangen zu sehen. Der Blick der Frau ging hinaus ins Dunkel, in dem Ann stand und den Atem anhielt."

    von Sallfeld: Diese Ann genauso wie ihr Geliebter und späterer Mann Ulrich stehen beide unter einem traumatischen Druck. Für Ann ist es diese Mutter, die sie nicht freigeben will. Ulrich - er ist kein Jude - leidet unter dem Nationalsozialismus, zugleich wird er als Deutscher verfemt, soll Ann zuerst nicht heiraten dürfen, weil er Deutscher ist. Und schließlich lastet noch ein anderer Druck auf ihm: Er laboriert an einer Doktorarbeit, die er nicht zu Ende bekommt oder die er nur sehr, sehr langsam fertig schreibt. Und immer soll diese Ehe aufgeschoben werden - nur wegen dieser Doktorarbeit. Erst dann ist er mannbar und kann eine Familie gründen.

    Beide sind also auf unterschiedliche Weise belastet. Und dann gibt es noch die ganze politische Situation der Verfolgung, der Flucht nach Amsterdam. Wie flieht man weiter, nachdem Amsterdam von den Deutschen besetzt wird. Sie haben mehrere Schichten von Bedrohung aufgebaut und haben sich eigentlich - das ist mein Eindruck - nicht recht entschieden oder vielleicht wirkt alles zusammen. Was hat diese Familie so auseinandergetrieben, so zerstört?

    Evelyn Grill: Das ist eigentlich ein Hauptstrang, der vielleicht ein bisschen zu kurz kommt oder nicht deutlich genug herausgearbeitet wurde, dass durch diesen Krieg diese jüdisch-christliche Familie auseinandergerissen wird. Eine Familie, die wunderbar zusammenlebte, ein schönes, geselliges und auch harmonisches Leben führte. Es war, wie wenn eine Bombe auch in diese Familie hineingefahren wäre. Der Versuch, sich nach dem Krieg wieder zusammenzufinden, missglückt, obwohl die meisten, wenn auch bei weitem nicht alle jüdischen Familienmitglieder überlebt haben und emigrieren konnten, zuerst nach Amsterdam und später nach Amerika.

    Es war in den Jahren, in denen sie sich nicht sahen und verschiedene Schicksale zu durchleiden hatten, einfach nicht mehr möglich, sich richtig zusammenzufinden und zu verstehen. Dieser Riss bleibt und ist nicht zu heilen, so dass dieser Ulrich eigentlich ein sehr einsamer Mensch geworden war.

    von Sallfeld: Sie haben eine sehr komplizierte Konstruktion für Ihren Roman gewählt. Er lebt aus vielen Rückblenden; man hat am Anfang einige Schwierigkeiten herauszufinden, um welche Person es nun eigentlich geht, wie alt ist sie in dem Moment, in dem diese Rückblende einsetzt - man muss sich vergegenwärtigen: Hier ist sie erst 14 oder 17 Jahre alt, dann wieder ist sie schon älter. Aber Sie haben dies als einen bewussten, kunstfertigen Griff gewählt, die Geschichte nicht chronologisch, sondern in solchen Vor- und Rückblenden zu erzählen. Sie sind eine versierte Romanschreiberin; warum haben Sie sich für diese Konstruktion entscheiden, Evelyn Grill?

    Evelyn Grill: Es war mir naheliegend. Ich habe natürlich lange überlegt, wie ich den Roman anlege. Da ich ein systematischer Mensch bin, dachte ich, ich mache es am besten kalendarisch; ich konzentriere mich auf das Datum und beginne mit beinahe dem Ende. Es war für mich der einzig gangbare Weg für diese Geschichte.

    von Sallfeld: Weil es vielleicht auch eine so zerborstene Geschichte ist, in der Sie nicht die Kontinuität der Zeit verfolgen wollten, sondern die Zeit auch bricht.

    Ja, ich habe mir gedacht, ich mache acht Kapitel: Amsterdam, New York, Worthing. Ich habe mir diese Kapitel aufgeschrieben. Es waren dann acht Kapitel - in diese acht Kapitel wollte ich den ganzen Stoff hineinpacken. Dann habe ich die Jahreszahlen aufgeschrieben und wie ein Puzzle sollte sich dem Leser diese Geschichte am Ende erschließen. Aber ich glaube, das kann man dem Leser heute zumuten.

    von Sallfeld: Nein ich finde, man soll den Leser durchaus herausfordern. Sie waren immer auch getrieben von schwarzem Humor. Der ist nun in dieser Geschichte überhaupt nicht vorhanden, sondern es wird sehr ernst, und es wird gegen Ende immer düsterer. Ann stirbt an Krebs, mehrere andere Figuren, die für den Charme dieser Geschichte sorgen, sterben - sie sterben einfach aus Altersgründen. Der Bruder von Ann leidet an schwerer Epilepsie mit schizophrenen Zügen; es geht immer mehr in Richtung Katastrophe.

    Evelyn Grill: Es ist eine Familiengeschichte, die mir von Bekannten erzählt wurde, in der ich vor allem diese Urmutter, die eigentlich alles verhindern will und die eine ganz schreckliche Frau war, diese Frau wollte ich eigentlich in den Mittelpunkt stellen. Und mehr oder weniger ist mir das auch geglückt. Gleichzeitig wollte ich aber auch die anderen Verkettungen erzählen.

    von Sallfeld: Aber dennoch - so ist mein Eindruck - war dieser Roman für Sie eine andere Art des Schreibens, als das, was Sie bisher vorgelegt haben.

    Evelyn Grill: Das liegt am Thema, und ich werde auch wieder zurückkehren in den vertrauten Tonfall, der mir leichter fällt und der mich auch nicht so anstrengt. Dieser Roman hat mich auch emotional mitgenommen, weil ich mich doch sehr in die Figuren hineingelebt habe und nicht so die Distanz zu den Figuren halten konnte, wie ich sie sonst in den anderen Romanen gerne halte, wo ich mich manchmal freue, wenn ich wieder mal jemanden umbringe. Aber so häufig bringe ich ja gar niemanden um - aber es kommt schon vor. Also wo man als Schreiber jemanden ganz gern umbringt und es belastet einen nicht, während mich in diesem Roman die Vorgänge doch belastet haben.

    von Sallfeld: Das heißt, Sie hatten ja eine Familiengeschichte, eine Familiengeschichte, die Sie auch gut kennen, die auch Sie persönlich tangiert und die Ihnen dann doch eine Strenge vorgegeben hat, die auch manchmal erdrückend sein konnte?

    Evelyn Grill: Wahrscheinlich, ja. Es war sehr schwierig, sehr aufreibend, diesen Roman zu schreiben.

    von Sallfeld: Nun, es ist ein besonderer Roman aus Ihrer Feder - er geht ja von Mannheim über Amsterdam, Belgien, England bis in die USA - und es ist schon eine Geschichte, die eine Geschichte dieses Jahrhunderts ist, Evelyn Grill. Verspüren Sie jetzt eine große Erleichterung?

    Evelyn Grill: Ja, ich fühle doch eine Last von mir genommen. Im Moment muss ich mich erst von dem Roman erholen. Ich glaube, ich schreibe jetzt gerade einen Krimi oder ... . es wird so etwas Ähnliches werden, ja.

    Evelyn Grill: Das Antwerpener Testament, Residenz Verlag, 316 S., 22,90 Euro