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Dieser Stein ist pure Sonne

Um den Bernstein ranken sich viele Mythen und Legenden. Die spannendste Geschichte aber liefert das Bernsteinzimmer im Katharinenschloß bei St. Petersburg. Es verschwand spurlos in den Wirren des Zweiten Weltkriegs und feierte nach jahrzehntelanger Rekonstruktion seine Auferstehung.

Von Hildburg Heider | 30.01.2011
    "Dieser Stein – das ist die pure Sonne. Alles auf der Erde lebt ja dank der Sonne. Der Bernstein enthält Sonnenenergie. Er ist ein warmer Stein, auch seine Farbe ist warm: hellgelb."

    Werkstattbesuch in der Nähe des Katharinenschlosses von Zarskoje Selo, kurz vor der Eröffnung des rekonstruierten Bernsteinzimmers im Frühsommer 2003. Alexander Dogadin gibt einer Miniatur-Nackten den letzten Schliff. Sein Kollege neben ihm verleiht einer Rokoko-Rosette den rechten Schwung.

    "Kein Material ist so kapriziös wie der Bernstein. Aber für mich ist er der einzige Stein, der so dankbar ist, für den sich die Mühe lohnt."

    Restaurator Alexander Krylow bei seinem wöchentlichen Inspektionsgang im Bernsteinzimmer von Carskoe Selo nahe St. Petersburg. Seit 30 Jahren ist er Bernsteinmeister der höchsten Kategorie Russlands.

    Krylow betastet die Paneele wie ein Arzt einen Patienten und horcht, ob sie fest sitzen. Bis zur Decke leuchten die Sonnenfarben des Steins in dem quadratischen Raum. 10 Meter mal 10 Meter, und sechs Meter hoch. Ein Rausch in Zitronengelb, Feuerrot, Ockerbraun. Dazu der in den Palästen Europas wohlbekannte Zierrat: vergoldete Simse, Spiegel, Deckenfresken ...

    "Während unserer Arbeit hofften wir, dass das Bernsteinzimmer wieder auftauchen würde. Aber stilistisch ist dieses Zimmer genau so geworden, wie es vorher war."

    Und so hat alles begonnen: im Jahr 1701 wird Friedrich I. zum König von Preußen gekrönt. Seine Herrschaft will er nach außen demonstrieren: er bestellt ein Bernstein- Kabinett, das alles bisher Gesehene in den Schatten stellen sollte. Nach zehn Jahren Bauzeit schmücken goldschimmernde Edeltapeten sein Raucherzimmer im Berliner Schloss Charlottenburg. Hier sieht es der russische Zar Peter der Große bei seinem Besuch im Jahr 1712, und er ist hingerissen. Als er wenige Jahre später nach dem Tod König Friedrichs erneut nach Berlin kommt, äußert er dem neuen König Friedrich Wihelm I. gegenüber seine Bewunderung für das Bernsteinkabinett und erhält es prompt als Geschenk.

    Nach dem Tod des Zaren beauftragt seine Tochter Elisabeth den italienischen Baumeister Francesco Rastrelli, für das Bernsteinkabinett einen Raum in ihrem Sommersitz Zárskoje Seló südlich von St. Petersburg zu schaffen.

    "Zwischen den Tafeln habe ich Spiegelpilaster mit einem Dekor aus vergoldeter Bronze angebracht"."

    Rastrelli lässt außerdem die mit Bernstein umrahmten Gemäldetafeln durch rechteckige florentinische Steinmosaiken ersetzen. Ein Missgriff, meint Bernsteinmeister Alexander Krylow:

    ""Im Barock existierten überhaupt keine geraden Linien. Und dass man in diese transparente Struktur ein Rechteck aus völlig fremdem Metall schneidet und dann mit Stein bedeckt, passt stilistisch nicht hierhin. Früher gab es hier Spiegel oder Gemälde. Das hatte sehr mit dem Bernstein und dem Interieur harmoniert."

    1760 tritt der erste Kustos des Bernsteinzimmer Friedrich Roggenbuch seinen Dienst an und bereitet die Werkstatt vor.

    Hier in diesem Paneel ist die Jahreszahl eingelegt: 1760. Das ist eines der neuen Elemente, die für das Bernsteinzimmer gefertigt wurden. Es sind keine Dokumente erhalten, wie viele Mitarbeiter die Werkstatt beschäftigte."

    Am 1. September 1941 bombardiert die deutsche Wehrmacht Zarskoje Selo. Der Katharinenpalast wird geplündert. Schließlich wird die Wandverkleidung des Bernsteinsaales nach Königsberg transportiert und im dortigen Schloß ausgestellt. Seit der Zerstörung des Schlosses 1944 ist das Bernsteinzimmer verschollen. Der Zeitgeschichtler Guido Knopp nennt in seinem Buch vom Mythos Bernsteinzimmer allein in Königsberg – jetzt Kaliningrad – über 1000 mögliche Verstecke. Dann endlich taucht 1997 im deutschen Kunsthandel eine der Tafeln mit den Steinmosaiken auf. Doch diese Tafel bleibt der bisher einzige Fund.

    Im Jahr 1979 entsteht beim Katharinenpalast eine neue Bernstein-Werkstatt. Zwei Jahre später treffen die ersten Bernsteinmeister ein, darunter auch Alexander Krylow.

    "Anfangs hatten wir Probleme: es gab keine Werkstatt, keine Methodik, keine Kostenschätzung, kein Geld und keine Handwerksmeister. Gleichzeitig wurde nach alten Fotographien unser Projekt entworfen. Zum Glück war vor dem Krieg eine gute Fotodokumentation hergestellt worden. Die Negative waren evakuiert worden, und mit ihrer Hilfe ließ sich ein genaues Projekt entwerfen."

    Als sich die Russen mit dem endgültigen Verlust des Originals abgefunden haben, entschließen sie sich zur Rekonstruktion. Dazu müssen die alten Techniken erforscht und erprobt werden. Ingenieur Vladimir Domratschew:

    "Wir haben nicht die gleichen Gedanken wie die Leute vor 200 Jahren. Selbst wenn wir das alte Bernsteinzimmer zur Verfügung hätten, würden wir es nicht genau rekonstruieren können. Wir haben hier ein Werk geschaffen "zum Thema Bernsteinzimmer."

    Für die 80 Mitarbeiter der Petersburger Bernsteinwerkstatt gibt es immer noch genug zu tun, denn die reichen Russen von heute protzen daheim gern mit Ikonen, Schatullen und Repliken des Bernsteinzimmers. Direktor Boris Igdalov leitet heute die Werkstatt in eigener Verantwortung, ohne staatliche Unterstützung.

    "Die Kunst, die wir in unserer Werkstatt wiederbelebten, ist in Deutschland völlig vergessen. Das kann man deutlich sagen und sehen. Das alte Ostpreußen, das diese Kunst pflegte, gibt es nicht mehr. Was heute in Deutschland, Russland und anderswo hergestellt wird, hat alles nur das Niveau von Souvenir und Damenschmuck. Niemand sonst kann das, was wir hier machen."

    In der Ecke des Bernsteinzimmers steht auf einer Konsole eine Pariser Rokoko-Uhr in Gestalt eines Baumes, darunter eine Schäferszene: an den Kavalier mit der Taube in der Hand lehnt sich seine Herzensdame. In der Baumkrone hängt wie eine Sonne das Zifferblatt.