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"Dieser Unfreudigeste aller Menschen"

Nach Martin Luther gilt Johannes Calvin als der bedeutendste Reformator des christlichen Glaubens. Allerdings ist er weit umstrittener als Luther: Über Leichen sei Calvin gegangen um des rechten Glaubens Willen, heißt es bisweilen. Das Deutsche Historische Museum Berlin bemüht sich nun um eine Präzisierung des Bildes - in der Ausstellung "Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa".

Von Christian Forberg |
    Sie fallen sofort in dem schmalen, faltigen Gesicht auf: Die fast übergroßen Augen, die entrückt auf einen fernen Punkt gerichtet scheinen, als suchten sie nach einem Weg. Man sieht dem Antlitz Calvins die Mühen an, die hinter ihm liegen, und ahnt die Mühen, die noch kommen werden. Calvin war Mitte 40, als das Porträt entstand, und fast ein Jahrzehnt von seinem Tod entfernt.

    "Es ist tatsächlich das gängige Bild, dass man von Calvin hat, wobei man ja immer dazu sagen muss: Man weiß nie genau, wie er ausgesehen hat. Aber es gibt so viele Bildnisse aus der Zeit, dass man sich eine ungefähre Vorstellung davon machen kann, wie er von der Physiognomie tatsächlich ausgesehen haben mag."

    Sabine Witt ist eine der beiden Kuratoren, die die Ausstellung "Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa" im Deutschen Historischen Museum Berlin gestalten.

    "Und ich denke, Sie treffen es tatsächlich, das Bild Calvins: Wenn man sich überlegt, wie dieser Mensch gearbeitet hat, dass er quasi kaum noch zum Essen, zum Schlafen gekommen ist, sondern das er tagein, tagaus an der Publikation seiner Schriften gesessen hat, an den Predigten, an der Vorbereitung seiner Vorlesungen. Also, wir kennen heute Calvin als Schriftsteller, aber er war ja weit mehr als das."

    Und Ansgar Reiß, der andere Kurator der Calvin-Ausstellung, ergänzt:

    "Karl Barth hat in seiner Vorlesung zu Calvin von 1922 das Bild Calvins bezeichnet als 'Bild der reformatorischen Sorge'. Das, glaube ich, ist eine nicht schlechte Charakteristik."

    Dieses Altersporträt hängt in einem Berliner Museum, aber nicht in der Ausstellung; da das Berliner Bildnis eine Kopie ist, haben sich die Kuratoren um das Rotterdamer Original bemüht - und bekommen. Diese Mühe mag zugleich Sinnbild sein für die gesamte Ausstellung: Es geht nicht um die Darstellung überkommener Bilder von Calvin und Calvinismus, erst recht nicht um jenes, das der Schriftsteller Stefan Zweig schilderte:

    Calvins Gesicht ist wie ein Karst, wie eine jener einsamen, abseitigen Felslandschaften, deren stummer Verschlossenheit nur Gott, aber nichts Menschliches gegenwärtig ist. Alles, was das Leben sonst fruchtbar, füllig, freudig, blühend, warm und sinnlich macht, fehlt diesem gütelosen, diesem trostlosen, diesem alterslosen Asketenantlitz. Alles ist hart und hässlich. Welch ein lichtloses, freudloses, welch ein einsames und abweisendes Gesicht, das Antlitz Calvins!

    Unfassbar, dass jemand wünschte, das Bild dieses unerbittlichen Forderers und Mahners an der Wand seines Zimmers zu haben: Der Atem würde einem kälter vom Munde fließen, fühlte man ständig den wachsam spähenden Blick dieses unfreudigsten aller Menschen über seinem täglichen Tun. Denn dieser Respektraum menschlicher Unnahbarkeit hat ein Leben lang um Calvin gefrostet.


    Zweig schrieb das in "Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Gewalt", schrieb es 1936 im Exil. Sebastian Castellio war Zeitgenosse Calvins, eine Zeit lang auch dessen Mitstreiter. Aber die Rigorosität, mit der Calvin den Glauben lebte und einforderte, entsetzte ihn mehr und mehr; erst recht, als Unbeugsame wie Michael Servetus gefoltert und verbrannt wurden, und Calvin nichts dagegen unternahm, sondern den Tod rechtfertigte. Castellio legte - aus theologischen und finanziellen Gründen - sein Amt als Schulleiter nieder, zog von Genf nach Basel und war fortan Gegner von Calvins Kirchenpolitik.

    Es wäre besser, hundert, ja tausend Ketzer am Leben zu lasen, als einen einzigen rechtschaffenen Mann zu Tode zu bringen unter dem Vorwand der Ketzerei. Einen Menschen töten heißt niemals, ein Lehre verteidigen, sondern: einen Menschen töten.

    Gleich wenn Zweig diese Auseinandersetzung als Projektion auf den deutschen Faschismus und seinen Führer nutzte - es blieb der Vorwurf an Calvin, es mit seiner strengen Auffassung vom rechten Glauben zu weit getrieben zu haben: Was er zwar brillant in seinen Büchern geschrieben und von der Kanzel gepredigt habe, sei Zündstoff für andersdenkende Gläubige geworden. Wenn er diese nicht von seiner Position bekehren konnte, sei es ihm egal gewesen, wenn sie dann zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurden. Es gipfelte in dem Vorwurf, Calvin habe in Genf einen Gottesstaat errichten wollen, ein "zweites Jerusalem", wie es Sabine Witt nennt.

    "...eine Bezeichnung, gegen die sich Calvin gewandt hat. Wir stellen einen Brief aus, den Calvin an die Londoner Flüchtlingsgemeinde geschrieben hat, in dem er sich zum einen ganz dezidiert verwahrt, aus Genf eben ein zweites Jerusalem zu machen. Zum anderen verwahrt er sich auch dagegen, seine eigene Person zu einem Idol aufzuspielen oder in den Vordergrund zu rücken. Das war ihm sehr zuwider. Also er war doch ein - muss man sagen - sehr bescheidener Mensch in seinem persönlichen Wesen. Das zeigt sich auch vielleicht daran, dass es schwierig ist, ihm als Person wirklich nahe zu kommen. Anders als Luther beispielsweise, von dem man ja doch sehr viel mehr persönliche Dinge hat. Bei Calvin sieht das anders aus."

    So hatte er sich auch vehement gegen den Begriff des "Calvinismus" gewandt, der erstmals 1552 in der Schrift eines Lutheraners auftauchte. Das fasste er als Beleidigung auf:

    Sie finden uns anzuhängen keine größere Schmähung, als dies Wort "Calvinismus". Doch ist's nicht schwer zu vermuten, woher solch tödlicher Hass kommt, wie sie ihn gegen mich haben,

    schrieb Calvin 1563, also ein Jahr vor seinem Tode.

    Die beiden Kuratoren des Deutschen Historischen Museums lassen die streckenweise unerträgliche Spannung zwischen den Religionen jener Zeit nicht außer acht, stellen sie jedoch nicht in den Brennpunkt des Geschehens. Den bildet der Calvinismus als späterer Teil der Reformation, die weit früher als mit dem legendären Thesenanschlag Luthers einsetzte. Und so wird der Besucher der Ausstellung nicht mit dem Altersbildnis von Johannes Calvin begrüßt - oder mit einem Jugendporträt des Jean Cauvin, wie er bei Geburt 1509 hieß.

    "Der Besucher sieht als erstes einen Kelch, einen hussitischen Kelch. Sie sehen, wir gehen noch ein Stück zurück mit der Ausstellung bis ins 15. Jahrhundert und geben einen kurzen Einblick in die frühen Reformationsbewegungen in Europa. Und erst dann wird sein Blick auf den alten Calvin treffen - das Rotterdamer Bildnis - und erst, wenn er den Raum weiter durchschreitet, wird er auch den jüngeren Calvin aus der Straßburger Zeit um 1540 entdecken können."

    Die meisten Bemühungen um eine Reformation von Kirche und Religion setzten an dem Prinzip "ad fontes", "Zurück zu den Wurzeln", zum wahren, unverbauten Glauben an. Jede Bewegung setzte aber andere Prämissen, sodass eine immense Konkurrenzsituation entstand, die mit den im Mittelalter üblichen, brachialen Mitteln ausgefochten wurde: Wer sich dem einen nicht anschließen und weichen wolle, der bekam die Konsequenzen am Leibe zu spüren.

    Theologisch betraf die Reformation sowohl die Bibel, die von den verfälschenden Glossen der Kirchenoberen gereinigt wurde, als auch das Prozedere, wie der Gläubige zu Gott findet. Aus den vielen Antworten stechen jene, die mit dem Begriff Calvinismus verbunden sind, durch besondere Ernsthaftigkeit und Strenge heraus - Beispiel: das Abendmahl. Für Ende 1539 vermerkt ein Bericht aus Genf:

    Man hat von Fremden berichtet, die nicht leben wollen nach der Ordnung der Stadt noch das Abendmahl empfangen wollen, wie es im Kleinen, im Großen und im Generalrat beschlossen worden ist, sondern Zwietracht zwischen etlichen hervorrufen. Ist also beschlossen, dass alle Fremden, die nicht leben wollen nach Ordnung, Satzungen und Edikten der Stadt und am vergangenen Weihnachtstag nicht, wie das gemeine Volk der Stadt, das Abendmahl empfangen haben, die Stadt räumen müssen und sich anderswo Platz suchen müssen, wo sie leben mögen nach ihrer Art.

    "Ein zentraler Begriff in der reformierten Gemeinde ist die Abendmahlsgemeinschaft, also diejenigen, die am Abendmahl teilnehmen. Und das wird tatsächlich an Voraussetzungen geknüpft. Das lässt sich an Kirchenbüchern, wie wir sie auch in der Ausstellung haben - etwa aus Neu-Isenburg - zeigen. Da gibt es von dem damaligen Pfarrer dort aufgeschriebene Fälle, die sehr ausführlich beschrieben sind - dass einer der Kirchenältesten mit dem Pfarrer zusammen, bevor das Abendmahl gefeiert wird, durch den Ort geht, besucht die verschiedenen Familien, befragt sie, ob Friede herrscht oder ob offener Streit da ist, ob die Verhältnisse geordnet sind und so weiter. Und erst wenn die das feststellen, dann bekommen die gewissermaßen auch das Recht, am Abendmahl teilzunehmen. Wenn nicht, werden Initiativen ergriffen, um in diesen Familien oder bei diesen Personen diesen Frieden wieder herzustellen. Also die Abendmahlsgemeinschaft ist eine Friedensgemeinschaft. Es soll Streit ausgeräumt werden, und der muss ausgeräumt werden, bevor jemand am Abendmahl teilnimmt. Man kann das natürlich negativ als einen ganz großen Zwang ansehen, weil es natürlich eine Uniformierung bedeutet. Man kann es auch positiv sehen, weil es den Zusammenhalt der Gemeinde fördert."

    Ansgar Reiß hebt letzteres hervor: Der innere Zusammenhalt war dringend nötig, weil es sich bei diesen Reformierten um Emigranten handelte, die oft ohne jene Fürsorge auskommen mussten, die der Majorität der Bevölkerung zukam - was an die Lebensweise jüdischer Gemeinden erinnert. Das führte auch zu Geschichten, wie jener von einem Pfarrer aus dem mecklenburgischen Bützow, geschehen vor zweieinhalb Jahrhunderten. Was in der Ausstellung präsentiert wird, gibt Ansgar Reiß als Bericht einer Kollektenreise wieder:

    "Das ist auch etwas sehr Typisches für die Reformierten: Wer Geld sammeln wollte für den Neubau seiner Kirche, macht sich auf in die Niederlande und nach England zu den wohlhabenden Reformierten in Europa, die er - wenn ich es richtig im Kopf habe - von seiner Studienzeit hat er Verbindungen dorthin. Er sammelt dort, trifft auf einen Kaufmann und traut sich nicht, in dessen Hof reinzugehen, weil dort ein wilder Streit entbrannt ist zwischen dem Kaufmann und einem Knecht. Dem Knecht wird vorgeworfen, er habe einen Kienspan, den man zweimal verwenden kann, nur einmal verwendet - und ihn dann einfach weggeworfen. Der Knecht wird beinahe entlassen ob dieses Vorfalls. Und dann fasst er sich aber ein Herz und geht trotzdem in diesen Hof hinein, in diesen Kaufmannshof, und bittet unterwürfig, ob er nicht eine Spende hätte für den Kirchenneubau in seiner Gemeinde in Bützow. Der zeichnet ihm die hohe Summe von 40 Gulden in sein Spendenbuch. Der Pfarrer blickt verwundert in dieses Buch und fragt verwundert zurück, ob denn das stimme - es sei ja so viel! Und der Kaufmann beantwortet das dadurch, indem er an diese 40 noch eine zweite Null anhängt, eine 400 daraus macht. Er sei wohl erschreckt gewesen über sein Verhalten vorhin gegenüber seinem Knecht, aber er müsse wissen: Man müsse im Kleinen sparsam sein, um im Großen dann der guten Sache nützen zu können."

    Neben den bekannten, großen Gemeinden Nordeuropas werden dem Besucher der Berliner Ausstellung auch andere Regionen vorgestellt, in denen sich Calvinisten niederließen. Sabine Witt nennt Ungarn und Siebenbürgern.

    "Es beginnt im 16. Jahrhundert - das lässt sich auch anhand von Dokumenten und Schriften nachvollziehen; auch der Genfer Psalter wurde ins Ungarische übersetzt beispielsweise."

    "Speziell zu Ungarn könnte man noch ergänzen, dass hier der Calvinismus an Stärke und Profil gewonnen hat in der Opposition gegen die Kaiser, also gegen die habsburgischen Kaiser. Es führte in Ungarn dazu, dass die Tradition dieses Calvinismus eigentlich relativ präsent geblieben ist, bis heute präsent geblieben ist - und als ein Stück nationaler Geschichte gilt."

    Religion und Macht - auch das wird in der Ausstellung thematisiert. Dass Calvin nach Straßburg und Genf ausweichen musste, um dort zu studieren und zu schreiben, zu predigen und die Kirchgemeinde neu zu organisieren, war den politischen Umständen geschuldet. Frankreichs König hatte mit dem Papst ein Abkommen geschlossen: Der räumte dem Monarchen das Recht ein, Kirchenobere selbst zu berufen, wenn Frankreich katholisch bliebe. Andere Fürsten nutzten ebenso das Aufkommen des neuen Glaubens, um Machtansprüche zu stellen, sagt Ansgar Reiss:

    "Wobei ein sehr markanter Unterschied zwischen dem Luthertum und den Reformierten besteht. Luther hat ja im Kurfürsten von Sachsen einen Patron gefunden, wenn man das so sagen will, der diese neue Konfession auch benutzt hat, um seine ständische Eigenständigkeit innerhalb des Heiligen Römischen Reiches zu betonen. Der Calvinismus hat sich in dieser Form nie sozusagen eingenistet in einer bestimmten Region oder so, sondern er bleibt eine Konfession, die ein Land mit anderen Konfessionen teilt. Es gelingt auch calvinistischen Fürsten fast nirgends, es als die Religion, als Staatsreligion des Landes zu etablieren."

    Und wenn es gelingt, dann nur zeitweise - in den Niederlanden für längere Zeit, in der Kurpfalz für weit kürzere.

    "Anders ist die Situation wieder in Brandenburg-Preußen: Hier haben wir die Situation, dass ein sehr konservativ-lutherisches Land, dass in einem solchen Land der Kurfürst 1613 zum Calvinismus übertritt aus einer komplexen Motivlage heraus, wo starke persönliche und politische Motive eine Rolle spielen. Auch hier ist es so, dass das Land lutherisch blieb - er kann sich gegen seine Landstände nicht durchsetzen. Es entwickelt sich ein calvinistischer Hof in einem lutherischen Land. Die Hohenzollern versuchen sehr stark, den Calvinismus zu fördern: Viele hohe Beamtenstellen, Ministerstellen, hohe Militärstellen werden durch Calvinisten besetzt. So entwickelt sich dort der Calvinismus zur Religion einer Elite."

    Dieses Elitäre sollte als innere Logik begriffen werden: Wer vom Glauben her ein vorbildliches Leben führen muss, um Überleben zu können, wird sich in seinem gesamten Leben anstrengen und den Erfolg dieses Lebens auch präsentieren wollen. Dass aber die Calvinisten damit dem Kapitalismus zum Durchbruch verholfen hätten, wie es Max Weber und andere im frühen 20. Jahrhundert postulierten, halten viele Wissenschaftler inzwischen für zu einseitig und nicht mehr haltbar.

    Ebenso sei die Sicht auf die vehemente Abgrenzung der calvinistisch Reformierten von den anderen Religionszweigen überholt: Die Zeit der Reformation müsse allumfassend als eine Zeit starker und individuell ausgeprägter Frömmigkeit begriffen werden, sagt Ansgar Reiß:

    "Das vollzieht sich überkonfessionell. Es vollzieht sich auch im Katholizismus, vielleicht zeitverzögert oder regional verschoben, aber das gibt es in ähnlicher Form dann genauso. Also diese ganzen Tendenzen, wenn man von Disziplinierung spricht, von Verinnerlichung bestimmter Normen - das ist ein zivilisatorischer Prozess, der nicht an eine einzelne Konfession gebunden ist. Der aber in diesem Streit der Konfessionen sich verstärkt hat, weil jede Konfession sich profilieren musste und vorbildlicher sein musste als die andere, also: Die Konfessionalisierung als solche spielt da sicher eine ganz große Rolle für diese Veränderung der Zivilisation."