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Digitale Bibliothek (Hrsg.): CD-ROM &dquot;Wahl 2002 - Parteisatzungen, Parteiprogramme, Wahlstatistiken. 90 Parteien in ihren Dokumenten&dquot;

In ihrer Reihe "Digitale Bibliothek" hat die Berliner Directmedia Publishing GmbH in den letzten Jahren zahlreiche besonders umfangreiche Wälzer vornehmlich aus dem lexikalischen Bereich wiederveröffentlicht, die in ihrer Papierfassung ganze Bücherregale blockieren würden. Als Sonderveröffentlichung ist nun eine CD-ROM hinzugekommen, die unter dem Titel "Wahl 2002" die Programme von 90 deutschen Parteien beinhaltet - nebst diverser Zugaben wie etwa den wichtigsten Wahlgesetzen und Wahlstatistiken aus früheren Jahren. Mittels einer ausgeklügelten Suchfunktion bietet die CD-ROM jedem Computerbesitzer zudem die Möglichkeit, die einzelnen Parteiprogramme mittels Schlagwortsuche direkt miteinander zu vergleichen.

Jürgen Meier |
    Statt zwei Zentner Papier zu schleppen, reicht eine Scheibe von 20 Gramm völlig aus, um ein politisch gebildeter Wähler zu werden. Denn wer wissen möchte; was die 90 Parteien, die in den Regionen der deutschen Lande zur nächsten Bundestagswahl anzutreten beabsichtigen, so alles in ihre Parteiprogramme schreiben, kann dies jetzt innerhalb kürzester Zeit erledigen. Die "Digitale Bibliothek" hat insgesamt 10.000 Seiten Parteientexte auf einer CD-ROM gebündelt. Machen wir gleich den Test und klicken los. Nehmen wir zunächst einen ziemlich allgemeinen, dennoch wichtigen Begriff für die Qualität unseres Lebens, die Menschlichkeit. Dieser Begriff taucht auf allen Seiten nur zwölfmal auf. In dieser Zahl ist die "Menschlichkeit für Tiere", die von der Partei Creative Alternative Tierhaltung Stuttgart (CATS) gefordert wird, genauso enthalten wie der gewichtige Satz der FDP: "Liberalismus will Menschlichkeit durch Vielfalt". Bei CDU, SPD, PDS, Grünen taucht Menschlichkeit gar nicht erst auf, weshalb an der These der KPD, die in ihren Texten behauptet, "je größer der inflationistische Gebrauch der Begriffe Freiheit und Menschlichkeit ist, desto unfreier, desto unmenschlicher ist das System", etwas nicht stimmen kann. Denn ein inflationärer Gebrauch des Wörtchens Menschlichkeit liegt nun wirklich nicht vor. Dürfen wir daraus schließen, dass das gesellschaftliche "System" eine hohe Potenz an Menschlichkeit aufweist?

    Klicken wir weiter mit "Menschheit". Außer bei der FDP und PDS finden wir diesen Begriff, der ja immerhin uns alle auf der ganzen Welt meint, bei den meisten Parteien. "Bündnis 90/Die Grünen" steigen am tiefsten in die Definition ein. "Die Menschheit kultiviert die Natur und nutzt die Erde. Gleichzeitig sind wir Teil der Natur und bleiben trotz aller Wissenschaft und Technik von ihr abhängig. (...) Die Menschheit sieht sich in weltweiter Verantwortung und in Solidarität füreinander - und handelt auch so." Die Menschheit wird als verantwortliches Subjekt beschrieben, anders bei der CDU. Sie schreibt der Menschheit zwar auch eine aktive Rolle zu, aber nicht als Subjekt, sondern als Bewahrer eines göttlichen Schöpfungsaktes. "Die Bewahrung der Schöpfung ist zur vorrangigen Aufgabe der Menschheit geworden." Ein völlig passives, dafür aber finsteres Bild, das einer Wagneroper entstammen könnte, zeichnet dagegen die SPD: "Die Menschheit kann nur noch gemeinsam überleben oder gemeinsam untergehen." Ähnlich düster definieren die Republikaner: "Die weltweite Umweltzerstörung hat inzwischen ein Ausmaß erreicht, das das Überleben der Menschheit gefährden kann." An Finsternis übertroffen wird dieser Geist Nietzsches nur noch von der Bayern Partei, sie warnt: "Der Tod ganzer Tier- und Pflanzengattungen signalisiert den Tod der Menschheit." Dass die FDP mit dem Begriff der Menschheit nichts anfangen kann, wundert ja nicht sonderlich, denn sie hechelt ja sehr eigennützig einer 18-Prozent-Marke nach. Doch dass die PDS, die sich sozialistisch nennt, was ja vom Begriff her etwas mit Gemeinwohl aller Menschen zu tun hat, nicht auf die Idee gekommen ist, sich diesem Begriff zu widmen, ist schon erstaunlich. Vielleicht ist sie doch nur eine Ostpartei? Mal sehen!

    Klicken wir doch mal auf Demokratie. Da serviert uns die CD natürlich eine Unmenge von Textstellen. Jedes Grüppchen weiß etwas zu diesem Begriff zu sagen. Wie definiert die PDS Demokratie? "Sie erstrebt eine grundlegende Ausdehnung und qualitative Weiterentwicklung der Demokratie auf allen Ebenen menschlichen Zusammenlebens und setzt sich für neue Formen demokratischer Selbstorganisation ein, insbesondere für direkte Demokratie und aktive Teilnahme der Menschen an den politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Planungs- und Entscheidungsprozessen." Das liest sich wie ein klares Ja zur Ausdehnung der repräsentativen Demokratie, deren Ergänzung durch die direkte oder unmittelbare Demokratie gefordert wird. Die Forderung nach der direkten oder der unmittelbaren Demokratie finden wir auch im Programm von "Bündnis 90/Die Grünen". Auf Klick lesen wir hier: "Wir befürworten die Gewaltenteilung im demokratischen Rechtsstaat einschließlich des Monopols polizeilicher Macht in der Hand des Staates, fordern aber eine Stärkung ihrer demokratischen Legitimation durch mehr Partizipation, mehr Kontrolle und mehr direkte Demokratie." Die SPD plädiert für eine Demokratieerweiterung light: In "gesetzlich festzulegenden Grenzen sollen Volksbegehren und Volksentscheid in Gemeinden, Ländern und Bund parlamentarische Entscheidung ergänzen."

    Aber auch die Partei der Nichtwähler, der SAD (Soziale und Demokratische Arbeitssuchende Deutschlands) und die rechtslastige DVU fordern direkte Demokratie. Alle anderen Parteien schwören allein auf den Geist der repräsentativen Demokratie ("Die CSU lehnt Plebiszite auf Bundesebene ab"), der, nach Auffassung der CDU, nur durch etwas Patriotismus gepaart werden müsste, um gemeinwohlfähig zu werden: "Demokratisches Nationalbewusstsein fördert die Bereitschaft, Pflichten und Verantwortung für das Gemeinwesen wahrzunehmen." Für die CDU ist die repräsentative Demokratie die Fortsetzung des Marktgeschehens nur mit anderen Mitteln: "Der freiheitlichen Demokratie entspricht der Markt als Organisationsform der Wirtschaft. Wettbewerb fordert den Leistungswillen des Einzelnen und dient damit zugleich dem Wohl des Ganzen." Dem widersprechen die Grünen ganz energisch: "Markt und Wettbewerb führen zudem nicht von selbst zu ökologisch, sozial und gesamtwirtschaftlich wünschenswerten Ergebnissen." Während die einen den Markt steuern wollen, damit er nicht nur dem Eigennutz, sondern auch dem Gemeinwohl dient, sträuben sich die anderen gegen jegliche Eingriffe in die "Organisationsform der Wirtschaft". So die CSU: "Demokratie und Marktwirtschaft gegen Diktaturen, Einparteienherrschaft und Sozialismus ist das Ergebnis unserer grundsatztreuen Politik im Rahmen des westlichen Bündnisses." Oder die Deutsche Soziale Union: "Unserem Bekenntnis zur Demokratie als Organisationsform des Staates entspricht unser Bekenntnis zum Markt als freie Organisationsform der Wirtschaft."

    Nach geraumer Klickzeit erkennen wir unschwer, welche Partei sich unseren Vorstellungen nähern könnte und welche sich von uns entfernt hat. Zum Schluss klicken wir noch auf einen Begriff, den wir normalerweise in keinem Parteientext erwarten würden, klingen diese Texte doch meistens so sachlich, steif und lieblos. Wir klicken auf Liebe und bekommen tatsächlich eine Menge Antworten. Die CSU schwört auf "die Liebe zur bayrischen Heimat und ihren Menschen", die Christliche Mitte "bejaht die Liebe zur Geschichte des eigenen Volkes". Die Partei Neue Demokratie klagt, "unsere Gesellschaft krankt an zu wenig Liebe", und die Partei Bibeltreuer Christen fordert "mehr Liebe und Verständnis unter Eheleuten". Die SPD stellt dagegen nur kühl fest: "In ihren Lebensgemeinschaften suchen Menschen Liebe", was die Gemüter des Wählerbundes Deutschland erhitzen lässt, denn dessen politische Arbeit "ruht auf der Liebe zur Heimat". Liebe taucht in den Dokumenten der FDP und PDS überhaupt nicht auf. Das scheint konsequent, denn wer sich nicht mit der Menschheit beschäftigt, muss sich auch mit der Liebe wenig abmühen.

    Nach Liebe fällt dem Klickenden Sexualität ein. Also folgt noch ein allerletzter Klick. Diesmal bekommen wir auf den 10.000 Seiten nur sieben Antworten. Keine der großen Parteien benutzt diesen Begriff. Die Christliche Mitte klagt die "Sexualität ohne Liebe" an, und die Ökologische Linke fordert: "Sexuelle Selbstbestimmung, also die alleinige Verfügung über unsere Sexualität, über sexuelle Orientierung, Schwangerschaft, Abtreibung und Geburt, ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Befreiung wie die Freiheit von direkter und struktureller Gewalt."

    Jetzt ist aber wirklich Schluss, obwohl uns die CD-ROM mit ihren farbigen Statistiken noch genau verraten könnte, wer in all den zurückliegenden Bundestags- und den letzten Landtagswahlen wie viel Stimmen gewonnen hat. Selbst die komplette Sammlung an Gesetzesaussagen fehlt nicht, die schließlich das Gerüst für freie Wahlen bilden. Vom Grundgesetz bis zum Wahlstatistikgesetz ist alles per Klick schnell zu überschauen. Es ist schon erstaunlich, wie viel gewichtige Aussagen sich auf eine zwanzig Gramm Scheibe pressen lassen. Bleibt eigentlich nur noch eine Frage, die die CD-ROM nicht beantwortet: Wen würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahlen wären?

    Die CD-ROM "Wahl 2002 - Parteisatzungen, Parteiprogramme, Wahlstatistiken. 90 Parteien in ihren Dokumenten" ist erschienen bei Directmedia Publishing Berlin, kostet 9 Euro und 90 Cent und ist über den Buchhandel zu beziehen.