Raphael Smarzoch: Viel wurde seit den Anschlägen von Halle und jetzt auch Hanau über Hass im Internet diskutiert. In den Kommentarspalten herrscht eine emotionale digitale Schlammschlacht. Das Bundeskabinett hat die Gesetze gegen Hass und Hetze im Netz diese Woche sogar noch verschäft. Die britische Philosophin Nina Power ergreift eigene Mittel: Sie hat das Projekt "Amity / Animosity" - Freundschaft-Feindschaft - ins Leben gerufen. Bei einem Kaffee trifft sie ganz bewusst Menschen, die Meinungen jenseits des politisch korrekten Mainstreams vertreten, um mit ihnen darüber ins Gespräch zu kommen. Das hat sie besonders in linken Kreisen zur Persona non grata gemacht. Powers ist allerdings davon überzeugt, dass ein gemeinschaftlicher Dialog unabdinglich und das Ausschließen von Menschen, egal welche Meinung sie vertreten, kontraproduktiv ist. Für Corso habe ich mit ihr vor der Sendung gesprochen und sie zunächst gefragt, warum es so wichtig ist, Menschen mit anderen Meinungen zu begegnen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Nina Power: Es ist wichtig, denn ich bin mir nicht sicher, ob gesellschaftliches Zusammenleben auf andere Weise möglich ist. Denn in dem Moment, in dem sich alle einig über eine Sache sind, ist keine Diskussion mehr möglich. Dabei wissen wir doch aus Erfahrung, dass Menschen immer unterschiedliche Meinungen über Dinge haben. In Großbritannien hatten wir eine Reihe von Problemen, die das Land ernsthaft gespalten haben: der Brexit, Fragen zu Sex und Geschlecht, dem Norden und Süden des Landes. Wir haben eine große Kluft zwischen Arm und Reich und eine starke Spaltung zwischen Links und Rechts. In Großbritannien ist es wirklich sehr extrem geworden - in dem Maße, dass Leute Freundschaften auflösen, mit Familienmitgliedern nicht mehr reden, dass Menschen ihre Arbeit verlieren, weil sie sich nicht einig sind. Es ist sehr merkwürdig geworden. Es gibt einen Mangel an Diskussionsbereitschaft. Die Menschen sind nicht in der Lage, Gründe dafür zu nennen, warum sie die eine oder andere politische Position unterstützen.
Freundschaft, Solidarität, Kameradschaft
Smarzoch: Und deshalb haben sie das Amity / Animosity-Projekt gestartet?
Power: Mir ist klar geworden – und das ist ein sehr häufiges Problem – dass die Nutzung des Internets dazu geführt hat, dass Menschen nicht mehr persönlich miteinander sprechen. Sie nehmen also diese sehr polarisierenden Haltungen ein, aber sie sprechen nicht von Angesicht zu Angesicht. Mich interessieren Begriffe wie Freundschaft, Solidarität, Kameradschaft sehr. Was bedeuten sie heutzutage noch eigentlich? Sie mögen zwar in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, aber sie bedeuten sicherlich nicht, dass man sich nur mit Leuten trifft, solange sie cool und beliebt sind. Sie fordern dazu auf, Menschen zu helfen, wenn sie in Schwierigkeiten sind, oder wenn ihnen etwas vorgeworfen wird oder sie eine Art Krise durchmachen. Und das hat wirklich gefehlt.
Smarzoch: Wo liegen eigentlich Ihre Grenzen? Würden Sie wirklich mit jedem sprechen?
Power: Ja, das habe ich. Ich habe mit jedem gesprochen, der mich kontaktiert hat.
Smarzoch: Würde Sie also ein Rechtsextremist kontaktieren, Sie würden nach wie vor mit ihm sprechen?
Power: Ja.
"Es kommt auf die Definition bestimmter Wörter an"
Smarzoch: Warum?
Power: Weil ich glaube, dass es ein Fehler ist, Menschen auf der Grundlage dessen, was sie zu wissen glauben, zu verurteilen. Es ist viel nützlicher, mit Menschen über ihre Beweggründe und seine eigenen zu sprechen. Wir kommen dadurch verschiedenen Positionen viel näher, die wir verstehen können. Und ich denke, es ist möglich, die Meinung eines Menschen zu verändern. Es ist nicht sinnvoll, Menschen zu ächten und zu sagen, diese Person hat Ansichten, die so unerträglich sind, dass ich nicht mit ihr sprechen kann. So etwas treibt die Menschen noch weiter auseinander. Sie fühlen sich dadurch noch mehr entfremdet und isoliert von dem, was wir sozialen Austausch nennen.
Smarzoch: Es gibt auch diese seltsame Tendenz online, jeden innerhalb kürzester Zeit einen Nazi oder Faschisten zu nennen, der konservative oder rechtsgerichtete politische Ansichten vertritt. Und ich spreche jetzt nicht einmal von rechtsradikalen Positionen. Was ist problematisch an diesem – wie Sie es sagen – gedankenlosen Gebrauch von Worten?
Power: Wenn Sie jemanden fragt, was die schlimmste Bezeichnung für jemanden anderen ist, dann wird wahrscheinlich dieses Wort sein: Nazi. In den meisten Fällen wird es also eher losgelöst vom historischen Nazitum verwendet. Wenn sich die Leute gegenseitig Faschisten nennen, dann beziehen sie sich nicht wirklich auf die Doktrin Mussolinis oder auf die korporatistische Politik Nazi-Deutschlands. Verstehen Sie, was ich meine? Es gibt eigentlich überhaupt keinen historischen Bezug. Sie sagen einfach: ‚Ich mag dich nicht.‘ Das ist extrem gefährlich, weil es das Spezifische an autoritären und mörderischen Regimen untergräbt. Es ist eine zu beiläufige Verwendung dieses Begriffs. Vielleicht befinden wir uns jetzt tatsächlich in der Postmoderne, weil es eine Art Zusammenbruch von Bedeutungen gibt - Begriffe werden sehr frei verwendet. Aber es kommt wirklich auf die Definition bestimmter Wörter an. Das Internet ermöglicht es, Wörter von ihrer eigentlichen Bedeutung loszulösen. Online sehen sich die Menschen nicht. Sie haben nicht wirklich Zugriff auf eine materielle Realität und können daher alles über sich behaupten. Das hat eine gnostische, religiöse Dimension. Menschen trennen sich völlig von ihrem Körper, auch in Bezug auf Fragen der Identität. Wir leben wirklich in einem Regime von Identitäten, in dem das, was die Menschen sagen, wichtiger ist als das, wie sie sich verhalten.
Jeden kritisieren, über jeden lachen
Smarzoch: Damit geht auch die Tendenz einher, online Grenzen zu überschreiten, indem man unverschämte und provozierende Dinge sagt. Ich muss da zum Beispiel an die Hashtag-Kampagne "Men Are Trash" denken, Männer sind Müll. Wie nützlich ist so etwas für die Etablierung eines Dialogs zwischen Männern, die gern dazulernen möchten und Frauen, die daran interessiert sind, dass Männer sich verändern?
Power: Auf der einen Seite würde ich sagen, wenn man Redefreiheit oder freie Meinungsäußerung ernst nimmt, wird sie auch Dinge beinhalten, die unangenehm, beleidigend oder beunruhigend sind. Es gibt keine Gruppe, die man nicht kritisieren oder über die man nicht lachen darf. Wenn wir anfangen zu sagen, dass man über bestimmte Gruppen nicht lachen darf, befinden wir uns auf gefährlichem Gebiet, weil wir Hierarchien und Privilegien aufbauen. "Über diese Gruppe darf gelacht werden, aber nicht über die andere…"
Auf der anderen Seite sind aber weiße Männer zu einer massiven Zielscheibe geworden. Das zeigt der Hashtag, den Sie erwähnt haben. Es gab auch noch einen anderen, der viel ernster war, nämlich "Kill All Men", "töte alle Männer". Das ist in gewisser Weise natürlich ein Witz, weil er nicht der tatsächlichen Gewalt in der realen Welt entspricht. Frauen neigen nicht sehr oft dazu, Männer zu töten - es ist vielmehr umgekehrt. Es ist schon seltsam: Man muss die Möglichkeit verteidigen, diese aggressiven und unangenehmen Statements äußern zu dürfen. Und doch braucht man Zeit, um eine vernünftige Diskussion über gute und schlechte Maskulinität zu führen. "Das Medium ist die Botschaft", sagte Marshall McLuhan. Ein Medium wie Twitter ist aber sehr schnelllebig. Es ermöglicht nicht wirklich diese Art von tiefgehender Untersuchung eines komplizierten Themas zum Beispiel darüber, wie sich Männer verhalten sollten. Was bedeutet es, ein "guter Mann" zu sein? Es gibt viele gute Männer. Wir haben also eine Art Problem mit der Zerstreuung. Diese großen Themen werden mit einer gewissen Schnelligkeit behandelt, dabei gehen sie viel tiefer.
Das Corsogespräch mit Nina Power -
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Smarzoch: Angela Nagle schreibt in ihrem Buch "Die digitale Gegenrevolution", dass dieses grenzüberschreitende Verhalten, zum Beispiel sprachliche Tabus zu überschreiten, an das Konzept der Gegenkultur geknüpft ist. Sie schreibt in ihrem Buch: "Vielleicht könnte es an der Zeit sein, die noch immer sehr jungen, sehr modernen Werte und das gesamte Paradigma der Gegenkultur zu beerdigen und etwas Neues zu schaffen." Sie sagt aber nicht, was diese Neue sein könnte. Das würde ich gerne Sie fragen. Was könnte das sein?
Power: Wir brauchen einen neuen "Sommer der Liebe", wie ich es nenne, um die Leute von ihren Computern wegzukriegen. Menschen müssen ihre Handys zur Seite legen, auf ein Feld gehen und ein bisschen tanzen. Das ist mein Vorschlag. Wenn Menschen zusammenkommen und mit Fremden sprechen und ihre Meinungsverschiedenheiten unbefangen in der Natur zum Ausdruck bringen… Okay, ich weiß das klingt sehr hippie-mäßig. Aber jetzt mal im Ernst, wie sollen wir sonst zusammenleben und miteinander reden?
Smarzoch: Das klingt tatsächlich sehr hippiesk, aber es beinhaltet auch die Möglichkeit, Diskurse zu führen. Es gibt da etwas, was ich gerne ins Spiel bringen möchte, was dieses Neue sein könnte, das eine Kultur der Grenzüberschreitung überwinden könnte. Und zwar eine Ethik des Zuhörens.
Power: Ich stimme Ihnen zu. Wir haben keine gute Kultur des Zuhörens in Gesprächen, sogar in persönlichen Gesprächen. Es gibt eine Art Kampf darum, wer als nächstes sprechen darf. Wir genießen es nicht, anderen Menschen zuzuhören. Meine Idee eines neuen Sommers der Liebe, die auch mit meinem Amity-Animosity-Projekt zusammenhängt, beinhaltet auch das kollektive Zuhören, eine Art Psychoanalyse für alle, auf einmal.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.