Freitag, 03. Mai 2024

Archiv

Digitales Estland
Eine Karte für alle Lebenslagen

Estland gilt als volldigitaler Vorzeigestaat. Und in dem regeln die Esten einen Großteil ihres Lebens mit der Bürgerkarte. Sie ist der Speicherort für alle lebenswichtigen Daten, die überall abgerufen werden können. Weil jede Abfrage registriert wird, wähnen sich die meisten sicher und denken nicht gern über Datenschutz nach.

Von Christoph Kersting | 12.11.2018
    Eine estnische Ausweiskarte steckt zwischen den Zeilen einer Computertastatur.
    Estnische Bürgerkarte speichert auch alle sensiblen Daten (imago/Arvo Meek )
    Seit einigen Jahren nun schon lebt und arbeitet Tobias Koch in Estland, und um zu verdeutlichen, was dort grundlegend anders läuft als in seiner deutschen Heimat, muss der gebürtige Berliner nur in seine Hosentasche greifen – und eine Plastikkarte herausholen, die nicht sehr viel anders aussieht als eine gewöhnliche Krankenversicherten-Karte in Deutschland. Seine estnische "Bürgerkarte" steckt Koch nun in einen Smart Card Reader, ein digitales Lesegerät, angeschlossen an seinen Laptop:
    "Okay, also ich gehe jetzt auf die Website digilugu.ee, und da kann ich mir meine digitale Krankenakte angucken. Ich wähle den Login über die ID-Card und gebe meinen ersten PIN-Code ein. Und im nächsten Augenblick bin ich dann eingeloggt in meine persönliche Krankenakte, die in dieser umfassenden Form tatsächlich nur für mich sichtbar ist."
    Personalausweis und Treue-Karte im Supermarkt
    In der Krankenakte kann Koch nun zum Beispiel nachsehen, wann seine estnische Hausärztin ihm zuletzt dieses oder jenes Medikament verschrieben hat, was sie hierfür als Honorar berechnet hat und wo und wann das digitale Rezept anschließend eingelöst worden ist. Doch die Bürgerkarte kann noch viel mehr: Mit ihr regeln die Bewohner Estlands einen Großteil ihres Lebens. Sie ist nicht nur Personalausweis und Führerschein, sondern auch Versicherungskarte, Ausweis für die Bücherei und Treue-Karte im Supermarkt. Mit ihr wählen Estinnen und Esten sogar im Internet und geben ihre Steuererklärung online ab.
    Tobias Koch arbeitet im staatlichen "E-Estonia-Showroom" in Tallinn, einer Art digitalem Schaufenster für Delegationen aus aller Welt. An diesem Morgen sitzt der 29-Jährige in einem Konferenzraum vor seinem Laptop und hat eine deutsche Besuchergruppe um sich geschart, alles IT-Experten. Eine Karte, mit der Bürger, aber auch Ärzte und Behörden Zugriff auf fast alle persönlichen Daten haben - und wo bleibt der Schutz der Daten? Eine reflexartige Frage. Tobias Koch kennt das natürlich, vor allem von deutschen Besuchern des Showrooms. Estlands Antwort darauf klingt wie der Werbeslogan für einen neuen Mittelklassewagen: Truth by Design!
    Keine Angst vor Sicherheitslücken?
    "Truth by Design. Jeder Zugriff auf Daten wird registriert. Das heißt, wenn das Finanzamt meine Informationen im Einwohnermeldeamt abfragt, dann kann ich das später in einer Logfile sehen. Und das ist etwas, das in Estland Reversed Big Brother Principle genannt wird."
    Estland gilt schon seit den 1990er Jahren als Digitalpionier, und dieser Erfolg ist bis heute vor allem mit dem Namen "Skype" verbunden. Das weltweit bekannte IT-Unternehmen wurde 2003 in Luxemburg gegründet und gehört mittlerweile zu Microsoft. Die Skype-Software allerdings haben drei estnische Tüftler in Tallinn entwickelt. Dabei gibt es durchaus Kritik an der "Online-Gläubigkeit" der Esten im Alltag. Amerikanische Forscher der Universität Michigan etwa verwiesen 2016 auf die "veraltete Sicherheitsarchitektur" bei Online-Wahlen in Estland und empfahlen das E-Voting in der heutigen Form lieber einzustellen. Im Herbst 2017 wurden dann Sicherheitslücken bei einer Vielzahl estnischer Bürgerkarten bekannt. Ein internationales Forscherteam hatte herausgefunden, dass die Karten theoretisch auch ohne dazugehörige PIN benutzt werden können. Sämtliche Bürger-Karten wurden deshalb in der Folge quasi vom Netz genommen und benötigten ein aufwändiges Update. Keine Lappalie, sagt auch Robert Krimmer. Der Österreicher ist seit 2015 Professor für E-Governance an der TU Tallinn. Auch er hat eine Bürgerkarte, nutzt sie täglich – aber auch ungeachtet der möglichen Sicherheitslücken sieht der 40-Jährige hier noch Luft nach oben:
    Digital-Kompetenz gilt als vorzeigbar
    "Was meistens funktioniert, sind die Standardfälle, aber sobald ein Ausnahmefall eintritt, dann gibt’s ein Problem. Als Beispiel: Unsere Familie hat Nachwuchs bekommen, und ich habe dann die Registrierung der Geburt im Internet vornehmen wollen."
    Was online dann aber doch nicht möglich war, weil die Krimmers nicht in Estland geheiratet haben. Beim Thema "Digitalisierung" wünscht sich Robert Krimmer generell etwas mehr Distanz und Selbstkritik in seiner baltischen Wahlheimat, äußert aber auch Verständnis dafür, dass Estland so offensiv auf die digitale Karte setzt und damit auch so lautstark an die Öffentlichkeit geht:
    "Mit dem Digitalen hat eigentlich Estland etwas geschafft, das vergleichbar ist mit der Bedeutung von Mozart für Österreich. Da kann man sagen: Bei uns geht alles digital, und die sagen dann: Boah, Ihr könnt das!"