Digitale Justiz
Der langsame Weg zu schnelleren Prozessen

Die deutsche Justiz ist unterbesetzt und chronisch überlastet, Prozesse ziehen sich in die Länge und Aktenberge stapeln sich. Abhilfe schaffen soll die Digitalisierung – sie bietet Chancen auf Steigerung der Effizienz und schnellere Rechtsprechung.

    Auf einem Monitor am Finanzgericht Berlin-Brandenburg ist der Ordner "eAkte" zum Öffnen einer elektronischen Akte zu sehen.
    Ab dem 1. Januar 2026 müssen alle neu angelegten Akten in der Justiz elektronisch geführt werden (picture alliance / dpa / Patrick Pleul)
    Rat- und Rechtsuchende müssen sich im deutschen Justizwesen oft auf lange Wartezeiten einstellen. Das betrifft sowohl zivil- als auch strafrechtliche Verfahren. Viele Bürgerinnen und Bürger haben auch Probleme damit, sich überhaupt über ihre Rechte zu informieren und wie sie sie in Anspruch nehmen können. Der Deutsche Richterbund wiederum beklagt eine Überlastung der Ermittlungsbehörden und Gerichte.
    Der Einsatz digitaler Technologien, beispielsweise elektronischer Akten, Tonaufzeichnungen von Verhandlungen, Einsatz von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz soll Entlastung bringen und Verfahren beschleunigen – ohne die Qualität der Rechtsprechung zu gefährden. Das Urteil soll letztendlich die Richterin oder der Richter fällen. Manches ist schon umgesetzt oder auf dem Weg, anderes trifft auf Bedenken oder Widerstand.

    Inhalt

    Lange Wartezeiten und verschleppte Verfahren

    Die Gerichte in Deutschland sind unterbesetzt. Heute gibt es zwar 200 Prozent mehr Anwälte als vor 35 Jahren, aber nur 10 Prozent mehr Richter. Und bis 2030 wird jeder vierte von ihnen in Pension gehen.
    Das führt zwangsläufig zu langen Wartezeiten, bis ein Prozess überhaupt eröffnet werden kann. Anfang September 2025 klagte der Deutsche Richterbund, dass sich allein in nordrhein-westfälischen Staatsanwaltschaften 267.000 unerledigte Verfahren türmten. 
    Beginnt ein Prozess endlich, kann er sich über Monate oder auch Jahre ziehen. Zwar wird heute weniger geklagt als vor 20 Jahren. Doch die einzelnen Verfahren dauern immer länger, oft wegen immer komplexerer Zusammenhänge, etwa im Zusammenspiel mit internationalem Recht. Oder beispielsweise durch Sammelklagen, bei denen Schadensersatzansprüche vieler einzelner Rechtsuchender schnell mal zu Klageschriften mit mehreren tausend Seiten führen können. 
    Dazu kommt: Bis heute sind in deutschen Gerichtssälen während der Verhandlung keine Film- und Tonaufzeichnungen erlaubt. Ein Gesetz aus dem Jahr 1964 verbietet das. Stattdessen müssen sich Richterinnen, Staatsanwälte und Verteidiger als Gedächtnisstütze größtenteils jeweils eigene Notizen zum Inhalt der Hauptverhandlung, etwa der Aussage einer Zeugin oder eines Zeugen, machen. Ausnahmen sind lediglich Prozesse von großer zeitgeschichtlicher Bedeutung.
    "Auch der Zugang zum Recht ist für Bürgerinnen und Bürger oft sehr schwierig", sagt Caroline Merz, Transformationsmanagerin bei der Digital Service GmbH des Bundes. Rechtsuchende hätten oft Schwierigkeiten, einen Überblick darüber zu bekommen, welche Rechte sie haben, oder wie sie sie geltend machen können.

    Ein Hilfeportal für Rechtsuchende

    Von der Digitalisierung erhofft man sich mehr Effizienz bei gleichzeitiger Beibehaltung hoher Standards. Einige Weichen hat die Justiz auch schon gestellt – vor allem im Bereich der Zivilprozesse. Auf dem Portal Zugang zum Recht – entwickelt vom Bundesjustizministerium und dem Digitalservice des Bundes – können sich Bürgerinnen und Bürger über ihre Rechte informieren, und darüber, wie sie sie geltend machen können. Dort findet sich beispielsweise eine Ausfüllhilfe für den Antrag auf Beratungshilfe. Denn der ist oft schwer verständlich. 
    Die Beratungshilfe ist eine staatliche Unterstützung für Menschen, die wenig Geld haben und eine Anwältin oder einen Anwalt benötigen. Wenn Sie Beratungshilfe bekommen, bezahlt der Staat die Kosten für die anwaltliche Beratung.

    Wie Gerichte entlastet werden sollen

    Einzug der elektronischen Prozessakte
    Für Anwälte, Staatsanwälte und Richter soll das Naheliegende möglich gemacht werden: Ab 2026 sollen digitale Prozessakten Standard werden. Statt wie bislang in Papierform, können Akten dann auf dem Bildschirm gelesen und bearbeitet werden, schnell und flexibel abrufbar.
    Vorerst kein digitales Verhandlungsprotokoll
    Die Ampelregierung wollte eine bundesweite Pflicht für die Tondokumentation bei Verhandlungen an Land- und Oberlandesgerichten ab 2030 einführen. Doch es gab Widerstand aus der justiziellen Praxis. Im Vermittlungsausschuss konnte der Gesetzentwurf nicht abschließend beraten werden – wie es mit der Idee weitergeht, ist offen.
    Der Einsatz von KI-Analysetools
    Einige digitale Tools werden schon eingesetzt, etwa das KI-gestützte Analysesystem Codefy. Es durchstöbert bereits digitalisierte Akten und kann die Argumente beider Seiten vorsortieren.
    Auch von Mats Becker, Richter am Oberlandesgericht Koblenz, wird es genutzt. Für ihn liegen die Vorteile auf der Hand: Alles sei in einer handlichen digitalen Tabelle zusammengefasst, darüber hinaus kreuz und quer mit der Akte verlinkt. Das spare nicht nur Zeit, es hebe auch die Qualität der Urteile:
    "Wenn ich früher eine handschriftliche Zusammenfassung gemacht habe, dann war die meistens paraphrasiert, das heißt die Parteiargumente wurden nur sinngemäß wiedergegeben. Durch den Originalbezug, den Codefy hier bietet, orientiert sich die gerichtliche Entscheidung noch besser am tatsächlichen Parteivortrag und das rechtliche Gehör der Parteien wird dann noch besser gewährleistet", so Becker.

    Das zivilgerichtliche Online-Verfahren

    Bisher geht es lediglich um Arbeitsunterstützung durch digitale Hilfsdienste, wie das Sortieren von Sachverhalten. Doch die deutschen Justizministerien planen weiter:
    Die 2024 eingerichtete Reformkommission "Zivilprozess der Zukunft" hat die Idee einer digitalen Kommunikationsplattform im Internet entwickelt, zu der alle, die an einem Fall beteiligt sind, Zugang haben, also Gericht, Kläger und Beklagte, Sachverständige, Anwaltskanzleien. Die Umsetzung wäre ein technischer Kraftakt: Die digitale Kommunikation muss schließlich zu 100 Prozent datensicher sein, weil der Justizsektor als Hochrisikobereich gilt.
    Diese Plattform könnte der erste Schritt zu einem komplett digitalisierten Gerichtsverfahren werden. Im Juli 2025 legte die Bundesregierung dazu einen Gesetzentwurf vor. In Zusammenarbeit mit neun Ländern soll ein Pilotprojekt für den Zivilprozess initiiert werden, zunächst für niedrige Streitwerte.
    Ein Onlineverfahren könnte dann so aussehen: digitale Einreichung der Klage, digitales Verfahren und Verhandlung auf der Plattform, digitale Urteilsverkündung. Das Urteil wird gefällt von realen Richterinnen und Richtern, nicht von einer Maschine.
    Es gebe aber auch Überlegungen, ob man später bestimmte Entscheidungsvorschläge durch Künstliche Intelligenz erarbeiten lassen kann, sagt Anwalt Gero Hattstein. "Das wäre vielleicht ein Anwendungsfall für Massenverfahren und vielleicht für kleine Streitwerte, wo man ehrlicherweise kaum noch wirtschaftlich Prozesse führen kann."

    Die Grenzen des Einsatzes von KI

    Die Digitalisierung der deutschen Justiz hat gerade erst begonnen. Insgesamt finde gerade ein langsamer Kulturwandel in der Justiz statt, sagt Alisha Andert vom Legal Tech Verband Deutschland: "Man konnte sich lange Zeit nicht vorstellen, dass eine digitale Justiz eine gute Justiz sein kann. Mittlerweile gibt es eine Einsicht darüber, dass der Rechtsstaat nur gewährleistet werden kann, wenn er auch digital gedacht wird. Weil das der einzige Weg ist, um der schieren Masse Herr werden zu können."
    Insbesondere der Einsatz generativer Sprachmodelle speziell für die Bedürfnisse der Justiz ist noch in der Entwicklungs- und Trainingsphase. So etwa das GJS-Forschungsprojekt der Justizministerien Bayerns und Nordrhein-Westfalens. "Wir wollen überprüfen, ob wir mit so einem Sprachmodell tatsächlich die gewünschte Unterstützungsleistung erreichen können", sagt die an dem Projekt beteiligte Richterin Isabelle Biallaß vom Oberlandesgericht Hamm. Allerdings dürfe KI keinesfalls dazu führen, dass die richterliche Entscheidung vorweggenommen oder auch nur beeinflusst wird, betont sie.
    Dass Urteile irgendwann mal von "Robo-Judges" gefällt werden, ist indes nicht nur weit entfernte Zukunftsmusik, sondern auch sehr unwahrscheinlich. Dazu müsste nämlich das Grundgesetz geändert werden. "Die Justiz ist die dritte Gewalt im Staat. Sie muss auch vom Volk legitimiert werden und ich sehe kein Szenario, wie man es hinkriegen könnte, dass künstliche Intelligenz so legitimiert wird", sagt Richterin Biallaß.

    Rade Janjusevic