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Direkte Demokratie allein reicht nicht

2010 wurde Wutbürger zum Wort des Jahres gewählt. Der Begriff steht für die Empörung in der Bevölkerung, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg entschieden werden. Zwei Autoren sehen in der stärkeren Einbindung an politischen Entscheidungen einen Weg, dieser Bürgerwut Luft zu machen.

Von Helge Buttkereit | 16.01.2012
    Stuttgart 21, die Proteste gegen die Atomkraft oder auch der Hamburger Bürgerentscheid gegen die Schulreform. Es gibt viele Gründe, von einer erstarkenden Bürgergesellschaft zu sprechen. Gleichzeitig ist eine Politikerverdrossenheit zu beobachten, die Wissenschaftler wie Journalisten von einer Krise der Demokratie sprechen lässt. Die Krise ist vielschichtig, denn ...
    Finanzmärkte müssen gebändigt, Klimakrisen begrenzt, Europa gerettet und die Vertrauenskrisen der Politik gemeistert werden. Dabei tun sich neue Möglichkeiten auf, doch die Größe, die Globalität und die Gleichzeitigkeit der Herausforderungen lassen viele verzagen.

    Das schreibt der Politikwissenschaftler Claus Leggewie in seinem neuen Buch "Mut statt Wut". In Anlehnung an sein gemeinsam mit Harald Welzer vor zwei Jahren vorgelegtes Buch "Das Ende der Welt, wie wir sie kannten" spricht er vom "Ende der Demokratie, wie wir sie kannten". Angesichts der genannten Krisen stellt er sich die Frage, welche Reaktion angemessen wäre. Dem Parteiensystem mit seinen festgefahrenen Lagern traut Leggewie nur teilweise zu, der Herausforderung Herr zu werden. Gleichwohl ruft er seine Leser auf, in die Parteien einzutreten und ihre Empörung dort in eine zukunftsweisende Politik umzuwandeln. Sein Ziel ist ein neuer Gesellschaftsvertrag, für dessen Inhalte er eine breite Mehrheit in Deutschland ausmacht.

    Der neue Gesellschaftsvertrag bedeutet für mich heute, dass jeder Einzelne in ökologischer Verantwortung freiwillig nach seinen Kräften auf die Ausdehnung des Ressourcenverbrauchs verzichtet und den Staaten die Vollmacht gibt, zur Erhaltung weltöffentlicher Kollektivgüter steuernd einzugreifen, auf der anderen Seite aber umso mehr politische Mitwirkungsmöglichkeiten bekommt.

    Leggewie legt Wert darauf, dass alle seine Vorschläge demokratisch legitimiert werden müssen. Er begegnet damit dem auch ihm gegenüber erhobenen Vorwurf, dass die seiner Meinung nach notwendigen Reformen zu einer Ökodiktatur führen könnten. Der Autor betont immer wieder, dass das Volk selbst die Initiative zurückgewinnen müsse und sich nicht mehr auf den politischen Apparat verlassen dürfe.

    Direktdemokratische Elemente können die repräsentative Demokratie stärken, wenn sie "von unten nach oben" wirken und echte politische Innovationen anstoßen.

    Mit direkter Demokratie allein ist es aber nicht getan. Das wird deutlich, wenn man neben Leggewies Neuerscheinung auch Thomas Wagners Buch "Demokratie als Mogelpackung" zur Hand nimmt. Der Soziologe und Journalist analysiert schlüssig, wie die aktuellen Forderungen nach mehr Volksabstimmungen oder einer Direktwahl des Bundespräsidenten von Rechts instrumentalisiert werden könnten. Auch wenn Wagner keine einheitliche politische Gruppe beschreibt, so zieht er doch erstaunliche Parallelen zwischen den Forderungen nach direkter Demokratie, ausgesprochen von Wirtschaftsführern wie Hans-Olaf Henkel, von Wortführern wie Hans Herbert von Arnim oder auch Peter Sloterdijk bis hin zur NPD. In der Zusammenfassung liest sich das so:

    Die basisdemokratische Rhetorik der Rechten entpuppt sich bei näherem Hinsehen nicht als fortschrittliches Projekt, das mehr Freiheit, Gleichheit und Solidarität zum Ziel hat, sondern als pure Demagogie, deren Umsetzung die Spaltung der Gesellschaft in oben und unten, arm und reich weiter verschärfen würde und plebiszitär nur legitimieren soll. Statt um mehr Gleichheit, um eine umfassende Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft geht es ihnen um die plebiszitäre Legitimation einer autokratischen Regierung, die alles daran setzt, die bestehende Eigentumsordnung und das kapitalistische System im Interesse der herrschenden Eliten zu verteidigen.

    Direkte Demokratie als Mittel autokratischer rechter Regierungen, das klingt erst einmal unglaubwürdig. Aber zum einen wird statt des Verhältniswahlrechts eine Direktwahl von Abgeordneten gefordert. Dazu soll auch der Bundespräsident mehr Rechte bekommen. Damit würden die Exekutive gestärkt und das Parlament und insbesondere die Parteien geschwächt. Durch die Dominanz der Exekutive, so schreibt Wagner, könnten Lobbyisten einen stärkeren Einfluss auf die Entscheidungen bekommen, während durch die Direktwahl der Abgeordneten durch eine - wie der Autor schreibt - atomisierte Massengesellschaft die Interessenvertreter des kleinen Mannes Macht verlieren würden. Denn Volksabstimmungen ließen sich leicht instrumentalisieren, wenn sie mit gesteuerten populistischen Kampagnen flankiert würden. Protagonisten des bürgerlichen rechten Lagers und die radikale Rechte eint laut Wagner Folgendes:

    Gewollt ist ein Durchregieren von starker Hand. Da der Weg einer unverblümten Diktatur im demokratischen Zeitalter aber als nicht mehr gangbar erscheint, gewinnt der Gedanke einer Systemveränderung qua direkter Demokratie zunehmend an Plausibilität.

    Wagner steht aufseiten der Unterprivilegierten, die sich eher nicht in Bürgerbewegungen engagieren, wie auch Leggewie schreibt. Deswegen favorisiert Wagner traditionell links-sozialdemokratische Lösungsvorschläge und setzt neben Basisbewegungen auf linke Parteien und Gewerkschaften. Dass diese jedoch nicht auf die Veränderung in Wirtschaft und Gesellschaft reagiert haben und weiterhin gescheiterten Politikkonzepten vergangener Zeiten anhängen, müsste bei der Suche nach einer Lösung bedacht werden. Inwieweit die traditionellen Politikformen bei der Suche nach einer emanzipatorischen Partizipation von unten helfen können, die Wagner als Zielbestimmung allerdings auch nur andeutet, bleibt somit offen. Leggewie zeigt auf, wie der Einzelne beispielsweise durch Konsumverhalten etwas ändern könnte. Das aber betrifft nur die, die wiederum das Geld haben, statt beim Discounter im Biomarkt einzukaufen. Er übergeht wichtige wirtschaftliche Interessenlagen, wodurch einige Vorschläge geradezu naiv wirken. Auch die "dienende Rolle der Wissenschaft", die Leggewie beschreibt, lässt deren eigenes Interesse außer Acht. Demokratie im internationalen Maßstab will er notfalls mit Gewalt durchsetzen, was ihr aber ohne Zweifel widerspricht. Daher läuft sein unzweifelhaft weit gesteckter und interessanter Demokratiebegriff leider auch immer wieder Gefahr, beliebig zu werden. So können beide Autoren keine Lösung für die umfassende Krise der Demokratie und der Gesellschaft anbieten. Sie regen aber mit ihren für das Thema eher ungewöhnlichen Argumentationssträngen den Leser zum Nach- und Weiterdenken an. Und das ist letztlich gerade in dieser Frage entscheidend.


    Claus Leggewie
    Mut statt Wut: Aufbruch in eine neue Demokratie. Verlag: Edition Körber Stiftung 202 Seiten, 14 Euro
    ISBN: 978-3-896-84084-4


    Thomas Wagner
    Demokratie als Mogelpackung: Oder: Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Auflage 1, Papyrossa Verlagsgesellschaft, 143 Seiten, 11.90 Euro
    ISBN: 978-3-894-38470-8